Something’s gone wrong – oder was ist die „eigentliche Ursache der Inflation“?

Am 21. September habe ich an einer Anhörung des Finanzausschusses des Bundestages teilgenommen, bei dem es um die Frage ging, wer die Verantwortung für die hohen derzeit gemessene Preissteigerungsraten zu übernehmen hat. Der Bundestag selbst resümiert diese Anhörung unter dem Titel „Verantwortung der EZB für Inflation umstritten“ (hier zu finden). Das ist eine missverständliche Ansprache. Unter den gegenwärtigen institutionellen Gegebenheiten ist es vollkommen unstrittig, dass die EZB die politische Verantwortung zu übernehmen hat, aber das bedeutet absolut nicht, dass die EZB die Preissteigerungen verursacht hat und es bedeutet auch nicht, dass sie diese mit Zinserhöhungen bekämpfen muss.  

Das sei aber eine spitzfindige Unterscheidung von mir, werden manche Beobachter sagen, weil die Verantwortung nun einmal bedeute, dass man gegen die Verletzung des eigenen Ziels vorgehe und genau das tue die EZB derzeit mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen. Folglich könne man sich diese Unterscheidung auch sparen. Wenn das so wäre, würde es jedoch nur bedeuten, dass die einseitige Zuweisung der Verantwortung für Preisstabilität an die Notenbank, die in vielen westlichen Ländern seit einigen Jahrzehnten für richtig gehalten wird, fundamental falsch ist. 

Ursachentherapie oder Kurieren an Symptomen?

Das berührt eine ganz grundsätzliche Frage, nämlich die nach der Bedeutung von Ursachentherapie in komplexen Systemen wie einer Volkswirtschaft. In der Medizin weiß selbst der Laie, dass das bloße Kurieren an Symptomen unsinnig und gefährlich sein kann, wenn man bei den Ursachen einer Krankheit im Dunkeln tappt. In der Volkswirtschaftslehre ist diese recht triviale Erkenntnis vollständig verloren gegangen, weil sie sich zu einem Fach entwickelt hat, das mit den konkreten zeitlichen Abläufen in dem komplexen und sich dynamisch entwickelnden System Wirtschaft überhaupt nicht mehr umgehen kann. 

Wer alle Phänomene der Welt aus der Sicht von Marktgleichgewichten betrachtet, braucht keine zeitlichen Abläufe und damit auch keine Kausalität, er weiß ja, dass zu hohe Preise zu viel an Geld bedeuten, ganz gleich, auf welche Weise und aus welchen Gründen die Preise an einigen Märkten gestiegen sind. Mit der schlichten Aussage, Inflation sei immer und überall ein monetäres Phänomen, hat der oberste Monetarist Milton Friedman dieses Denken vor vielen Jahrzehnten beschrieben. Ohne konkret zu sagen, was Inflation ist und was sie von temporären Preissteigerungen unterscheidet, ist diese Aussage ohnehin vollkommen sinnfrei, aber sie ist gefährlich, weil sie einfache Lösungen suggeriert, die es in Wirklichkeit nicht gibt. 

Die konstante Geldmenge als Ideal?

Wie absurd das monetaristische Denken ist, kann man leicht anhand des nun immer wieder aufkommenden Arguments zeigen, das – so auch bei der Anhörung des Bundestages – darauf hinausläuft, zu behaupten, dass es nur wegen der massiven „Anhäufung von Geld“ durch die Zentralbanken in den vergangenen Jahren möglich gewesen sei, dass die Preise so stark steigen wie derzeit. Nur weil die Geldmenge schon sehr groß war, so die steile These, konnten die Energiepreissteigerungen zu einer allgemeinen Preiserhöhung führen. 

Hätten die Notenbanken das Geld wirklich knapp gehalten (oder wäre Geldmenge gar konstant geblieben), hätten andere Preise fallen müssen, wenn die Energiepreise steigen (so vor einigen Wochen das ZDF, der Spiegel, und die Professoren Günter Schnabl und Fritz Söllner in der Anhörung). Folglich sei die Geldpolitik nicht die unmittelbare Ursache, aber doch die „eigentliche Ursache“. 

Wohlgemerkt, auch all diejenigen, die der restriktiven EZB-Politik voll zustimmen (wie etwa Peter Bofinger und der Präsident der Deutschen Bundesbank, Joachim Nagel), ohne dieses Argument explizit zu benutzen, müssen sich implizit auf dieses Argument stützen, weil ihre Position ansonsten von voreherein unsinnig ist. Temporäre Preissteigerungsraten, die nichts mit der Geldmenge zu tun haben, mit geldpolitischer Restriktion zu bekämpfen, ist, zumal in einer wirtschaftlichen Schwächephase, gemeingefährlich. Es ist das oben genannte gefährliche, weil unreflektierte Kurieren am bloßen Symptom (was in diesem Artikel der Financial Times und hier gezeigt wird). 

Die monetaristische Konfusion

Sehr plastisch kommt die Konfusion über die Rolle der Geldmenge und der Geldpolitik auch in einem Statement zum Ausdruck, das der neue englische Finanzminister Kwasi Kwarteng gegenüber dem Guardian abgegeben hat. Er sagt „Something’s gone wrong“, wenn eine Notenbank ein Preisziel von zwei Prozent hat und sich plötzlich einer Preissteigerungsrate im zweistelligen Bereich gegenübersieht. Kwarteng glaubt offenbar, es müsse mit der Organisation der Bank of England zu tun haben, wenn man das gesetzte Ziel so sehr verfehle.

Dahinter steht wiederum der Glaube, das für die Inflation relevante „Geld“ könne so gesteuert werden, dass eine Inflation, schließt man handwerkliche Fehler der Notenbank aus, unmöglich ist. Das ist Unsinn. Nothing’s gone wrong, außer dass es eine unhaltbare Inflationstheorie gibt, die man Monetarismus nennt und die anscheinend nicht aus einigen akademischen und politischen Köpfen herauszukriegen ist, obwohl sie niemals eine praktische Rolle für die Geldpolitik gespielt hat[1]

Hinter dem Monetarismus steht nichts als die sogenannte Quantitätsgleichung. M x V = P x Y, wie die Gleichung häufig geschrieben wird (mit M als Geld, V als der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes, P dem Preisniveau und Y als dem realen Volkseinkommen), ist jedoch keine Theorie, sondern eine Identität. V ist nämlich die Variable, die definitionsgemäß für den Ausgleich der Größen sorgt, weil es immer ein (unbekanntes) Vielfaches der Geldmenge gibt, das die rechte Seite, das nominale Bruttoinlandsprodukt (bzw. eine andere Einkommensgröße), „finanziert“. Die einzige Aussage, die man dieser Gleichung entnehmen kann, ist „Alle Transaktionen in einer Geldwirtschaft werden auf die eine oder anderer Art finanziert“.

Offensichtlich ist die linke Seite ungeheuer flexibel, weil ja immer ein Vielfaches einer von der Notenbank erzeugten Geldmenge zur Finanzierung herangezogen wird. Wie effizient die Wirtschaft mit dem Geld umgeht und damit, wie viele Male eine Geldmenge umgeschlagen wird, darauf hat die Geldpolitik keinen Einfluss und sie kann es im Vorhinein auch nicht wissen. Die Milchmädchenrechnungen mit der Zuwachsrate des (welchen) Geldes im Vergleich zur Zuwachsrate der realen Wirtschaft, wie sie auch im Bundestag vorgelesen worden sind, entbehren daher jeder Grundlage.

Man muss unglaublich absurde Annahmen machen (was Wirtschaftswissenschaftlern allerdings häufig leichtfällt, weil sie das „richtige Ergebnis“ immer schon im Vorhinein kennen), um zu der Aussage zu kommen, dass die strikte Kontrolle einer bestimmten Geldmenge verhindern könnte, dass die Preise in einer Volkswirtschaft weit über das Inflationsziel hinaus steigen.  

Aber auch die Aussage, Inflation wird immer finanziert, ist leer, weil man auf der rechten Seite, das, was finanziert wird, also die Inflationsrate einerseits und das reale Einkommen andererseits, gar nicht trennen kann. Die Geldpolitik kann nicht sagen, ob eine bestimmte Aktion die Preise trifft oder die Mengen. Erhöht die Geldpolitik die Zinsen, geht es fast immer unmittelbar zulasten der Investitionen und damit zulasten der produzierten Menge. Ob und wie die Preise darauf wiederum reagieren, hängt von vielen Faktoren ab, die die Geldpolitik nicht beeinflussen kann. 

Was kann und soll die Geldpolitik tun?

Tun kann sie wenig, ist die einfache Antwort. Weil die Geldpolitik nicht im Entferntesten einen direkten Draht zur Inflation hat, ist sie auf sehr indirekte Effekte angewiesen, die fast immer sehr große und potenziell negative Nebenwirkungen haben. Deswegen ist die Überlegung, der Geldpolitik, zumal der einer politisch unabhängigen Notenbank, die Inflation als einziges Zeil vorzuschreiben, von vorneherein verfehlt. Diese Unabhängigkeit der Notenbanken war eine Empfehlung des Monetarismus, weil der glaubte, man könne rein technokratisch über die Steuerung einer geeigneten Geldmenge die Inflation jederzeit kontrollieren. Mit dem intellektuellen Ende des Monetarismus hätte auch diese Form von Unabhängigkeit beerdigt werden müssen[2].

Gibt man, wie in den USA, der Notenbank explizit die Aufgabe, hohe Beschäftigung und stabile Preise zugleich zu sichern, befindet man sich in einer ganz anderen Welt. Die Geldpolitik ist dann, formal unabhängig oder nicht, integraler Bestandteil der gesamten Wirtschaftspolitik, weil keine demokratisch gewählte Regierung darauf verzichten kann, das Niveau und die Entwicklung der Beschäftigung resp. Arbeitslosigkeit als eines ihrer ureigensten Ziele anzusehen und dementsprechend in die gesamte Wirtschaftspolitik einzubeziehen. Die Geldpolitik muss dann auch, was überall selbstverständlich sein sollte, die gesamtwirtschaftliche Entwicklung genau verfolgen und damit die Nebenwirkungen ihrer Politik immer im Auge haben. Sie kann sich nicht auf den in Deutschland immer wieder vertretenen einfachen, aber vollkommen abwegigen Standpunkt zurückziehen, die Beschäftigung müssten andere sichern, während sie selbst nur für Preisstabilität verantwortlich ist. 

Noch einmal viel besser ist es, wenn eine Regierung klar erkennt, dass die Inflation auf mittlere Frist ganz entscheidend von der Lohnentwicklung bestimmt wird. Dann muss sie dafür sorgen, dass es zu einer Abstimmung zwischen der von ihr zu vertretenden Geldpolitik und der Lohnpolitik kommt. In der Vergangenheit gab es solche Modelle mit großem Erfolg in Österreich im Rahmen der „Sozialpartnerschaft“, aber auch Deutschland im Rahmen der konzertierten Aktionen zwischen Regierung und Tarifpartnern. China praktiziert etwas Ähnliches, wenn auch von einer starken Regierung vorgegeben. Der entscheidende Vorteil liegt darin, dass nur mit einem solchen Modell Phasen guter Konjunktur und hoher Beschäftigung verlängert werden können, ohne dass es allzu schnell zu einer von den Löhnen getriebenen Inflationsbeschleunigung kommt. 

In jedem Fall ist strikte Ursachentherapie angemessen. Preissteigerungen, die eindeutig nach klar identifizierbaren Schocks auftreten und damit temporär sind, muss die Geldpolitik hinnehmen, weil sie ihr eigentliches Ziel, die mittelfristige Inflationsentwicklung gar nicht berühren. Alles, was zur Abfederung solcher Schocks zu tun ist, muss von Seiten des Staates kommen. Die Geldpolitik muss sich auch bei kurzfristigem Überschreiten ihres Preiszieles bemühen, die negativen Beschäftigungswirkungen dieser Schocks in Grenzen zu halten, also auf keinen Fall restriktiv mit Zinserhöhungen vorgehen, weil sie damit die Inflationsrate nicht drückt, sondern den ohnehin vorhandenen restriktiven Effekten dieser Schocks noch weitere negative Schocks hinzufügt. 

Erst wenn die Versuche der Koordination zwischen Wirtschaftspolitik und Lohnpolitik scheitern, sich also zeigen sollte, dass die Löhne trotz Beschäftigungsgefahr so stark steigen, dass eine Preis-Lohn-Preis-Spirale entstehen könnte, ist die Geldpolitik in Sachen Restriktion auf den Plan gerufen. Dann und nur dann braucht man eine Institution, die in der Lage ist, relativ unabhängig von politischem Kalkül den Tarifpartnern zu zeigen, dass deren Versuch, sich gegenseitig die für die Gesellschaft unabänderlichen Lasten der Schocks zuzuschieben, nicht von Dauer sein kann. 

Umwege und Abwege

Weil die Zusammenhänge so wie oben beschrieben sind, gibt es empirisch keinen Zusammenhang zwischen Inflation und Geldmenge. Wie vor einiger Zeit zusammen mit Friederike Spiecker  gezeigt, haben mit der Schweiz und Japan die beiden Länder, die mit Abstand die größten Verlängerungen ihrer Bilanzen aufweisen (was üblicherweise als Geldmengenausweitung angesehen wird), zugleich die geringsten Preissteigerungen. Mein einminütiger Hinweis bei der Anhörung darauf (ich hatte insgesamt nur genau fünf Minuten, weil ich von der kleinsten Fraktion eingeladen war), wurde von wütenden Protesten der AfD und von Herrn Söllner beantwortet. 

Letzterer verstieg sich zu der Antwort (er hatte insgesamt viel mehr als fünf Minuten, weil von einer größeren Fraktion eingeladen), in der Schweiz sei das unproblematisch, weil die Franken im Ausland gehalten würden, wo sie nicht kaufkraftwirksam werden könnten. Das ist einfach Unsinn, weil Franken nun mal nicht im Ausland, sondern nahezu ausschließlich in der Schweiz gehalten werden. 

Selbst das Argument, es seien überwiegend Ausländer, die in der Schweiz Franken halten, ist falsch. Nur etwas über 200 Milliarden der etwa 1200 Milliarden der Schweizer Frankenanlagen sind Ausländern in der ein oder anderen Form zuzurechnen (Forderungen gegen Schweizer Banken einschließlich der Forderungen ausländischer Banken gegenüber der Schweizer Notenbank sind darin enthalten). Ob und wie viel davon inflationswirksam werden könnte, ist eine ganz andere und wiederum kaum zu beantwortende Frage. Prinzipiell hat, wie selbst Monetaristen zugestehen würden, die Art und Weise wie Zentralbankgeld entsteht, also beispielsweise durch Interventionen am Devisenmarkt wie in der Schweiz oder durch Interventionen am heimischen Kapitalmarkt wie in Euroland, mit der vom Monetarismus unterstellten Wirkung der Geldmenge auf die Inflation nichts zu tun

Schließlich ist es vollkommen unsinnig, in der gegenwärtigen rezessiven Lage in Europa, so zu tun (wie Christian Lindner es immer wieder tut), als würde staatliche Schuldenaufnahme inflationär wirken. Ich habe es schon hunderte Male (wenngleich ohne jeden Erfolg bei der herrschenden Lehre in Deutschland) gesagt, dass die staatlichen Schulden nur im Zusammenhang mit den übrigen Finanzierungssalden angemessen beurteilt werden können. Da die privaten Haushalte derzeit hohe Ersparnisse bilden, die Unternehmen in einer Rezession ebenfalls ihre Einnahmenüberschüsse ausweiten werden, und der deutsche Leistungsbilanzüberschuss (die Nettoverschuldung des Auslandes) wegen der Verschlechterung der terms of trade (aufgrund der Importpreissteigerungen) vorübergehend deutlich sinkt[3], hat der Finanzminister nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Aufgabe, die staatliche Verschuldung deutlich zu erhöhen, um eine tiefe Rezession zu verhindern. 

Bei Abwesenheit jedes gesamtwirtschaftlichen Denkens beim Finanzminister und seinen Beratern ist es aber kein Wunder, dass er immer wieder in die gleichen Fallen tappt. Was in Deutschland jedoch praktisch folgenlos bleibt, weil das gesamte Land inklusive 95 Prozent seiner Medien es sich in der gleichen kleinen geistigen Dunkelkammer gemütlich gemacht haben. 


[1] Die neue konservative englische Regierung unter Liz Truss tut sich überhaupt durch einen wirtschaftpolitischen Rigorismus hervor, der selbst in der eigenen Partei zu Kopfschütteln und energischem Widerstand führt. Der Widerstand ist sogar so groß, dass sie ihr Vorzeigeprojekt der Senkung des Spitzensteuersatzes nach nur wenigen Tagen wieder kassieren musste. Wenn es um diese Art von geistiger Unabhängigkeit beim Brexit ging, dann muss Europa trotz all seiner unbestreitbaren gravierenden Mängel froh sein, dass eine solche Regierung nicht mehr in Brüssel am Tisch sitzt. 

[2] Außer in Deutschland natürlich, wo es die Unabhängigkeit schon lange vor dem Monetarismus gab, weil man in diesem Land noch nie eine nachvollziehbare Vorstellung von makroökonomischen Abläufen hatte, ja nicht einmal zur Kenntnis genommen hat, dass es Makroökonomie gibt.

[3] Die Verschlechterung in der deutschen Leistungsbilanz ist genauso temporär wie die Preissteigerungen selbst. Da man erwarten kann, dass sich im nächsten oder spätestens im übernächsten Jahr die terms of trade wieder normalisieren, wird auch der Überschuss in alter Höhe zurückkehren. Übrigens zeigt die schnelle und deutliche Verringerung des deutschen Außenhandelsüberschusses im Zuge der Importpreissteigerungen wieder einmal, dass die These von Hans-Werner Sinn über die Bedeutung der Kapitalströme für die Leistungsbilanz kompletter Unsinn war. Nullsummenphänomene wie Leistungsbilanzsalden werden nur verursacht von Nullsummenphänomenen wie den Änderungen der terms of trade oder der realen Wechselkurse – wie hier vorhergesagt und erklärt.