Hat die Schuldenbremse ihre Flexibilität bewiesen?

von

Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker

Es gibt Antworten von Politikern auf Journalistenfragen, die werden stereotyp hunderte Male wiederholt, und obwohl jede der Antworten vollkommen bedeutungslos ist, wird niemals nachgefragt. So ist es mit der Schuldenbremse für Deutschland und Europa und der Frage, ob sie nicht nach dem Corona-Schock revidiert werden müsse. Alle Verteidiger der Schuldenbremse bzw. der europäischen Schuldenregeln (von Olaf Scholz bis Christian Lindner) sagen immer wieder, nein, diese Regeln müssten nicht revidiert werden, weil sie ihre Flexibilität in der Corona-Krise ja gerade bewiesen hätten. Im Sondierungspapier der potenziellen Ampel-Koalitionäre heißt es unter Punkt 10 „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“ wörtlich: „Der Stabilitäts- und Wachstumspakt hat seine Flexibilität bewiesen.“

Das aber ist exakt die falsche Antwort auf das, was hinter der Frage der Journalisten stand – nur leider merkt es keiner der Fragenden. Es stand niemals in Zweifel, dass eine Regel, die explizit Ausstiegsklauseln für Notfälle vorsieht, in einem Notfall tatsächlich ausgesetzt werden kann. Das ist in keiner Weise bemerkenswert. Die Tatsache, dass die Ausstiegsklausel genutzt werden konnte, hat gerade nichts mit Flexibilität zu tun. Flexibel ist eine Regel genau dann, wenn ihre Geltung auch in anderen als die in der Regel explizit vorgesehenen Notfällen ohne große Verrenkungen „angepasst“ werden kann. 

Eigentlich interessiert die Journalisten, ob nach der Nutzung der Ausstiegsklausel während der Krise die Regel jetzt anschließend flexibel genug ist, um den Volkswirtschaften so viel Raum zum Atmen zu lassen, dass ein Aufschwung zustande kommen kann. Mit anderen Worten, man fragt sich, wie die Länder, deren Schuldenstände nun noch viel weiter von den gesetzlichen Normen entfernt sind als zuvor, diese Schuldenstände reduzieren können, ohne dass sofort eine neue Rezession mit erneut steigender Arbeitslosigkeit zu erwarten ist. Diese wichtige Frage wird mit dem Hinweis auf die gesetzlich vorgesehene Ausstiegsklausel nicht beantwortet, sondern einfach ignoriert. 

Eine ehrliche Antwort

Die ehrliche Antwort derer, die nichts an den bestehenden Schuldenregeln ändern wollen, müsste das Eingeständnis sein, man werde von nun an mit jahrelanger Austerität von Seiten der öffentlichen Hand leben müssen. Denn um die Neuverschuldung des deutschen Staates auf die im Grundgesetz vorgesehene Größe von nahe null zu bringen oder um zu dem im Stabilitätspakt der EU vorgesehenen Wert des Schuldenstands von 60 Prozent des BIP zurückzukehren, müssen der deutsche Staatshaushalt wie die staatlichen Haushalte der anderen EU-Länder per Saldo sparen, also systematisch jedes Jahr weniger ausgeben als einnehmen.

Wer in dieser Situation zusätzliche private und öffentliche Investitionen beleben will, wie das die neue Dreier-Koalition in Deutschland plant, müsste staatliche Ausgaben kürzen, die investitionsunschädlich sind. Die aber gibt es nicht – nicht einmal bei den Sozialausgaben, deren Kürzung eben nicht allein aus normativen Gründen unklug wäre. Denn jede staatliche Ausgabe kommt direkt oder über einige Umwege dem Unternehmenssektor zugute, und jede Kürzung solcher Ausgaben schlägt sich unweigerlich in sinkenden Unternehmensgewinnen nieder (wie hier gezeigt). 

Bei einer Finanzierung zusätzlicher öffentlicher Investitionen durch höhere Steuern stellt sich nahezu das gleiche Problem. Wann immer die höheren Steuern zu einer Kürzung der Ausgaben (für Investitionen oder Konsum) bei den Besteuerten führen, ist ihre erhoffte positive Wirkung vernachlässigbar. Nur in dem Fall, wo von den steigenden Steuern überwiegend solche Haushalte betroffen sind, deren Sparquote sehr hoch ist und die folglich die Steuerbelastung durch eine sinkende Sparquote ausgleichen, ist der Gesamteffekt der höheren Steuern und der höheren staatlichen Ausgaben eindeutig positiv. Das spricht für (steigende) Vermögenssteuern bei sehr reichen Haushalten. Doch die quantitativen Effekte dürften gering sein; wichtiger als die Anregung der Wirtschaft ist bei einer solchen Maßnahme die Bekämpfung der zunehmenden Ungleichheit. 

Der Staat agiert nicht im luftleeren Raum

Um beurteilen zu können, welche Wirkungen staatliches Sparen im Zeitablauf hat, muss man sich eine Bild darüber machen, ob von den übrigen Sektoren der Volkswirtschaft zu erwarten ist, dass sie das Gegenteil tun, sich also (zusätzlich) verschulden, um die nachfragemindernde Wirkung des staatlichen Sparens auszugleichen. Die Abbildung 1 zeigt, dass weder von den privaten Haushalten noch von den deutschen Unternehmen in dieser Hinsicht ein Beitrag zu erhoffen ist. 

Beide Sektoren sind Nettosparer und liegen so weit über der Null-Linie, dass für das nächste oder für das übernächste Jahr vielleicht eine Rückkehr zu einem niedrigeren Spar-Niveau zu erwarten ist, nicht aber ein Abtauchen in die Netto-Neuverschuldung. Es gibt auch keine weiteren Impulse (wie etwa eine Zinssenkung), mit denen man hohes Netto-Sparen unattraktiver machen könnte. Insbesondere die Unternehmen wird man mit Kinkerlitzchen wie Bürokratieabbau und einer Beschleunigung der Genehmigungsverfahren für öffentliche Vorhaben nicht von ihrer seit zwanzig Jahren verfolgten Linie, als Netto-Sparer zu agieren, abbringen können. Die privaten Haushalte bringt man mit keinem Mittel der Welt dazu, ihre Sparposition zu räumen, zumal man den Bürgern erzählt, sie müssten zur Absicherung ihrer Rente noch mehr sparen. Im Sondierungspapier heißt es beispielsweise: „Eine Förderung soll Anreize für untere Einkommensgruppen bieten, diese Produkte [gemeint sind private Anlageprodukte für Ersparnisse] in Anspruch zu nehmen.“

Abbildung 1

Die einzige Möglichkeit, die der deutsche Staat hat, um Schulden zurückzuzahlen, ist eine noch größere Verschuldung des Auslandes. Würden die deutschen Überschüsse in der Leistungsbilanz noch einmal massiv steigen, könnte er, wie schon in den vergangenen zehn Jahren, diesen Nachfrageimpuls für die deutsche Konjunktur nutzen, um sich selbst mit seinen Ausgaben zurückzuhalten. Doch dafür gibt es keine sachliche Basis. Eine reale Abwertung Deutschlands innerhalb der EWU ist nicht noch einmal zu bewerkstelligen ist. Zudem würde damit die Chance der anderen EWU-Länder, ihre öffentlichen Haushalte zu konsolidieren, unmittelbar gegen null sinken. Und die aus dem Sondierungspapier klingende Hoffnung, 

man könne nicht nur Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit stärken, sondern auch die des Rests Europas gegenüber dem Rest der Welt ist geradezu absurd. Die USA vorneweg würden einen solchen Versuch (zu Recht!) mit protektionistischen Maßnahmen oder einer Schwächung des US-Dollars im Keim ersticken. 

Die Schuldenstände sind hoch, aber unproblematisch

Es gibt folglich keine andere rationale Möglichkeit, als die nach Corona deutlich erhöhten Schuldenstände der Staaten (Abbildungen 2 und 3) hinzunehmen und abzuhaken (vgl. dazu auch diesen Text ). Jeder Versuch, in den nächsten beiden Jahren eine Schuldenreduktion zu erreichen, muss scheitern (weswegen die leichte Biegung der Kurven nach unten, die die EU-Kommission in ihren Schuldenstandsprognosen  für 2022, wie in den Abbildungen zu sehen, annimmt, absolut nichts mit der Wirklichkeit zu tun haben wird). In den vergangenen zehn Jahren ist es nur in den Ländern – wie Deutschland und den Niederlanden – gelungen, die staatliche Verschuldung zu drücken, die hohe und steigende Leistungsbilanzüberschüsse aufwiesen. 

Abbildung 2

Abbildung 3

Wer soll das bezahlen…wer hat das bestellt…?

Der Staat hat in der Corona-Krise in fast allen großen Industrieländern sein Monopol über das Geld genutzt, sich selbst zu niedrigen Zinsen hoch verschuldet, um damit einen noch viel tieferen Absturz der Wirtschaft zu verhindern. Das kann er nicht immer und in nahezu beliebiger Weise tun. Er muss es aber immer dann tun können, wenn es zu einer schweren Krise kommt, zumal einer solchen, die ganz konkret vom Staat in Reaktion auf eine gesundheitliche Gefährdung großer Teile der Bevölkerung ausgelöst wurde. Die Reaktion auf eine solche Notsituation muss vollkommen unabhängig von der aktuellen Höhe der Verschuldung möglich sein. Dass das möglich ist, zeigt der Fall Japan: Japan hat im Jahr 2020 seinen Schuldenstand gegenüber 2019 von 235 Prozent des Bruttoinlandsprodukts um 21 Prozentpunkte auf 256 Prozent erhöht (das entspricht einer Steigerung um 10 Prozent) und wird im laufenden Jahr noch einmal rund 3 Prozentpunkte mehr anhäufen. Seiner Bonität an den Finanzmärkten hat das ausweislich des Zinsniveaus und der Wechselkursentwicklung offensichtlich nicht geschadet.

Die staatliche Reaktion auf die Notsituation in Form einer kräftigen Erhöhung der Schulden rechtfertigt es jetzt auf keinen Fall, bestimmte Gruppen der Gesellschaft weit mehr als andere mit dem Versuch zu belasten, die Schulden wieder zurückzuführen. Genau das aber passiert, wenn man Steuererhöhungen ausschließt und die staatlichen Haushalte (in vielfach „bewährter Manier“) „durchforstet“, um solche öffentlichen Ausgaben zu streichen, die im Lichte bestimmter politischer Vorstellungen obsolet sind. Herauskommen wird, wie in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, eine Belastung der Gruppen der Gesellschaft, die sich kaum wehren können, weil sie arm und unorganisiert sind.

Auch das seit Jahrzehnten immer wieder zu hörende Argument, man könne Subventionen abbauen, ist nichts anderes als eine Nebelkerze, die den Anschein erwecken soll, auch die Unternehmen würden von den staatlichen Kürzungen getroffen. Subventionen sichern immer in irgendeiner Weise Arbeitsplätze und mit dem Hinweis darauf ist es in der Vergangenheit regelmäßig gelungen, jede politische Initiative zur Subventionskürzung im Keim zu ersticken. Mit anderen Worten: Die Ankündigung von Subventionskürzungen ist unglaubwürdig. Der Verdacht liegt nahe, dass sie nur gemacht wird, um drohende Kürzungen des Sozialhaushalts nicht so einseitig aussehen zu lassen. Denn ohne derlei Kürzungen handelt es sich bei dem Vorhaben, die öffentliche Infrastruktur mit 50 Milliarden Euro jährlich unter Einhaltung der Schuldenbremse bei gleichzeitiger Nicht-Erhöhung der Steuern auf Vordermann zu bringen, um die Quadratur des Kreises.

Wer die Gesellschaft nicht weiter spalten will, muss jeden Versuch unterlassen, über die Ausgabenseite der staatlichen Haushalte die Spielräume für eine Rückführung der öffentlichen Verschuldung zu gewinnen. Lassen sich die Grünen und die SPD auf das Spiel der FDP mit dem Schicksal der in der einen oder anderen Weise vom Staat finanziell Abhängigen ein, ist ihr Anspruch, für eine Verringerung der eklatanten Ungleichheit sorgen zu wollen, von Anfang an hinfällig. Wer die Schuldenbremse und den europäischen Stabilitätspakt nicht reformiert, versündigt sich an den zukünftigen Generationen. Denn er hinterlässt eine Gesellschaft, der nicht nur die nötige Infrastruktur fehlt, sondern, was noch weit wichtiger ist, eine Gesellschaft, der jeder soziale Zusammenhalt fehlt.