Christian Lindner, Europa und der weise Rat

“The policy of reducing Germany to servitude for a generation, of degrading the lives of millions of human beings, and of depriving a whole nation of happiness should be abhorrent and detestable, – abhorrent and detestable, even if it were possible, even if it enriched ourselves, even if it did not sow the decay of the whole civilized life of Europe. Some preach it in the name of Justice. In the great events of man’s history, in the unwinding of the complex fates of nations Justice is not so simple. And if it were, nations are not authorized, by religion or by natural morals, to visit on the children of their enemies the misdoings of parents or rulers.”   J. M. Keynes, The Economic Consequences of the Peace, 1919

Christian Lindner benötigt Rat. Er benötigt sogar dringend guten Rat. Weiser Rat wäre das Größte. Das hat er sich wohl selbst gedacht und, in der Tat, er holt sich Rat. Der frühere Vorsitzende der sogenannten Wirtschaftsweisen, des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), Lars Feld, soll sein Chefberater werden. 

Das ist pikant, weil genau dieser Vorsitzende auf Druck der SPD in der Koalition mit der CDU nicht mehr als Weiser verlängert wurde und ausscheiden musste. Dass er jetzt, in einer Koalition unter Führung der SPD, den vermutlich ungleich wichtigeren Posten des Chefberaters des Bundesfinanzministers erhält, zeigt wiederum, dass in dieser Koalition alle drei Parteien vor sich hin wurschteln, ohne eine gemeinsame Linie auch nur zu versuchen. 

Viel schlimmer aber ist, dass man absolut sicher sein kann, dass dieser frühere Wirtschaftsweise den Wirtschaftslaien Christian Lindner in all seinen falschen Vorurteilen bestätigen wird, weil er genau das in seiner Zeit beim SVR in praktisch jedem Gutachten vorgeführt hat. Die Gutachten mit und unter Feld zeichneten sich dadurch aus, dass es praktisch keine originären Ergebnisse der Arbeit der Räte gab, sondern das schlichte Wiedergeben der herrschenden Lehre zu allen denkbaren Problemen (hier eine Auseinandersetzung meinerseits aus dem vergangenen Jahr damit). So ist dieser Rat nie über den Sachstand hinausgekommen, den man ohnehin beliebig oft lesen konnte.

Lindner glaubt, wie jeder gute Liberale, fest daran, es gäbe so etwas wie „Ordnungspolitik“, die ein Ersatz sein könnte für intelligente Politik. Da kommt ihm der Freiburger Feld gerade recht. An der Universität Freiburg trauern viele immer noch Friedrich August von Hayek nach, der – in der intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Keynesianismus kläglich gescheitert – sich daran machte, der marktwirtschaftlichen Ordnung einen radikalen ideologischen Überbau zu geben (hier ein älterer Artikel dazu). Dabei ist dann leider alles verloren gegangen, was an der Ordnung wichtig und verstehenswert ist.

Die deutsche Lebenslüge als Basis für europäische Politik?

Unmittelbar mit der Berufung von Lars Feld gibt Christian Lindner in einem Interview mit den Handelsblatt zu erkennen, wie dringend er des Rates bedarf, den er von Lars Feld niemals bekommen wird. Zur Frage nach der europäischen Schuldenregeln sagt er Folgendes:

„Mir ist wichtig, dass wir einen verbindlichen Pfad zur Reduzierung der Schuldenquoten in Europa erreichen. Das ist nach der Finanzkrise vor einem Jahrzehnt nicht gelungen. Im gleichen makroökonomischen Umfeld hat ein Teil der Mitglieder der Währungsunion fiskalische Puffer aufgebaut und den Schuldenstand reduziert, während andere höhere Schuldenquoten haben.“ 

„Im gleichen makroökonomischen Umfeld“ ist eine glatte Lüge. Ein „gleiches makroökonomisches Umfeld“ hat es in der Europäischen Währungsunion (EWU) von Anfang an und insbesondere im letzten Jahrzehnt nicht gegeben. Diese Lüge ist allerdings nicht nur eine liberale Lüge, sondern sie ist die deutsche Lebenslüge der vergangenen zwanzig Jahre schlechthin – was allerdings die Grünen und die SPD mit einschließt. Deutschland hat mit seinem staatlich orchestrierten Lohndumping unter Rot-Grün, unter dem unüberhörbaren Beifall von CDU und FDP, zu Beginn dieses Jahrhunderts dafür gesorgt, dass das makroökonomische Umfeld für einen Teil der Mitglieder günstig und für die anderen ungünstig war. 

Deutschland und die Niederlande vor allem nutzten die EWU aus, um sich zu Lasten der anderen EWU-Mitglieder globale Marktanteile zu sichern, die eigene Exportindustrie auf Kosten der eigenen Arbeitnehmer massiv zu fördern und so hohe Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen. Nur diese Länder konnten sich fiskalische Konsolidierung leisten, weil sie die für wirtschaftliche Entwicklung immer notwendige Verschuldung eines oder mehrerer Sektoren ins Ausland verlagerten (hier ein Stück zur Erklärung des Zusammenhangs). Sie verstießen damit zwar klar gegen die europäischen Regeln – aber das wird in Deutschland als lässliche Sünde nonchalant beiseitegeschoben.

Jetzt so zu tun, als sei es nur mangelnder politischer Wille oder mangelnde politische Durchsetzungsfähigkeit im Ausland gewesen, die verhindert haben, dass alle so tugendhaft wie die tugendhaften Länder waren, ist reiner Zynismus. Wenn in einer Gemeinschaft wie der EWU der stärkste Partner nicht versteht, dass sich nicht alle so verhalten können wie er selbst, um erfolgreich zu sein, genau dieser Partner aber beansprucht, allgemein gültige Regeln zu verkünden, ist Alarmstufe rot erreicht. 

Lindners erster Satz, wo er einen „verbindlichen Pfad zur Reduzierung der Schuldenquoten in Europa“ anmahnt, hat in Frankreich und Italien ohne Zweifel die Alarmglocken schrillen lassen. Macron und Draghi haben nicht umsonst – und vollkommen zu Recht – Flexibilität in dieser Sache angemahnt (siehe hier). Einen verbindlichen Plan zur Reduzierung der Staatsschulden in Europa insgesamt durchzusetzen, ist ebenso unmöglich und ebenso absurd, wie es der Plan der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg war, Deutschland über Jahrzehnte hohe Reparationen bezahlen zu lassen. Damals hat das allerdings nur ein einziger Mensch auf der gesamten Welt verstanden, der englische Ökonom nämlich, der in Deutschland von den offiziellen Beratern bis heute nicht zur Kenntnis genommen wird. 

Argumente ohne Logik und ohne Empirie 

Man muss nur einen Blick auf die Finanzierungssalden in der EWU werfen, um zu erkennen, wie abwegig Lindners Satz ist (Abbildung). Bei sparenden Unternehmen und sparenden privaten Haushalten in den vergangenen 20 Jahren, wäre die einzige logische Möglichkeit, die es erlaubte, staatliche Schulden (von welchem Niveau aus, ist vollkommen gleich) in Relation zum BIP zurückzufahren, eine Ausweitung der europäischen Leistungsbilanzüberschüsse. Das werden die übrige Welt und insbesondere die USA nicht akzeptieren. Wenn der deutsche Bundesfinanzminister Forderungen nach einer Rückführung der staatlichen Schulden stellt, müssen er und seine Berater sagen, wie das geschehen soll.

Abbildung

Lars Feld hat weder in seiner Zeit im SVR noch davor oder danach zu erkennen gegeben, dass er diesen makroökonomischen Zusammenhang kennt, geschweige denn versteht. Deswegen wird es unumgänglich sein, dass die übrigen Europäer nun endlich in aller Öffentlichkeit laut und ernsthaft diskutieren, wie man mit einem Land zurechtkommen soll, in dem es gelingt, einfachste logische und empirische Zusammenhänge vollkommen unter den Teppich zu kehren und damit auch der eigenen Gesellschaft vorzuenthalten. 

Sicher wird Lindner viel Zuspruch in Deutschland für seine „harte“ Haltung gegenüber den „weniger soliden“ Ländern ernten. Aber es ist der Zuspruch derer, die eine Strafe auch dann für angemessen halten, wenn der Verurteilte sie niemals erbringen kann. Solche Menschen gibt es. Doch wenn die Politik jede Weisheit in den Wind schlägt und sich den dumpfen Vorurteilen fügt, dann ist jede Verrücktheit möglich. Die Mahnung von Keynes von vor hundert Jahren hat auch in Deutschland bis heute kaum jemand verstanden, wenngleich – angesichts dessen, was danach geschehen ist – jeder zumindest ahnen müsste, wie angemessen sie war.