Wie der Bundestag von Institutionen und Ökonomen in die (nationale) Irre geführt wird

Wenn man verstehen will, was in Deutschland und in Europa wirtschaftspolitisch schiefläuft, muss man sich die Stellungnahmen der Sachverständigen aus dem Bereich der Ökonomik anschauen, die beim Deutschen Bundestag anlässlich der Anhörung des Parlaments zum zweiten Nachtrags­haushalts­gesetz 2021 eingegangen sind (sie sind, zusammen mit den juristischen Stellungnahmen, hier zu finden). Die Anhörung selbst findet am nächsten Montag (10. 01. 2022) statt.

Die Sache ist leicht zu verstehen: Die Bundesregierung will sich 60 Milliarden Euro sichern, die im vergangenen Jahr für die Bekämpfung der Corona-Krise nicht gebraucht worden sind und sie für andere Zwecke verwenden. Das ist offenkundig juristisch nicht unproblematisch, weil die Ausnahmebestimmungen des Grundgesetzes, die im Rahmen der Schuldenbremse eine temporär höhere Schuldenaufnahme erlauben, eindeutig auf die coronabedingte Krise abstellen, aber nicht dazu da sind, Ausgaben zu ermöglichen, die mit der Coronakrise gar nichts zu tun haben. 

Warum, wird jeder verständige Mensch fragen, macht die Regierung solche Verrenkungen? Wenn sie 60 Milliarden braucht, um damit Investitionen zu finanzieren, soll sie die doch dieses Jahr aufnehmen und fertig. Das aber geht nicht, weil die Schuldenbremse im Grundgesetz genau das verhindert. Selbst wenn man großartige Investitionen hat, die finanziert werden sollen, kann man das nicht einfach machen, weil es die Schuldenbremse und die europäischen Schuldenregeln (die sich vor allem Deutschland ausgedacht hat) gibt. Folglich trickst man haushaltstechnisch herum, damit man später sagen kann, man habe alle Schuldenregeln eingehalten und dennoch investiert. 

An dieser Stelle wir jeder verständige Mensch auch merken, welche bedeutende Rolle dabei die europäische Dimension spielt. Es ist offenkundig, dass insbesondere Frankreich und Italien darauf drängen, die europäischen Schuldenregeln abzuschwächen, während sich die Koalition in Deutschland darauf verständigt hat, das nicht zu tun. Nur wenn man in Deutschland sagen kann, seht her, wir halten uns an die Schuldenbremse und investieren doch, kann man gegenüber den Partnerstaaten argumentieren, dass die Schuldenbremse niemanden hindert, solide zu wirtschaften und zugleich zu investieren.  

Das Argument in Europa zu verwenden, ist aber nicht nur wegen der jetzigen Trickserei schändlich, es ist vor allem deswegen abwegig, weil es aus dem europäischen Land kommt, das seit fast zwanzig Jahren – zu Lasten der Partner – hohe Leistungsbilanzüberschüsse aufweist. Das ist der entscheidende Zusammenhang, um den es in Europa geht. 

Werden (zusammen mit der deutschen Schuldenbremse) die europäischen Schuldenregeln nicht geändert, kann ein Land wie Frankreich niemals wieder zu einer normalen Wirtschaftsentwicklung zurückkehren, weil es Leistungsbilanzdefizite aufweist, die es in einer Welt mit einem Unternehmenssektor, der Überschüsse aufweist (oder wenigstens keine Defizite), unmöglich ist, die staatliche Verschuldung den europäischen Schuldenregeln anzupassen, ohne die eigene Wirtschaft zu ruinieren. 

Wer als Sachverständiger in einer Anhörung des Bundestages zur staatlichen Schuldenpolitik diese Zusammenhänge nicht erwähnt, sagt überhaupt nichts von Bedeutung. Er oder sie blendet den entscheidenden gesamtwirtschaftlichen Zusammenhang aus, weil der Staat niemals in einem Vakuum agiert, sondern sich via gesamtwirtschaftliche Entwicklung an die übrigen Sektoren anpassen muss. Angesichts der Tatsache, dass die relevanten Salden von der deutschen und der europäischen Statistik ermittelt und regelmäßig veröffentlicht werden, ist es ein Kardinalfehler für einen eingeladenen Sachverständigen, sie bei Überlegungen zur staatlichen Schuldenpolitik zu ignorieren.

Der Bundesrechnungshof lässt seine Stellungnahme mit dem Satz enden „Eine wirksame Schuldenregel ist nicht Alles, aber ohne sie ist Alles Nichts“. Das ist einfach dummes Geschwätz und es ist erschreckend, dass der Rechnungshof nicht nur weit jenseits seines Mandats volkswirtschaftliche Stellungnahmen abgibt, sondern die auch noch vom Kleingeist des Betriebsbuchhalters geprägt sind.

Städtetag und Städte- und Gemeindebund schreiben: “ Positive Primärsalden sind ein Ausdruck nachhaltiger und tragfähiger öffentlicher Finanzen. Sie müssen der Normalfall aller öffentlichen Haushalte sein.“ Auch eine solche Aussage ist von keinerlei Sachkenntnis getrübt.

Der Finanzwissenschaftler Prof. Wigger (Karlsruhe) schreibt: „Alternative Modelle zur Finanzierung von Transformationsinvestitionen würden entweder die baldige Rückkehr auf einen stabilen Wachstumspfad gefährden oder die Gefahr einer nachhaltigen Aufweichung der Schuldenbremse bergen“. Das zeigt nur, dass die große Mehrzahl der Finanzwissenschaftler weiter in einem Denken verharrt, dass vor ungefähr hundert Jahren seine Berechtigung verloren hat.

Das harsche Urteil des Kardinalfehlers gilt aber auch für die Stellungnahme des gewerkschaftsnahen IMK (Autorin Katja Rietzler) und des in linken Kreisen gern vereinnahmten Prof. Jens Südekum aus Düsseldorf sowie für die Stellungnahme von Prof. Lena Dräger vom Institut für Geld und Internationale Finanzwirtschaft der Universität Leipzig. Auch sie haben offenbar noch nie von dem zwingenden Zusammenhang der makroökonomischen Salden gehört und können daher keine relevante Stellungnahme abgeben. 

Die einzige Stellungnahme, die den europäischen Aspekt in angemessener Weise einbringt und die Saldenentwicklung insgesamt entsprechend ihrer immensen Bedeutung würdigt, ist die von Friederike Spiecker, die ich im Anhang wiedergebe.

Anhang

Friederike Spiecker

Stellungnahme für die Anhörung
im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags am 10. Januar 2022 zum Gesetzentwurf der Bundesregierung über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021) (BT-Drucksache 20/300) 

Anlass

Der vorliegende Entwurf zu einem zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 legt die finanzpolitische Zwickmühle offen, in der sich die Regierungskoalition befindet: Einerseits will sie die Finanzierung dringend notwendiger öffentlicher Investitionen und die finanzielle Förderung privater Investitionen im Bereich des Klimaschutzes über die kurze Frist hinaus sicherstellen, ohne dafür Steuern zu erhöhen oder z.B. Sozialausgaben zu kürzen, weil das die konjunkturelle Erholung gefährden würde. Andererseits hat sich die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag zur Einhaltung der Schuldenbremse ab 2023 verpflichtet.

Nicht genutzte Mittel aus der stark gesteigerten Kreditaufnahme, die durch das Aussetzen der Schuldenbremse aufgrund der Corona-bedingten Notlage ermöglicht wurde, sollen deshalb dem Energie- und Klimafonds in Höhe von 60 Milliarden Euro zugeführt werden und unabhängig von ihrer kassenwirksamen Verwendung jetzt zulasten des Bundeshaushalts verbucht werden. Dadurch verschafft sich die Regierung eine Art Vorrat an Haushaltsmitteln für die Zeit ab 2023, ab der die Schuldenbremse wieder greifen soll.

Ob dieses Vorgehen grundgesetzkonform ist, ist eine juristische Frage, die ich hier ausklammere.

Der Blick auf Europa fehlt

Aus wirtschaftswissenschaftlicher und wirtschaftspolitischer Sicht stellt sich eine ganz andere und übergeordnete Frage, deren Klärung dem juristischen Streit vorangehen sollte: Ist dieses Vorgehen zielführend hinsichtlich einer Stabilisierung der Konjunktur in und nach der Corona-Pandemie und hinsichtlich des Transformationsprozesses Richtung Klimaneutralität? Diese Frage jedoch nur mit Blick auf Deutschland zu behandeln, wie das in der Begründung des Gesetzentwurfs geschieht, wird dem Problem in keiner Weise gerecht 

Im Koalitionsvertrag der Regierung heißt es: „Wir werden eine Regierung bilden, die deutsche Interessen im Lichte europäischer Interessen definiert. Als größter Mitgliedstaat werden wir unsere besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen.“ (S. 130) 

Da das Wort Europa in der Begründung zum Gesetzentwurf kein einziges Mal auftaucht, sieht die Regierung offenbar keinen Zusammenhang zwischen der Planung bzw. dem Vollzug des deutschen Staatshaushalts und der Entwicklung der Wirtschaft in Europa insgesamt. Oder die Regierung glaubt, dass ihr Interesse, die deutsche Schuldenbremse ab 2023 formal irgendwie einzuhalten, der deutschen Konjunktur auf kurze Sicht trotzdem keinen Dämpfer zu versetzen und gleichzeitig etwas für den Klimaschutz zu tun, den europäischen Interessen in jedem Falle dient, so dass es keines besonderen Hinweises auf Europa bedarf. Beides wäre mehr als fragwürdig.

Dass die Höhe, in der der deutsche Staat heute und in den nächsten Jahren de facto Ausgaben auf Kredit tätigt (ganz gleichgültig, wann, wo und wie die Finanzierung dieser Ausgaben verbucht wird), einen großen Einfluss auf die deutsche Wirtschaft und damit automatisch auf die europäische ausübt, steht außer Frage. Denn die konjunkturelle Anregung oder Dämpfung, die vom Verschuldungsverhalten der viertgrößten Volkswirtschaft der Welt auf ihre Nachbarn ausgeht, bestimmt deren gesamtwirtschaftliche Entwicklung besonders stark, seit sie in einer Währungsunion miteinander verbunden sind. 

Diese Verbindung bei der Diskussion der Kreditaufnahme des deutschen Staates nicht einmal zu erwähnen, ist unklug. So lässt sich die Regierung nämlich nicht nur das entscheidende Argument entgehen, das für die Streckung der Kreditmittel über das Jahr 2021 hinaus anzuführen ist. Vielmehr erweckt die Regierung den Eindruck, sich vor der anstehenden Debatte um die europäischen Fiskalregeln zu drücken, die natürlich in engem Zusammenhang mit der deutschen Schuldenbremse stehen. Dieser Debatte wird man allerdings nicht ausweichen können.

Unabhängig von volkswirtschaftlichen Theorien, Modellen, ideologischen Vorstellungen und juristischen Rahmenbedingungen muss die grundlegende Logik einer monetären Volkswirtschaft, dass die Summe aller Ausgaben gleich der Summe aller Einnahmen der Wirtschaftssubjekte ist, in jeder rationalen (Wirtschafts-)Politik berücksichtigt werden. Das bedeutet im Kern, dass Sparen – ganz gleich von welcher Seite – ein Problem schafft, weil es immer die Einnahmen und die Gewinne der Unternehmen verringert. Berücksichtigt man das nicht, werden nicht nur die eigenen Ziele nicht erreicht, sondern es kommt über die nationalen Grenzen hinaus zu konjunkturellen Rückschlägen, für die die Regierung auch dann verantwortlich ist, wenn sie sie nicht beabsichtigt hat.

Eine offene Diskussion der deutschen Schuldenbremse und der europäischen Schuldenregeln ist unumgänglich

Der vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron und dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi am 4. Januar gemeinsam veröffentlichte Beitrag in der Financial Times mit dem Titel „The EU’s fiscal rules must be reformed“ gibt einen ersten Vorgeschmack auf die kommenden Auseinandersetzungen auf EU-Ebene. Die Hoffnung, diese Auseinandersetzungen mithilfe der Milliarden für den Green New Deal beseitigen zu können oder gar schon beseitigt zu haben, ist fehl am Platz.

Wie will die deutsche Regierung „besondere Verantwortung in einem dienenden Verständnis für die EU als Ganzes wahrnehmen“, wenn sie den geradezu simplen Zusammenhang zwischen den Einnahme-Überschüssen, die die deutsche Volkswirtschaft mit dem Rest der Welt macht, beim Aufstellen oder Nachjustieren des deutschen Staatshaushaltes nicht beachtet?

Für jeden der vier Sektoren einer Volkswirtschaft (private Haushalte, Unternehmen, Staat und Ausland) lassen sich die Einnahmen und Ausgaben im Nachhinein saldieren, so dass festgestellt werden kann, ob ein Sektor insgesamt mehr eingenommen als ausgegeben, also gespart hat, oder ob er mehr ausgegeben als eingenommen, sich also verschuldet hat. Die Salden aller vier Sektoren zusammengenommen ergeben notwendig null.

Wollen in der ex ante-Planung alle Binnensektoren einer Volkswirtschaft zusätzlich sparen oder ihre Neuverschuldung deutlich reduzieren, geht davon ein negativer Impuls auf die Gewinne der Unternehmen und auf die Konjunktur aus, es sei denn, der vierte Sektor, das Ausland, ist bereit, die Schuldnerrolle so auszufüllen, dass die Gesamtnachfrage in der betrachteten Volkswirtschaft nicht sinkt. Das bedeutet aber, dass das Ausland zusätzliche Schulden anhäufen muss – sei es im privaten Sektor, sei es im öffentlichen –, für die es von dem Überschussland im Nachhinein nicht kritisiert werden darf. 

Genau deshalb ist es wichtig, im Zusammenhang mit dem vorliegenden Gesetzentwurf offen darüber zu diskutieren, ob der Versuch, die Schuldenbremse mit 60 Milliarden Euro (auf das BIP von sagen wir drei Jahren bezogen ist das ein verschwindend geringer Prozentsatz von 0,7) noch ein bisschen zu umgehen, bevor sie ab 2023 ganz sicher wieder eingehalten werden soll, nicht mehr schadet als nützt. 

Es kommt eben nicht nur einer Quadratur des Kreises gleich, in den nächsten Jahren gleichzeitig konjunkturanregend und klimaschützend wirken zu wollen, ohne die Schuldenbremse anzutasten. Vielmehr geht dieser Zielmix zulasten unserer europäischen Nachbarn und zwar besonders der EWU-Partner. Wird auf diesem Wege die schwelende Euro-Krise erneut entfacht – und dafür spricht leider vieles –, wird sich die Regierung vorrangig diesem – selbst mitprovozierten – Problem widmen müssen, was ihre Kräfte für die eigentlich anstehende Bewältigung des erforderlichen Strukturwandels lähmen und ihre internationale Reputation für Verhandlungen etwa im Bereich Klimaschutz oder Flüchtlingspolitik schmälern dürfte.

Wer spart und wer verschuldet sich in Deutschland?

In Deutschland sparen die privaten Haushalte traditionell einen gewissen Anteil ihres Einkommens. Normalerweise liegt er bei 10 bis 11 Prozent des verfügbaren Einkommens oder, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), bei 5 bis 6 Prozent. 2020 ist die Sparquote auf über 16 Prozent des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte hochgeschnellt (knapp 330 Milliarden Euro oder 9,1 Prozent des BIP), etwa weil Ausgaben pandemiebedingt nicht getätigt werden konnten (z.B. im Tourismusbereich), möglicherweise auch weil dem Vorsorgemotiv als Reaktion auf die Pandemie eine größere Bedeutung eingeräumt wurde. Auch 2021 ist die Sparaktivität der privaten Haushalte nur leicht auf schätzungsweise 15,4 Prozent zurückgegangen. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) sind das ungefähr 8,8 Prozent (vgl. die blaue Linie in Abbildung 1).

Gleichzeitig ist auch die Spartätigkeit des Unternehmenssektors stark gestiegen: von 12 Milliarden Euro (das entspricht 0,3 Prozent des BIP, vgl. die rote Linie in Abbildung 1) im Jahr 2019 auf 64 Milliarden Euro 2020 (1,9 Prozent des BIP) und dann laut Schätzung der EU-Kommission noch einmal auf doppelt so viel (140 Milliarden Euro bzw. 4 Prozent des BIP) im Jahr 2021. 

Eigentlich hätte der Unternehmenssektor in einer normal funktionierenden Marktwirtschaft die Aufgabe, sich für private Investitionsvorhaben zu verschulden und dadurch die von den privaten Haushalten mit ihren Sparbemühungen verursachte Nachfragelücke innerhalb der Volkswirtschaft zu schließen. Dieser Aufgabe werden die Unternehmen in Deutschland, aber auch in anderen europäischen Ländern bereits seit Jahren nicht mehr gerecht. Das schlägt sich in einer eklatanten Schwäche der privaten Investitionstätigkeit nieder und verlangt vom Staat in allen Volkswirtschaften, mit eigener Verschuldung in diese Bresche zu springen. 

Abbildung 1

In Krisenzeiten wie der gegenwärtigen verstärkt sich das Problem noch: In der Summe versucht der Unternehmenssektor, seine Ausgaben im Vergleich zu seinen Einnahmen noch stärker zu reduzieren als ohnehin schon (Stichwort balance sheet recession). Das war bereits während der Finanzkrise 2009 zu beobachten (Anstieg von zuvor 0,3 auf 2,8 Prozent des BIP) und steigerte sich auch damals im darauffolgenden Jahr noch einmal (auf 4,4 Prozent 2010), also ganz ähnlich wie jetzt 2021 gegenüber 2020. 

In beiden Krisen, 2009/2010 und 2020/2021, ist die öffentliche Hand eingesprungen und hat den sparbedingten Nachfrageausfall durch schuldenfinanzierte Ausgaben zumindest teilweise kompensiert (vgl. die schwarze Linie in Abbildung 1). In beiden Phasen blieb aber das Ausland (vgl. die grüne Linie in Abbildung 1) eine wesentliche Quelle der Nachfrage für deutsche Unternehmen: Das Ausland verschuldete sich 2009 und 2010 zugunsten der deutschen Wirtschaft mit jeweils fast 6 Prozent deutlich stärker als die deutsche öffentliche Hand (3,2 bzw. 4,4 Prozent). 

Nach der Finanzkrise nahm die Verschuldung des Auslands gegenüber Deutschland sogar noch zu: Deutschlands Überschüsse mit dem Rest der Welt stiegen bis 2016 auf über 8 Prozent seines BIP. Seither sind sie auf gerade einmal gut 6 Prozent zurückgegangen. Nur dadurch gelang es den deutschen Regierungen, in diesen Jahren das Ziel einer schwarzen Null im Staatshaushalt zu erreichen; sie brachten es sogar auf Überschüsse, in der Spitze 2018 auf 64 Milliarden Euro.

Aktuell prognostiziert die EU-Kommission für das Jahr 2022 und erneut für 2023, dass die im dreistelligen Milliardenbereich angesiedelte sparbedingte Nachfragelücke der Privaten in Deutschland (2022 über 330 Milliarden Euro, 2023 ca. 275 Milliarden Euro) weitgehend vom Ausland geschlossen wird. Anderenfalls würde die deutsche Wirtschaft unter der Sparlast ihrer Binnensektoren zusammenbrechen. Denn die öffentliche Hand, die sich 2021 schätzungsweise mit 230 Milliarden Euro oder 6,5 Prozent des BIP verschuldet hat, wird gemäß dieser Prognose die Neuverschuldung 2022 auf 94 Milliarden oder 2,5 Prozent des BIP reduzieren. Diese Veränderung entspricht (mit umgekehrtem Vorzeichen) ungefähr dem vermuteten Rückgang der Spartätigkeit der Privaten. Bleibt eine Lücke von gut 240 bzw. über 250 Milliarden Euro in den beiden vor uns liegenden Jahren. Vom Ausland wird offenbar erwartet, dass es sie ausfüllt.

Zusammenhang mit der EWU

Um ermessen zu können, wie bedeutsam das deutsche Vorgehen für die Partner in der EWU ist, muss man sich deren Finanzierungssalden anschauen. In Frankreich (Abbildung 2) zeigt sich, dass in einem Land mit einem Leistungsbilanzdefizit (grüne Kurve über Null) der Staat immer gefordert ist, die Nachfragelücke mit eigenen Schulden zu schließen. Obwohl die französischen Unternehmen per Saldo nur wenig sparen, ist die Gesamtkonstellation so, dass nur der Staat die Wirtschaft stabilisieren kann. Das ist klar im Widerspruch zu den europäischen Schuldenregeln, was aber nur zeigt, dass diese Regeln dringend überarbeitet werden müssen.

Abbildung 2

In Italien (Abbildung 3) bietet der Auslandssaldo zwar eine gewisse Entlastung, weil das Land einen Überschuss in der Leistungsbilanz hat, aber die Ersparnis der Unternehmen ist extrem hoch. Auch hier muss der Staat permanent Defizite machen, selbst wenn die Sparquote der privaten Haushalte gemäß der Prognose der EU-Kommission dieses Jahr und 2023 stark sinken wird. 

Abbildung 3

Für die EWU insgesamt (Abbildung 4) ist es vollkommen unbestreitbar, dass der Staat seine Rolle als Stabilisator der Wirtschaft und als sich verschuldender Sektor spielen muss, so lange die privaten Sektoren insgesamt sehr hohe Sparsalden aufweisen. Noch höhere Überschüsse gegenüber dem Ausland sind untragbar und werden von den Handelspartnern, insbesondere den USA mit Sicherheit nicht akzeptiert. 

Abbildung 4

Fazit

Deutsche Haushaltsfragen ohne europäische Perspektive angehen zu wollen, ist nicht nur ein schwerer Verstoß gegen den Geist des Koalitionsvertrages, sondern wird europäische Gegenreaktionen auslösen, die der deutschen Wirtschaft auf mittlere Frist enorm schaden können. Es geht kein Weg an der Einsicht vorbei, dass Staatsschulden nicht losgelöst vom Verhalten der übrigen Sektoren der Volkswirtschaft und vom dem des Auslandes sinnvoll betrachtet und behandelt werden können. Wer sich mit einer rein nationalen und rein fiskalischen Perspektive auf den Weg macht, wird in die Irre gehen.