Wer grundsätzliche Fehler macht, muss sich nicht wundern, dass er grundsätzliche Irritationen auslöst. Gerade hat die EZB entschieden, dass sie, um die »Inflation« zu bekämpfen, die Käufe von Staatsanleihen einstellen und die Zinsen erhöhen will, schon wird sie von der Wirklichkeit überholt. Am Mittwoch wurde der Rat der EZB zu einer Krisensitzung einberufen, um die Lage an den Märkten für Staatsanleihen zu diskutieren, weil dort die »Spreads«, das sind die Abstände zwischen den deutschen Anleihen und denen anderer Länder, deutlich zunehmen.
Klar, wenn die Zinsen in der Euro-Zone steigen, wo die Konjunktur in Richtung Rezession am Kippen ist, fragt sich mancher Marktteilnehmer, was das wohl für den italienischen oder spanischen Staat und seine Staatsfinanzen bedeutet. Länder, die anders als Deutschland und die Niederlande, keine außenwirtschaftlichen Überschüsse aufweisen, müssen nämlich per Staat die Wirtschaft anregen, weil diese Aufgabe die privaten Unternehmen schon lange trotz Nullzinsen nirgendwo mehr übernehmen.
Geht die Konjunktur in die Knie, werden die Zinsen angehoben und drohen die Finanzminister der Überschussländer – allen voran Christian Lindner – noch damit, dass zusätzliches Schuldenmachen für Staaten in den nächsten Jahren streng verboten ist, dann kann man sich vorstellen, in welche Bredouille die Defizitländer geraten können. Dass man in dieser Lage nicht auf sinkende Kurse der Staatsanleihen der betroffenen Länder setzt, kann man niemandem verübeln.
Das Übel sind folglich vorrangig nicht die Märkte, sondern Brüssel und Berlin. Weil in Berlin niemand begreifen und zugeben will, dass die Euro-Krise keineswegs vorbei ist, sondern in Form der deutschen (und niederländischen) Leistungsbilanzüberschüsse, die seit Jahren gegen EU-Regeln verstoßen, weiterbesteht, tritt man in jeden Fettnapf, der in der Gegend herumsteht. Den größten Fehltritt machte sicher der neue Präsident der Deutschen Bundesbank, Joachim Nagel, der Druck auf die EZB ausübte. Den zweiten legte Lindner hin, mit einem platten Bekenntnis zur Schuldenquote in der Euro-Zone.
Weil keine Inflationsgefahr in Europa besteht, war die Entscheidung der EZB aus der vergangenen Woche grundlegend falsch. Europa ist unendlich weit von einer Lohn-Preis-Spirale entfernt, die der einzige nachvollziehbare Grund für die EZB wäre, die Ausrichtung der Geldpolitik grundlegend zu ändern. Gerade hat die die IG Metall für die gesamte Metallbranche eine Forderung von sieben Prozent für zwei Jahre vorgelegt, was auf einen Abschluss ganz in der Nähe von drei Prozent hinausläuft. Auch der vorausschauende Lohnindikator der EZB (forward looking wage tracker) deutet, wie im vorherigen Beitrag gezeigt, keinerlei Inflationsbeschleunigung an. Das straft alle Inflationswarner Lügen. Ohne steigende Löhne ist jeder Versuch der Notenbank, mit steigenden Zinsen die Konjunktur abzuwürgen, um auf diese Weise für weniger steigende Löhne und Preise zu sorgen, von vornherein idiotisch.
Dieser Kommentar von mir erschien mit kleinen Modifikationen in der „Jungen Welt“. Ich möchte hier noch eine kurze Anmerkung zur inzwischen erschienenen Erklärung der EZB nach der Krisensitzung machen:
In ihrer Pressemitteilung sagt die EZB, sie wolle sich in flexibler Weise dafür einsetzen, dass die europäischen Finanzmärkte nicht fragmentiert werden, was heißen soll, sie will verhindern, dass sich die Spreads weiter vergrößern. Das ist im Prinzip das richtige Ziel, aber eine vollkommen ungeeignete Vorgehensweise. Der EZB wird allerdings, das muss man einräumen, ein sinnvolles Vorgehen durch die Maastricht-Verträge erheblich erschwert. Die meisten deutschen Medienvertreter, wie etwa Gerald Braunberger gestern in der FAZ, reiben sich schon schadenfroh die Hände, weil sie hoffen, dass sich die EZB in eine Richtung manövriert, wo man ihr die verbotene Staatsfinanzierung nachweisen kann.
Um Spreads von vornherein zu verhindern, könnte die EZB den Märkten schlicht ankündigen, dass sie von nun an keine Spreads innerhalb der EWU mehr zulassen wird. Das wäre absolut konsequent, weil die EZB selbst argumentiert, dass die Märkte spekulativ überschießen und folglich falsche Preise produzieren. Die EZB müsste bei einer klaren Absichtsbekundung nur wenig intervenieren, weil die Märkte ihr ohne Zweifel glauben, wenn sie ihre Bereitschaft zu tun, „whatever it takes“, einige Male in überzeugender Weise vorgeführt hat. Allerdings bräuchte die EZB für einen solchen Kurs eine eindeutige politische Unterstützung, die es bisher nicht gibt. Gerade die Ankündigung einer Zinserhöhung zu diesem Zeitpunkt hat jedem aufmerksamen Marktteilnehmer deutlich gemacht, dass die EZB sich gegen besseres Wissen dem politischen Druck aus Deutschland beugt.
Die Intervention bei den langfristigen Zinsen mit Bedingungen („Konditionalität“) für die Länder mit hohen Zinsen zu verknüpfen, wie es im sogenannten OMT-Programm vorgesehen war und auch jetzt wieder erwogen wird, ist in jedem Fall ein Schritt in die völlig falsche Richtung. Das bedeutet ja nichts anderes als eine Wiederholung der gescheiterten Politik, mit der die Eurokrise 2011/2012 bekämpft werden sollte. Angesichts des unbestreitbaren Zusammenhangs zwischen Leistungsbilanzsalden und Staatsdefiziten müsste eine sachorientierte Krisenpolitik der EZB auch die Länder unter ihre „Kontrolle“ nehmen, die niedrige Zinsen aufweisen.
Deutschland, die Niederlande und auch Österreich haben nur deswegen niedrige Zinsen auf Staatsanleihen, weil sie sich mit – nach den Verträgen unerlaubten – Leistungsbilanzüberschüssen dem Druck, mit Staatsdefiziten die Wirtschaft anregen zu müssen, entzogen haben. Die EZB müsste mit ihrer Konditionalität explizit die Aufgaben übernehmen, an denen die EU-Kommission seit Jahren scheitert. Es bleibt dabei: Wenn sich die Länder der EWU nicht auf ein einheitliches und realistisches Bild der Funktionsweise des Währungssystems, das sie vor zwanzig Jahren unter dem Eindruck eines falschen Bildes geschaffen haben, einigen können, hat der Euro keine Zukunft.