von Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
Katastrophale Ereignisse können den Keim für eine grundlegende Besserung in sich tragen. Wenn man über den Tag hinausdenkt, ist klar, dass ein zukünftiger Frieden nur mit neuen Konzepten dauerhaft gesichert werden kann. Vielleicht wird der Westen, insbesondere aber Europa jetzt endlich lernen, dass man dafür viel mehr bieten muss als offene Märkte.
Nach dreißig verlorenen Jahren haben die ehemaligen Transformationsländer Anspruch darauf, nicht weiter als Anhängsel des Westens betrachtet zu werden – was übrigens für die Entwicklungsländer in gleicher Weise gilt. Wer glaubt, es reiche aus, ihnen wieder nur das Angebot zu machen, sich dem Westen vollständig anzuschließen, was so viel bedeutet, wie sich den bisherigen Konzepten des Westens ohne Wenn und Aber unterzuordnen, hat schon vor dreißig Jahren falsch gelegen und liegt auch heute falsch. Darüber kann der momentan so großzügig verwendete Freiheitsbegriff nicht hinwegtäuschen, hinter dem sich im engeren ökonomischen Sinne in erster Linie das Dogma des Freihandels und der Kapitalverkehrsfreiheit verbirgt.
„Wandel durch Handel“ am Ende – aber wo war der Anfang?
Der derzeitige Konflikt zwischen Russland und Europa zeige, so der Vize-Chef der EU-Kommission Frans Timmermans (hier zitiert), dass das Konzept „Wandel durch Handel“ gescheitert sei. Das stimmt. Es ist aber nicht gescheitert, weil inzwischen ein besseres Prinzip angewendet worden oder gar der alte Systemkonflikt wieder ausgebrochen wäre, sondern weil der Handel, den der Westen inklusive der EU-Kommission allen Transformationsländern angeboten hat, eine Mogelpackung war.
Es gab ganz einfach zu wenig Wandel, weil der Handel der falsche war, d.h. den eigentlich erforderlichen und wünschenswerten Wandel behindert hat. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges sind in den Ländern des ehemaligen Ostblocks nicht die Verbesserungen eingetreten, die von den westlichen Beratern und „Partnern“ lauthals versprochen worden waren. Das hat Frustration bei der Bevölkerung in diesen Ländern erzeugt und Politiker an die Macht gebracht, die das Modell vom Wandel durch Handel in Frage stellen und auf ihre nationalen Interessen pochen. Die EU-Kommission sollte das besser als andere wissen, hat sie doch täglich mit solchen Politikern aus ihren eigenen Mitgliedsländern zu tun. Der vor dem Europäischen Gerichtshof ausgetragene Streit zwischen der EU-Kommission und Polen bzw. Ungarn um Fragen der Rechtsstaatlichkeit zeigt das mehr als deutlich.
Doch wie will Frans Timmermans seinen Satz verstanden wissen? Wenn er meint, man müsse die Tür des Austauschs mit Russland nun dauerhaft zuschlagen, weil der Austausch nicht den gewünschten Erfolg in Sachen Demokratie und Frieden gebracht habe, macht er einen großen Fehler. Denn damit schlägt er die Tür zu einer wirklichen Partnerschaft, einer Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen dem Westen und diesem großen Land zu. Diese Partnerschaft ist der einzige Schlüssel zu einem dauerhaften Frieden. Oder wollen wir eine Mauer um Russland herum bauen, um dieses Land für die nächsten hundert Jahre von der westlichen Welt abzuschotten? Brächte das einen auf Dauer stabilen Frieden in Europa mit sich?
Nach der gescheiterten Planwirtschaft steht nun die Marktwirtschaft vor dem Scheitern
Der Westen hat mit dem Ende des kalten Krieges 1989 wenig Vernünftiges anzufangen gewusst – er wollte und hat daran vor allem Geld verdient. Welchen kalten Krieg wollen wir jetzt führen? Einen zwischen Rohstoffproduzenten und ihren Kunden? Einen zwischen den Privilegierten, die schon immer privilegiert waren, und denen, die es nach den bisherigen Spielregeln nie sein werden? Diesen Krieg haben wir schon innerhalb unserer eigenen Länder. Wollen wir ihn auf der internationalen Ebene, wo die Privilegierten bisher immer gewonnen haben, nochmals verschärfen, statt endlich unseren eigenen jahrhundertealten Parolen über Gleichheit und Gleichberechtigung zu folgen?
Die Präsidentin der EU-Kommission ist mit ihrem Satz „We want them [die Ukraine, Anm. d. Verf.] in the European Union“ vorgeprescht, ohne ein langfristig tragfähiges Konzept zu haben. Dass es an einem solchen fehlt, lässt sich zum einen an der Lage der bereits in die EU aufgenommenen Staaten Südosteuropas erkennen. Zum anderen würde die Aufnahme der Ukraine in die EU bedeuten, dass Russlands westliche Grenzen fast durchgehend mit EU-Ländern bestünden. Das erforderte erst recht einen Plan zum kooperativen Umgang mit diesem großen Land, ganz gleich, wer dort an der Spitze des Staates steht. Anderenfalls befände sich Europa in einer permanenten Hab-Acht-Stellung oder Schlimmerem, aber sicher nicht in einem stabilen Frieden.
Konzeptionell müssen die großen EU-Mitgliedstaaten der Kommission klarmachen, dass die Zugehörigkeit zum europäischen Binnenmarkt nicht das zentrale Ziel der europäischen Kooperation sein darf. Der Binnenmarkt in seiner gegenwärtigen Verfassung überfordert schon Länder wie Frankreich oder Italien. Wie soll dann ein osteuropäisches Land damit zurechtkommen? Deutschland hat – ähnlich wie die Niederlande – mit seinem Merkantilismus und seinen gewaltigen Leistungsbilanzüberschüssen, die von der Kommission seit Jahren hingenommen werden, die Grundidee des Binnenmarktes pervertiert, nämlich ein vollständig offener Markt für gleichstarke Unternehmen und gleichstarkeRegionen zu sein.
Freiheit und Wohlstand für alle gibt es nicht durch freie Märkte überall
Handel zwischen Nationalstaaten, die eigenständige Regierungen haben, darf niemals zur Einbahnstraße werden. Das gilt für die globalen Salden von Export und Import, das muss aber auch für die Unternehmensstrukturen gelten, mit denen sich jedes Land dem internationalen Handel stellt. Funktionierende industrielle und technologische Strukturen dürfen von keinem Land einfach der internationalen Arbeitsteilung geopfert werden. Denn sie sind entscheidend für die Zukunftsaussichten der jeweiligen Bevölkerung, weil sie die einzige Quelle des materiellen Wohlstandes darstellen, nämlich des Produktivitätsfortschritts. Um nicht missverstanden zu werden: Es geht dabei nicht um plattes „Wachstum“, sondern um eine positive technologische Entwicklung, die auch und gerade in Hinblick auf den Schutz unseres Planeten erforderlich ist.
Jedes Land muss innerhalb internationaler Regeln die Möglichkeit haben, Schlüsselindustrien aufzubauen und zu bewahren. Alle erfolgreichen asiatischen Entwicklungsmodelle haben gezeigt, dass nur mit Hilfe des Staates und der Regulierung des internationalen Austauschs wirkliches Aufholen möglich ist. Öffnung ohne den Staat und ohne Schutzregeln für die aufholenden Länder bedeutet nur, dass die ohnehin Mächtigen noch mächtiger werden.
Das Lehrbuch-Konstrukt der Mainstreamökonomik von den komparativen Vorteilen im internationalen Handel mit seinen Schlussfolgerungen hinsichtlich Freihandel und Kapitalverkehrsfreiheit muss endgültig entlarvt werden als wissenschaftliches Feigenblatt eines internationalen Raubtierkapitalismus. Wie ehrlich es Westeuropa mit dem Aufholen-Lassen, der Entwicklung von Demokratie und dem Schutz von Freiheit in Ländern wie der Ukraine, der Türkei, aber auch in Polen und Ungarn und anderen osteuropäischen EU-Ländern bis hin zu Russland selbst und den armen Ländern des globalen Südens wirklich meint, entscheidet sich auf diesem Feld.
Finanzspekulationen als Lackmustest
Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie in der EU derzeit auf die Preissteigerungen bei Rohstoffen reagiert wird. Denn was die Führungseliten in den einflussreichen EU-Staaten selbst an Realeinkommensverlusten zu akzeptieren bereit sind und was sie ihren eigenen ärmeren Landsleuten zumuten oder – umgekehrt – an Unterstützung gewähren, kann als grober Indikator herangezogen werden für das, was ärmere Staaten von der EU bestenfalls zu erwarten haben.
Die Mehrheit der Politiker beklagt medienwirksam die Beutelung der Leute mit den kleinen Einkommen aufgrund der Verteuerung von Heizstoffen, Treibstoffen, Strom und Lebensmitteln und diskutiert eifrig über preisdämpfende Maßnahmen. Nur wenige Verantwortliche sprechen deutlich an, wessen Taschen sich durch diese Entwicklung füllen, ob das gerechtfertigt ist und, wenn nein, ob das nicht geändert werden kann. Und kaum jemand kritisiert, dass die durch Spekulation entstehenden Preisverzerrungen das mächtige Instrument der Marktwirtschaft aushebeln, durch Preise reale Knappheiten angezeigt und dadurch auf Dauer behoben oder zumindest gelindert zu bekommen.
Woran kann man erkennen, ob Preisbewegungen auf realen Knappheiten beruhen oder spekulative Anteile enthalten? Weizen etwa wird im Laufe dieses Jahres weltweit sicher real knapper werden, wenn die Aussaat und damit die Ernte der bedeutenden Weizenexporteure Russland und Ukraine aufgrund des Kriegs stark zurückgehen oder die Versorgung von Drittstaaten mit Düngemitteln aus Russland schrumpfen sollte. Das spricht für einen Anstieg von Getreidepreisen in der Zukunft. Weizen ist aber in den vier Wochen seit Mitte Februar schon um enorme 35 Prozent teurer geworden (Abbildung 1).
Abbildung 1
Quelle: Finanzen.net
Merkwürdig ist auch, dass die Preisentwicklung einen Spitzenwert vor ungefähr einer Woche erreichte. Da war Weizen ca. 55 Prozent teurer als Mitte Februar. Danach ging es rasant abwärts. Ist in dieser einen Woche das reale Weizenangebot so spürbar gestiegen, dass es zu dem beobachteten Preisrückgang kam? Natürlich nicht – innerhalb einer Woche verändern sich die Erntemengen irgendwo auf dieser Welt nicht so schlagartig. Ist in dieser einen Woche die realeNachfrage nach Weizen so stark gesunken, dass es zu dem beobachteten Preisrückgang kam? Natürlich ebenfalls nicht – innerhalb einer Woche verringern sich die Verbrauchsmengen nicht so stark und füllen sich die Lager nicht so rasant, dass die realen Bestellungen so deutlich rückläufig wären.
Ein ähnliches Bild ergibt sich beim Ölpreis (Abbildung 2): Deutliche Preissteigerung seit vier Wochen um gut 14 Prozent mit zwischenzeitlichem Peak von fast 30 Prozent.
Abbildung 2
Quelle: Finanzen.net
Das Muster findet sich bei den verschiedensten Rohstoffen, etwa auch bei Aluminium (Abbildung 3): kurzfristig extrem steiler Anstieg, dann wieder steiler Abfall bei im Durchschnitt insgesamt steigendem Trend.
Abbildung 3
Quelle: Finanzen.net
Der Grund für diese Preisschwankungen ist, dass mit Rohstoffen spekuliert wird. Finanzanleger beobachten die politische Lage, rechnen 1 und 1 zusammen und kaufen Papiere, die auf z.B. Weizen lauten. Andere Finanzanleger springen ebenfalls auf diesen Zug auf, und schon nimmt die Preisrallye an Fahrt auf. Welche Größenordnung der Preisanstieg aufgrund aktueller und absehbarer physischer Knappheit tatsächlich haben könnte und als sinnvolles Signal an die Anbieter und Nachfrager realer Mengen auch haben sollte, spielt dabei für die Finanzanleger keine große Rolle – Hauptsache, sie steigen für die Maximierung ihrer Rendite rechtzeitig in die Rohstoffmärkte ein und aus. Und das schädigt alle diejenigen, die sich nicht mit Rohstoffpapieren eindecken können und wollen, sondern reale Rohstoffe tatsächlich benötigen, also die Vorleistungsbezieher und die Endverbraucher, darunter auch und gerade die Einkommensschwachen. Denn sie müssen die Spitzenpreise bezahlen oder zumindest die Margen, mit denen sich die „echten“ Händler der physischen Rohstoffe gegen die Preisturbulenzen abzusichern versuchen.
Ist es gerecht, wenn sich die in der Finanzwirtschaft Agierenden auf Kosten der in der Realwirtschaft Tätigen bereichern? Und stärken „künstliche“ Preisturbulenzen die Funktion des Systems Marktwirtschaft, physische Knappheiten anzuzeigen? Steigern sie das Vertrauen der Bevölkerung in unser Wirtschaftssystem?
Man kann von heute auf morgen die Spekulation mit Rohstoffen verbieten. Die Staaten, die wirklich ein Interesse an der Lage der Bevölkerung und an der internationalen Stabilität haben, können rein finanzielle Spekulation mit Rohstoffen verbieten. Solchen Wirtschaftssubjekten, die Rohstoffe weder produzieren noch verarbeiten oder als Vorleistung bei ihrer Produktion einsetzen (und auch keine Lager besitzen, in denen sie Rohstoffe lagern können), sowie jenen, die nicht nachweislich seit vielen Jahren etablierte Rohstoffhändler sind, kann man den Kauf oder Verkauf von Papieren, die mit Rohstoffen unterlegt sind, untersagen. Das nähme von einer Stunde auf die andere ungeheuer viel Dynamik aus den Märkten und würde wieder erlauben, die Preisbewegungen der Rohstoffe als Indikator für reale Knappheit zu verwenden.
Hier steht ein Lackmustest an, ob die Eliten bereit sind, ihre gesellschaftsschädigenden Pfründe aufzugeben oder nicht. Dass das Spekulationsthema erst so massiv in den westlichen Industrieländern auf die Bevölkerung durchschlagen musste, bevor über Preise und staatliche Markteingriffe auf Regierungsebene überhaupt diskutiert wird, ist ein Armutszeugnis für die westliche Welt sondergleichen. Es entlarvt die Phrasen der Präsidentin der EU-Kommission von Europas weltweiter Führungsrolle mittels freiem und fairem Handel. Denn hätten nicht die seit vielen Jahren zu beobachtenden Spekulationen mit dem Grundnahrungsmittel Reis (Abbildung 4), von dem das Überleben von Millionen von Menschen abhängt, Anlass genug geboten, dem Treiben an den Finanzmärkten Einhalt zu gebieten?
Abbildung 4
Quelle: Finanzen.net
Ein Neuanfang ist unumgänglich
Grundlegend für einen Neuanfang muss die Einsicht sein, dass es vernünftigen Handel zwischen Staaten nicht ohne ein vernünftiges Währungssystem gibt. Währungsfragen dem Markt zu überlassen war der wichtigste der vielen wirtschaftspolitischen Fehler, die man nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gemacht hat. Russland war das größte und das wichtigste Land, dessen vollkommen naive politische Führung man in den 1990er Jahren in das eiskalte Wasser der internationalen Kapitalmärkte geworfen hat. Ohne die russische Währungskrise und das Versagen der Regierung Jelzin wäre Putin nicht so leicht an die Macht gekommen.
Die Währungsrelationen aller Länder müssen so gesteuert werden, dass sich kein Land gegenüber einem anderen Land absolute Vorteile erschleichen kann, was bedeutet, dass prinzipiell die realen Wechselkurse konstant sein müssen. Das bedeutet das Ende des von der EU-Kommission und von Deutschland immer wieder beschworenen Wettbewerbs der Nationen (siehe dazu das auch gerade erschienene Buch von Patrick Kaczmarczyk). Der Vertrag von Lissabon von 2007, der sich auf die Wettbewerbsfähigkeit der EU insgesamt und auf die Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedsländer kapriziert, war ein fataler Irrtum. Er hat genau zu dem Zeitpunkt, wo es noch nicht zu spät für Einsicht in die komplexen Zusammenhänge der internationalen Kooperation gewesen wäre, in die falsche Richtung gewiesen.
Das Prinzip des konstanten realen Wechselkurses muss außerhalb und innerhalb der Europäischen Währungsunion gelten. Jedem Land, das beitritt oder das assoziiert wird, muss die Garantie gegeben werden, dass der Wechselkurs seiner Währung mit Hilfe der EZB vor der Spekulation geschützt und so bewertet wird, dass die Inflationsdifferenzen gegenüber der EWU ausgeglichen sind (hier wird am Beispiel der Türkei konkret gezeigt, was das bedeutet). Lediglich für Länder mit extrem niedrigem Wohlstandsniveau ist der Einstieg in ein weltweites Währungssystem zu einem leicht unterbewerteten Kurs akzeptabel.
Ein erster Schritt der politischen Emanzipation und ein starkes Zeichen der geistigen Trennung von der herrschenden Marktlehre wäre der Austritt der Europäer aus dem Internationalen Währungsfonds. Damit könnte man den Transformations- und zugleich den Entwicklungsländern zeigen, dass man es wirklich ernst meint mit dem Neuanfang.
Ein politischer Neuanfang in ganz Europa muss auch die eigene Haltung zu China klären. Der amerikanische Hegemonialanspruch mit seiner Tendenz, China schon deswegen zum großen Gegner zu stilisieren, weil es eine wesentlich stärkere wirtschaftliche Dynamik zu erzeugen vermag als die USA, darf für Europa niemals Vorbild werden. China ist groß, es wird ökonomisch noch größer werden, und selbst wenn das Land noch viele Jahre von einer kommunistischen Partei diktatorisch regiert wird, muss man Wege finden, dauerhaft kooperativ miteinander umzugehen. Dazu gehört, die Einhaltung von Menschenrechten nicht um des Handels willen auszublenden. Dazu gehört jedoch auch, sich die Konsequenzen des westlichen Systems, die nicht zuletzt in Flüchtlingslagern auf Lesbos sichtbar werden, zurechnen zu lassen.