Von Heiner Flassbeck und Patrick Kaczmarczyk
In der vergangenen Woche jährte sich zum zwanzigsten Mal die große argentinische Währungskrise von 2001, die das Land an den Rand der Unregierbarkeit führte und enorme soziale und politische Verwerfungen mit sich brachte. Präsident Fernando de la Rúa trat schließlich am 21. Dezember 2001 zurück. „Passend“ zu diesem Jubiläum wurde vor kurzem bekannt, dass Argentinien womöglich nicht in der Lage sein wird, im März 2022 eine Rückzahlung von USD 2.8 Milliarden an den Internationalen Währungsfonds (IWF) zu leisten, zu dem es sich im Rahmen des 57-Milliarden Bailouts 2018 verpflichtet hatte. Nicht-Rückzahlung an den IWF gilt international als die schwerste aller finanziellen Sünden und als wirkliches Armageddon.
Das Programm, das jetzt zur Disposition steht, wurde von der konservativen Regierung Mauricio Macri beschlossen, der mit einem nach normalen Maßstäben vollkommen irrsinnigen Wirtschaftsprogramm Argentinien aus der Krise führen wollte, wohl aber auch darauf abzielte, der progressiveren Nachfolgerregierung die Hände zu binden. Vorausgegangen waren dem Bailout mehrere Monate des Abverkaufs der argentinischen Währung und argentinischer Anleihen, was einen enormen Druck auf den Peso ausübte und damit die Auslandsverschuldung stark ansteigen ließ. Mit der erneuten Zuspitzung der Krise gegen Ende des Jahres 2021 schließt sich der zwanzigjährige Kreis.
Was war vor 2001 geschehen?
Wie es zu der großen Krise von 2001 kam, ist von der herrschenden Lehre in den Wirtschaftswissenschaften immer noch nicht wirklich aufgeklärt. Man hat offensichtlich bis heute nicht verstanden, dass der Ankeransatz, den Argentinien genauso wie Brasilien Anfang der 1990er Jahre gewählt hatte, um endlich und ein für alle Mal die Inflation zu besiegen, zum Scheitern verurteilt gewesen war. Man erinnert sich wohl auch nicht gerne daran, dass damals von der großen Mehrheit der Ökonomen und vom IWF für die in vielen Schwellenländern immer kritischer werdende Währungsfrage die sogenannten „Ecklösungen“ präferiert wurden. Man empfahl den Ländern, die Kapitalmärkte auf jeden Fall offen zu halten und entweder einen Ankeransatz zu wählen, also eine feste Bindung an eine der großen Währungen oder aber die Währung auf dem Markt frei floaten zu lassen.
Wie hier ausführlich gezeigt, waren beide Ecklösungen jedoch für die Wirklichkeit vollkommen ungeeignet, was eben auch bedeutet, dass die offiziellen Empfehlungen des IWF und seiner wichtigsten Anteilseigner unmittelbar für das Entstehen der Krisen verantwortlich waren. Der IWF hatte schlicht übersehen, dass jeder Ankeransatz, selbst wenn er in Sachen Inflationsstabilisierung als erfolgreich bezeichnet werden konnte, mit einer Überbewertung der Währung des ankernden Landes enden musste, die nur durch die Aufgabe des Ankeransatzes zu überwinden war. Flexible Wechselkurse, das hätte schon damals jedes Kind wissen können, sind von vorneherein nicht geeignet, Kapitalverkehrsfreiheit und freien Handel zu garantieren. Letztlich ist der Westen mit seinen Finanzinstitutionen und einer ökonomischen Irrlehre in Brasilien und Argentinien gescheitert, hat aber natürlich jede Schuld weit von sich gewiesen.
Wo Leichen liegen, sind die Geier nicht weit
Nach seinem Bankrott Ende 2001 und einer gewaltigen Abwertung des argentinischen Peso konnte (und wollte) Argentinien seinen internationalen Zahlungsverpflichtungen aus seinen Anleiheemissionen von circa 80 Milliarden US-Dollar nicht mehr nachkommen. Es kam in zwei Verhandlungsrunden 2005 und 2010 zu einer Umstrukturierung der Schulden, einem Haircut von knapp 70 Prozent auf argentinische Anleihen und dem Versprechen der argentinischen Regierung, höhere Rückzahlungen zu tätigen, sobald sich das Land erholt hat. 93 Prozent der Gläubiger akzeptierten den Deal. Eine Tochter von Elliott Management, NML Capital, und einige andere Fonds, die man gemeinhin Geierfonds (vulture funds) nennt, waren dazu jedoch nicht bereit. NML Capital konnte kurz vor Argentiniens Pleite argentinische Anleihen am Markt zu einem Spottpreis von 177 Millionen US-Dollar erwerben und erhob später den Anspruch auf die vollständige Rückzahlung des Nominalwertes von 4,65 Milliarden US-Dollar.
Die argentinische Regierung wurde von den Vulture Funds in New York verklagt. Im „Sovereign Debt Trial of the Century“ urteilte der Richter Thomas Grieser 2014, dass das Land nichts mehr an die anderen Gläubiger auszahlen durfte – also die 93 Prozent, die der Umstrukturierung der Schulden zugestimmt hatten –, solange die Vulture Funds nicht vollständig ausgezahlt würden.
Da die argentinische Regierung unter Kirchner das nicht akzeptierte, kam es 2014 zu einem neuerlichen, wenn auch zweifelhaften „Default“ Argentiniens. Erst 2016 machte die Regierung von Macri die Lösung des Streits zu einem Kernpunkt ihrer wirtschaftlichen Reformen und Argentinien nahm einen Kredit von 5 Milliarden US-Dollar an der Wall Street auf. Mit den Vulture Funds einigte man sich im Frühjahr 2016 auf die Rückzahlung von 2,28 Milliarden US-Dollar, plus Zahlung der Kosten für die Rechtsverfahren. Für die Fonds bedeutete das eine Rendite von fast 1.200 Prozent.
Post-2010: ein Jahrzehnt der Irrfahrten
Man könnte meinen, die enormen wirtschaftlichen Schäden und die sozialen Verwerfungen dieser währungspolitischen Achterbahnfahrt und die skandalösen Renditen, die sich die Währungsspekulanten in ihre Tasche steckten, hätten zu einem Umdenken in der Politik geführt. Doch die letzten Jahre zeigen, dass man nichts gelernt hat. Weder wurde eine Reform des Währungssystems, die den Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen Ländern auf solide Füße stellen würde, ins Auge gefasst, noch hat man verstanden, dass ohne eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik monetäre Restriktion extrem teuer ist.
Die Inflationsraten in Argentinien waren auch im letzten Jahrzehnt durchweg hoch und die Zentralbank versuchte verzweifelt, mit hohen Zinsen dagegen anzugehen. 2019 erhielt man fast 50 Prozent Zinsen, wenn man sein Geld auf dem Konto liegen ließ. Umgekehrt musste man mit knapp 70 Prozent Zinsen rechnen, wenn man als Privatinvestor einen Kredit aufnehmen wollte. Die Realzinsen (Nominalzins minus Inflationsrate) beliefen sich auf mehr als 10 Prozent. Ein so hohes Zinsniveau würgt jede Wirtschaft ab – und genau das geschah in Argentinien. Nominal schrumpfte die Wirtschaft zwischen den Jahren 2017 und 2019 um fast 30 Prozent, was wiederum die in Fremdwährungen denominierte Schuldenlast verschärfte.
Betrachtet man die Verläufe des realen und des nominalen Wechselkurses des Peso (Abbildung 1) und die argentinische Leistungsbilanz (Abbildung 2), kann man klar erkennen, was in Argentinien schief gelaufen ist.
Abbildung 1
Die dramatische reale und nominale Abwertung des Pesos im Jahr 2001 hat Argentinien zunächst einen unglaublichen Boom beschert, der von der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit angetrieben wurde. Die Leistungsbilanz verzeichnete einen enormen Überschuss und die Wachstumsraten des Landes beeindruckten die gesamte Welt. Doch es gelang der argentinischen Regierung nicht, diesen riesigen absoluten Vorteil im internationalen Handel zu erhalten. Schon 2010 geriet die Leistungsbilanz wieder ins Defizit und das, obwohl der reale Wechselkurs nach 2003 eine nahezu kontinuierliche Abwertung, also eigentlich eine weitere Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit anzeigt.
Vieles spricht dafür, dass die argentinischen Regierungen nach 2001 eine Inflationierung des Landes zuließ, die sich aber in den offiziellen Statistiken nicht voll widerspiegelte bzw. widerspiegeln durfte. Auf diese Weise dürfte es zu einer realen Aufwertung des Pesos gekommen sein, weil die Abwertung des nominalen Wechselkurses nicht ausreichte, die wirkliche Inflationsdifferenz zu den westlichen Währungen auszugleichen.
Für diese Version spricht nicht nur die heftige Diskussion der argentinischen Inflationsraten zu dieser Zeit, sondern auch die Entwicklung der Leistungsbilanz. Seit 2010 wies Argentinien Leistungsbilanzdefizite auf, die bis 2018 auf mehr als 5 Prozent zunahmen. Erst mit der tiefen Rezession und dem Zusammenbruch der Importe in den Jahren 2019 und 2020 kehrte Argentinien zu einem Überschuss zurück.
Abbildung 2
Inzwischen haben die Finanzmärkte Argentinien weitgehend abgeschrieben. Im Jahr 2017 waren die Märkte noch optimistisch, was die Perspektiven der Emerging Markets generell betraf. Argentinien gab im Sommer sogar noch eine Anleihe mit 100-jähriger Laufzeit mit einer Rendite von 8 Prozent aus. Anfang 2018 jedoch, als die US-Wirtschaft brummte und die ersten Arbeitsmarktzahlen des Jahres die Erwartungen übertrafen, begannen die Finanzmärkte auf eine straffere Geldpolitik der Fed und eine Aufwertung des US-Dollars zu wetten. Für Argentinien war dies gleichbedeutend mit einer Kapitalflucht und einem freien Fall der Währung, der man aufgrund geringer Währungsreserven und fehlender internationaler Unterstützung nur mit höheren Zinsen entgegentreten konnte.
Never ending story
So bleibt eine einfache Botschaft: Auch 20 Jahre nach dem Währungsdrama in Argentinien haben weder die westliche Welt noch das Land selbst verstanden, warum man sich im Kreis dreht, statt voranzukommen. Unverstanden bleibt das Währungssystem, das effektiven internationalen Handel unmöglich macht und es den Entwicklungsländern außerhalb Asiens nicht erlaubt, den Außenwert der Währung so zu stabilisieren, dass ihre internationale Wettbewerbsfähigkeit erhalten bleibt. Immer noch gibt das globale Finanzkasino den Ton an und produziert falsche Wechselkurse, die systematisch falsche Wirtschaftspolitik nach sich ziehen.
Gleichzeitig hat man auf der nationalen Ebene aber auch bei den internationalen Finanzinstitutionen nicht begriffen, dass nur eine lohnpolitische Stabilisierung der Inflationsraten geeignet ist, Preisstabilität und steigenden Lebensstandard miteinander zu verbinden. Die verfehlte Wirtschaftspolitik, die von äußeren Zwängen angetrieben ist, führt dazu, dass man entwicklungspolitische Erfolge außerhalb Asiens mit der Lupe sucht. Die Leidtragenden sind vor allem die Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern, denen die Perspektive auf eine bessere Zukunft verbaut wird und die deswegen ihr Heil in der Auswanderung suchen.
20 Jahre nach der großen Krise ringt Argentinien aufs Neue mit den internationalen Kreditgebern. Wie absurd Anfang der 1990er Jahre die Festlegung eines Dollarkurses von 1:1 war, sieht man daran, dass man heute für einen US-Dollar, sage und schreibe, 102 Pesos aufwenden muss. Dass die industrialisierte Welt über 20 Jahre dem südamerikanischen Drama zuschaut, ohne auch nur auf den Gedanken zu kommen, selbst daran beteiligt gewesen zu sein, übertrifft die Absurdität der Wechselkursentwicklung allerdings noch.