Im Dezember vergangenen Jahres hatten Patrick Kaczmarczyk und ich darauf hingewiesen, dass auch 20 Jahre nach dem großen Währungsdrama in Argentinien weder das Land noch die internationale Gemeinschaft einen Weg gefunden haben, um die argentinische Wirtschaft auf einen normalen Pfad zurückzuführen. Nun hat Argentinien erneut einen Kredit in Höhe von 45 Milliarden US-Dollar vom IWF (Internationalen Währungsfonds) bekommen (hier die Pressemitteilung des IWF dazu) und, man kann es nicht anders sagen, das Drama beginnt von vorne.
Betrachtet man die Zahlen, die der IWF in seinem ausführlichen Country Report dazu liefert, ist man geneigt, zu fragen, ob diese Institution in den vergangenen fünfzig Jahren auf dieser Welt existierte oder doch vielleicht für einige Jahrzehnte ins Weltall ausgelagert war, so dass alle wichtigen Veränderungen, die selbst in der herrschenden Lehre der Wirtschaftswissenschaften passiert sind, vollkommen an ihr vorbeigegangen sind.
Argentinien: Ein hoffnungsloser Fall?
Die wirtschaftliche Lage in Argentinien lässt sich leicht in wenigen Sätzen charakterisieren. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung ist seit 2011 fast durchgängig gefallen (Abbildung 1 aus dem IWF Report, die zum Vergleich fünf andere lateinamerikanische (LA-5), fünf asiatische (ASEAN-5) und einige osteuropäische Länder (CEE-3) enthält). Das ist mehr als dramatisch, das ist katastrophal. Die offizielle Arbeitslosigkeit liegt über zehn Prozent und die selbst vom IWF ausgewiesene Armutsrate liegt bei über 40 Prozent. Die Inflationsrate bewegt sich aktuell wie schon seit einigen Jahren zwischen 40 und 50 Prozent. Der kurzfristige Zinssatz beträgt derzeit etwa 40 Prozent und der argentinische Peso hat zuletzt dennoch drastisch gegenüber den westlichen Währungen abgewertet.
Abbildung 1
Die aus dem IWF Report ebenfalls abzulesende Tatsache (Abbildung 2), dass die durchschnittlichen Reallöhne von 2018 bis zum Sommer 2021 um fast 20 Prozent gesunken sind, sagt jedoch mehr als alles andere.
Abbildung 2
Was kann man in einer solchen Situation tun? Nun, der IWF kommt in seinem bis zum Jahr 2027 angelegten Programm, dem die argentinische Regierung zugestimmt hat, zu dem Ergebnis, man müsse jetzt diszipliniert sein, die Zähne zusammenbeißen, die öffentlichen Ausgaben kürzen, um die staatlichen Defizite zu reduzieren, die Geldpolitik an einer Geldmenge ausrichten (die Monetary Base soll über den gesamten Zeitraum bei 7,5 Prozent des BIP liegen und M3 soll ebenfalls eine stabile Relation von 3% zur Base aufweisen) und schon werde man die Inflation bis 2027 halbieren und jedes Jahr positive Wachstumsraten erzielen.
Der IWF ist geistig stehen geblieben, auch wenn er einige moderne Worte benutzt
Das ist offensichtlich Unsinn. Zunächst ist es monetaristischer Unsinn, der vom IWF seit vielen Jahrzehnten praktiziert wird, obwohl diese Lehre in der westlich-nördlichen Welt seit mindestens zwei Jahrzehnten weder von den Notenbanken angewandt noch ernsthaft gelehrt wird (wie hier und in den dort verlinkten Beiträgen gezeigt). Die argentinische Notenbank kann, wie alle Notenbanken der Welt, nur den Zins steuern und dazu hätte sich der IWF explizit äußern müssen. Doch das umgeht er „elegant“, indem er so tut, als könne die Notenbank die genannten Relationen bei hoher Inflation einfach konstant halten.
Dass der Staat in einer Zeit, in der die Wirtschaft nach einer extrem langen Rezession noch nicht wieder Tritt gefasst hat (und angesichts der ökonomischen Grundbedingungen auch nicht Tritt fassen wird), seine Ausgaben herunterfährt, ist klassische Austerität und verschärft damit von vorneherein die Lage. Wie veraltet der IWF in intellektueller Hinsicht ist, zeigt sich auch daran, dass er offensichtlich von den Finanzierungssalden der Sektoren noch nichts gehört hat und folglich auch nicht in der Lage ist, den staatlichen Saldo dort einzuordnen und dementsprechend Schlussfolgerungen für die Finanzpolitik zu ziehen. Weil nicht zu erwarten ist, dass es in Argentinien in Kürze zu einer Belebung der privaten Investitionen kommt, ist jeder Versuch des Staates, seine Defizite unabhängig vom Rest der Wirtschaft herunterzufahren, zum Scheitern verurteilt.
Mehr als erstaunlich ist jedoch, dass man an Belegen, die sich in dem Report selbst finden, zeigen kann, warum die IWF-Lösung vollkommen aus der Welt ist. Denn der IWF identifiziert selbst als die entscheidenden Treiber (drivers) der hohen Inflation die Löhne und den Wechselkurs, resp. die Abwertungsphasen der argentinischen Währung. (Abbildung 3, wobei die Abwertung auf der rechten Skala aufgetragen ist und positive Prozentzahlen eine Abwertung anzeigen, auch wenn die Abwertung, wie zuletzt, geringer ausfällt).
Abbildung 3
Jeder verständige Beobachter hätte bei diesem Bild sofort gesagt, klar, Argentinien hat, wie so viele Länder vor ihm, offensichtlich eine Lohnindexierung, die sich an den Inflationsraten der Vergangenheit ausrichtet (die sogenannte backward-looking indexation, die mit der italienischen „scala mobile“ der siebziger und achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts berühmt geworden ist). Und in der Tat, der Fonds stellt in seinem Report fest, dass es solch eine Indexierung in Argentinien gibt.
Jeder Beobachter, der ein wenig über die Geschichte der scala mobile weiß, hätte den Mitarbeitern des Fonds sofort sagen können, das es vollkommen sinnlos ist, diese Indexierung immer wieder mit restriktiver Geld- und Finanzpolitik zu bekämpfen, sondern dass man das tun muss, was Italien in den achtziger Jahren getan hat, nämlich die eigenen Gewerkschaften davon zu überzeugen, dass ein solches System kontraproduktiv ist und vor allem den Arbeitern systematisch schadet, weil es immer wieder zu neuen Schüben an Arbeitslosigkeit führt. Die Indexierung in Argentinien hat ja nicht einmal den gewaltigen Einbruch der Reallöhne verhindert.
Doch wer soll so etwas heute im IWF schon wissen? Offensichtlich nicht einmal der italienische Exekutivdirektor, der wie alle anderen (auch der deutsche) zugestimmt hat. Mario Draghi (der unter Carlo Ciampi, dem tapferen Kämpfer gegen die scala mobile, gearbeitet hat) hätte es bestimmt gewusst, aber der ist sicher nicht damit befasst worden.
Die Mitarbeiter des IWF erwähnen bei der Würdigung der Literatur von vergangenen Disinflationsphasen sogar Israel, wo man mit Einkommenspolitik erfolgreich gewesen sei. Diese Einsicht zu dem Kernpunkt ihrer Empfehlungen zu machen, kommt ihnen aber nicht in den Sinn. „Incomes Policy“ wird zwar erwähnt, aber in einer Fussnote nur als „complementary“ bei der Inflationsbekämpfung bezeichnet, weil die Erfahrungen damit „mixed“ seien und sie von einem guten makroökonomischen Konzept begleitet werden müsse. Das ist genau falsch herum: Einen guten makroökonomischen Plan kann es nur geben, wenn man als absolut notwendige Bedingung die Indexierung beseitigt und konsequent Einkommenspolitik betreibt.
Was kann Argentinien tun?
Argentinien muss, um sich aus der Inflationsfalle zu befreien, zuallererst die Lohnindexierung beenden. Das geht aber nur in einem Deal mit den Gewerkschaften, bei dem sich die Regierung explizit verpflichtet, alles, was ihr möglich ist, für eine Stabilisierung der Reallöhne und besonders der Reallöhne der unteren Lohngruppen zu tun. Um dabei erfolgreich zu sein, muss die Regierung den Arbeitgebern klarmachen, dass die Zeit der hohen Inflationsraten vorbei ist und die Lohnverhandlungen mit den Gewerkschaften (bei strenger Kontrolle durch die Regierung) auf einer neuen Basis stattfinden, nämlich der gegenseitigen Respektierung des von der Regierung (plus Notenbank) verkündeten moderaten Inflationsziels.
Argentinien kann der Inflation nur entkommen und zugleich seine Wirtschaftsentwicklung und seinen Beschäftigungsstand normalisieren, wenn allen Beteiligten klar ist, dass staatlich orchestrierte Einkommenspolitik unumgänglich ist. Was letztlich heißt, den Arbeitnehmern die volle und systematische Beteiligung am Produktivitätsfortschritt zu garantieren. Das kann der IWF aber niemals empfehlen, weil er damit ja gegen das heiligste Gesetz der Neoklassik, den flexiblen Lohn, verstoßen würde (vgl. dazu dieses Papier).
Nur bei einer vom Staat abgesicherten Einkommens- und Inflationsentwicklung kann die Zentralbank den Zins so setzen, dass die Investitionstätigkeit angeregt wird. Der Zins könnte sofort von seinem hohen Niveau auf eine Rate abgesenkt werden, die unter der erwarteten nominalen Wachstumsrate liegt, also eindeutig im einstelligen Bereich.
Abgesichert werden müsste der argentinische Deal, und hier liegt die eigentliche Aufgabe einer Institution wie des IWF, durch ein außenwirtschaftliches Regime, bei dem die internationale Gemeinschaft dem Land, wie hier am Beispiel der Türkei beschrieben, hilft, seinen Wechselkurs gegen spekulative Angriffe zu verteidigen und seinen realen Wechselkurs zu stabilisieren.
Eine Lösung in Argentinien wie anderswo kann man jedoch nur ohne den uralten IWF finden: Solange man vom Geld der Washingtoner Bürokratie abhängig ist, die von westlichen Diplomaten kontrolliert wird, die sich niemals gegen die herrschende orthodoxe Lehre in der Ökonomik stellen würden, gibt es einfach keinen Ausweg. Man kann schon jetzt vorhersagen, dass Argentinien weitere schwere Jahre vor sich hat. Die Abwertung seiner Währung mag für eine Belebung der Exporte und damit für eine gewisse Entlastung sorgen, von einem Konzept, das es erlaubt, der Masse der Bevölkerung eine positive Perspektive zu bieten und die Armut zu verringern, ist das Land meilenweit entfernt.