Frankreich hat gewählt – doch das Fanal dieser Wahl wird ignoriert

Nach der Wahl in Frankreich vom vergangenen Sonntag ging Europa rasch zur Tagesordnung über. Es ist ja noch einmal gut gegangen. Emanuele Macron wird vermutlich als Präsident wiedergewählt und Europa kann sich weitere fünf Jahre auf die politische Führung des Landes verlassen. Bravo! So lügt man sich selbst in die Tasche. Doch das ist inzwischen die normalste aller europäischen Übungen. Man verdrängt schon am nächsten Tag, was wirklich passiert ist und macht weiter wie bisher. 

Wenn jemand vor zehn Jahren vorhergesagt hätte, dass sich rechts von Marine Le Pen eine neue Bewegung bildet, die noch radikaler nationalistisch ist als der frühere Front National, wäre man vermutlich zu dem Ergebnis gekommen, das könne der Rechten nur schaden, weil es sie spaltet, und folglich würden die Chancen von Marine Le Pen, französische Präsidentin zu werden, drastisch sinken. 

Doch es kam ganz anders. Am vergangenen Sonntag holte Eric Zemmour mit seiner äußerst rechten Bewegung mit 7,1 Prozent einen größeren Anteil der Stimmen als die beiden viele Jahrzehnte in Frankreich dominierenden Parteien, die Sozialisten (1,8) und die konservativen Republikaner (4,8), zusammen. Dennoch steht Le Pen mit einem Ergebnis in der Stichwahl (23,1), das sich sehen lassen kann. Nimmt man noch Nicolas Dupont-Aignan dazu, der mit einem explizit antieuropäischen Programm auf 2,1 Prozent kam, hat die antieuropäische Rechte in Frankreich einen Anteil von, sage und schreibe, einem Drittel der Wähler erreicht. 

Für die Stichwahl ist das nicht unbedingt ausschlaggebend, aber wenn viele der Anhänger von Jean-Luc Melanchon, der auf beachtliche 21,9 Prozent kam, aus ihrer radikalen Ablehnung von Macrons Politik die Schlussfolgerung ziehen, die Stichwahl zu boykottieren, statt für den neoliberalen Amtsinhaber zu stimmen, kann es sehr schnell knapp für Macron werden.

Niemand will die Gründe wissen

In einem funktionierenden Europa würden spätestens jetzt die Alarmglocken schrillen. Wenn ein Drittel der Franzosen, die zur Wahl gegangen sind (bei etwas über 70 Prozent lag die Wahlbeteiligung), Europa explizit abwählt, muss es dafür handfeste Gründe geben. Die EU-Kommission müsste sofort eine wissenschaftliche Untersuchung der Frage in Auftrag geben, wie es sein kann, dass in einem der europäischen Herzländer die Unzufriedenheit mit Europa so gewaltig und vor allem so gewaltig zunehmend ist. Doch weit gefehlt. Jeder ahnt, was dahintersteckt, aber niemand will es wirklich wissen, weil die Wahrheit einfach zu unangenehm ist. 

Im französischen Wahlkampf dreht sich fast alles um die „Kaufkraft“ der privaten Haushalte. Die Kandidaten überbieten sich in Vorschlägen, genau das wieder rückgängig zu machen, was in den vergangenen fünf bis zehn Jahren passiert ist. Die privaten Haushalte in Frankreich haben nämlich nur sehr geringe nominale Zuwächse ihrer Einkommen verzeichnet und real haben sie nur deswegen nicht verloren, weil die Preise noch weniger gestiegen sind. Wenn man wissen will, woran das liegt, muss man nur nachlesen, was die Kommission – in ihrer grenzenlosen Naivität – in ihrem letzten ausführlichen Bericht aus dem Jahre 2017 über Frankreich – schreibt: 

„Die nominalen Lohnstückkosten haben sich deutlich verlangsamt und sind in den drei Jahren bis 2016 nur noch um 1,4 % gestiegen, was auf eine moderate Lohndynamik vor dem Hintergrund einer anhaltenden Arbeitsmarktflaute und Maßnahmen zur Senkung der Arbeitskosten zurückzuführen ist. Die Mindestlöhne sind weniger stark gestiegen als der Durchschnittslohn. Infolgedessen verbessert sich die Kostenwettbewerbsfähigkeit, auch wenn frühere Verluste noch nicht vollständig aufgeholt werden konnten. Die Kostenwettbewerbsfähigkeit dürfte sich weiterhin schrittweise verbessern, da die Lohndynamik moderat bleibt. Das Wachstum der Arbeitsproduktivität bleibt jedoch sowohl unter den langfristigen Trends als auch unter dem Durchschnitt des Eurogebiets, was eine schnellere Erholung der Kostenwettbewerbsfähigkeit verhindert.“

Das also ist das Geheimnis der französischen Malaise. Es ist der andauernde Versuch, die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen, indem man Druck auf die Löhne ausübt. Wenn die Nominallöhne schon weniger als die in der EWU angestrebte Inflationsrate steigen, ist es mit der Kaufkraft der privaten Haushalte nicht weit her. Tatsächlich sind, wie die Abbildung zeigt, die Reallöhne in Frankreich in den letzten zehn Jahren insgesamt kaum gestiegen. Wenn die Reallöhne nur deswegen nicht fallen, weil die Inflationsrate unter der Zielrate der Notenbank bleibt, ist etwas furchtbar faul in einer Währungsunion. 

Abbildung

Woher kommt der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit?

Ein Land wie Frankreich muss unter normalen Umständen keineswegs dauernd Druck auf seine Löhne ausüben. Es ist Teil eines großen Binnenmarkts, für den die Auslandsnachfrage nicht sehr wichtig ist. Warum sollte ein Land in einer großen und weitgehend geschlossenen Volkswirtschaft wie der EWU über die Verbesserung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit die Arbeitsmarktflaute zu überwinden versuchen? Das würde bedeuten, die eminent wichtige Nachfrage im Inland zu schwächen, um die weit weniger wichtige Auslandsnachfrage zu stärken. Das ist offensichtlich absurd. 

Die Kommission gibt in ihrer obigen Analyse selbst die Antwort darauf. Sie sagt, Frankreich habe „frühere Verluste noch nicht ganz aufgeholt“. Welche Verluste könnte die Kommission meinen? Nach allem, was wir wissen (vgl. dazu auch das Buch „Nur Deutschland kann den Euro retten“), war Frankreich das Land in der EWU, das von Beginn der Währungsunion an weitaus am besten seine Lohnentwicklung an die von der EZB gewünschte Inflationsrate angepasst hat, weil seine Lohnstückkosten immer vollständig im Einklang mit dem Ziel von zwei Prozent stiegen. 

Tatsächlich hat Frankreich Verluste in Sachen Wettbewerbsfähigkeit erlitten, aber das war nicht die Schuld Frankreichs, sondern allein die Schuld der berühmten „frugalen Staaten“, die, wie Deutschland und die Niederlande, den Beginn der EWU dazu ausgenutzt haben, um eine merkantilistische Politik zu treiben, die dazu führte, dass sie mit Hilfe ihres Lohndumpings anderen Ländern in der EWU internationale Marktanteile abjagten und ihre Arbeitsmarktprobleme auf dem Rücken der anderen Mitgliedsländer lösten. 

Die EU-Kommission ist feige

Die EU-Kommission hat nie einen ernsthaften Versuch unternommen, die „frugalen Länder“ für ihren eklatanten Verstoß gegen die geschriebenen und ungeschriebenen Regeln der Währungsunion zur Rechenschaft zu ziehen oder sie wenigstens an den europäischen Pranger zu stellen. Das rächt sich in solchen Wahlergebnissen, wie wir sie in Frankreich gesehen haben und wie wir sie in Italien sehen würden, wäre nicht im letzten Augenblick Mario Draghi aus dem Olymp herabgestiegen, um die Union ein zweites Mal zu retten. 

Weil die Kommission feige schweigt und auch alle anderen nationalen Regierungen nicht den Mumm haben, den deutschen Fehler klar zu benennen, kommt es unterschwellig zu einer immer weitergehenden Erosion Europas. Selbst die großen Länder wie Italien und Frankreich betreiben eine Politik des Nachholens gegenüber der falschen deutschen Politik, weil in Deutschland auch die neue Regierung beharrlich auf der unsinnigen Position besteht, man habe alles richtig gemacht und sei Vorbild für die anderen. Lohndruck für alle aber bedeutet eine Kaufkraft- und Nachfragentwicklung für die Union als Ganzes, die es nicht erlaubt, die Arbeitslosigkeit nachhaltig zu reduzieren (wie hier gezeigt). 

Zum neuerlichen Schwur in dieser Sache kommt es demnächst in Sachen Staatsschulden. Wenn es den Ländern mit hohen Leistungsbilanzüberschüssen gegen jede Logik gelingt, die europäischen Schuldenregeln zu verteidigen, ist das ein weiterer großer Schritt an den Abgrund heran. Doch die Schlafwandler à la Christian Lindner und Lars Feld sind schon unterwegs. Es ist nicht zu erwarten, dass sie ihre Dogmen auch nur eine Sekunde hinterfragen und sich auf eine ernsthafte Diskussion einlassen. 

Indem man die Ergebnisse der Wahl in Frankreich in der Hoffnung auf Macrons Wiederwahl schnell verdrängt, macht man sich mitschuldig an dem schleichenden Niedergang Europas. Wenn es nicht einmal im Westen, in der europäischen Herzkammer, wie manche das pathetisch nennen, gelingt, schonungslos und ohne politische Rücksichten zu diskutieren, was schiefläuft und warum, wie soll es dann in den Ländern gelingen, die eine schwere Transformationsaufgabe zu bewältigen haben und von vorneherein nicht verstehen, wie sie mit dem Bild vom goldenen europäischen Binnenmarkt über die wahren Verhältnisse getäuscht werden (siehe dazu den Artikel über Osteuropa und die Serie über den Ukraine-Konflikt). 

Noch ein weiteres zeigt die Wahl in Frankreich in großer Klarheit: Wer den Klimawandel bekämpfen will, aber bei der Bekämpfung der täglichen Nöte der Menschen versagt, wird auch keine effiziente Klimapolitik betreiben können. Ein Drittel der französischen Wähler hat für Kandidaten gestimmt, die nicht nur Europa ablehnen, sondern den Klimawandel als Problem weitgehend ignorieren. Eine Politik, die den Planeten schützt, ist in Deutschland und in Europa nur möglich, wenn unsere Politikergarde begreift, wie falsch und überholt der Großteil ihrer ökonomischen Dogmen ist.