Italien hat vergangenen Sonntag in einer Art und Weise gewählt, die alle diejenigen tief erschrecken müsste, die noch einen Hauch von Verantwortung für Europa in sich spüren. Aber nichts dergleichen kann man in der deutschen Politik oder der Öffentlichkeit beobachten. Man sieht lediglich die eigenen Vorurteile bestätigt und mahnt die italienische Politik reflexartig, endlich auf den von Deutschland schon lange vorgezeichneten Pfad der Tugend einzuschwenken. Dass dieser Wahl in Italien ein langer Prozess von Enttäuschung und Frustration über das Verhalten der wichtigsten europäischen Nachbarn vorausgegangen ist, wird einfach ausgeblendet.
Italien, das glaubt in Deutschland jeder zu wissen, der schon einmal die Alpen überschritten hat, ist ein schönes Land mit verrotteten Institutionen, beherrscht von der Mafia, durchdrungen von Korruption und ausgestattet mit einem politischen System, bei dem die Verweildauer von Regierung in Monaten und nicht in Jahren gemessen wird. Wirtschaftlich, so geht die Geschichte weiter, ist das Land lange auf dem absteigenden Ast, weil es zu wenig spart und investiert und deswegen an Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den erfolgreichen nördlichen Ländern verloren hat. Der Euro, so die immer wieder gern erzählte Schauergeschichte, ist zu stark für die Italiener und zu schwach für die Deutschen, aber Italien liebt die europäische Union, weil sie dem Land immer wieder – nach Corona ganz besonders – unter die Arme greift und ihm damit aus der selbst verschuldeten Patsche hilft.
Das Schöne an solchen Geschichten ist, dass sie nicht nur das eigene Ego befriedigen, sondern auch die eigene Rolle nur im besten Licht erscheinen lassen. Dass es negative Rückwirkungen des eigenen Tuns auf die Nachbarn geben könnte, kann man getrost ausschließen, wenn von vorneherein feststeht, dass der Nachbar einfach unfähig ist, seine eigenen Verhältnisse in angemessener Weise in Ordnung zu bringen.
Schlechte Investitionsbedingungen in Italien: Kein Produkt Italiens
Friederike Spiecker und ich haben (zusammen mit Constantin Heidegger) im neuen Atlas der Weltwirtschaft, der Anfang November beim Westend-Verlag erscheint, gezeigt, dass es, weitgehend ohne das Zutun einzelner kleiner Länder und ihrer Regierungen, schon zu Beginn der 1980er Jahre eine fundamentale Verschlechterung der Investitionsbedingungen in der westlichen Welt gegeben hat.
In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis weit in die siebziger Jahre hinein lag der von den Notenbanken gesetzte Zins und die langfristigen Zinsen in den meisten Industrieländern deutlich unter der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate (hier geht es um den langfristigen Zins, der wie die Wachstumsrate nominal angegeben wird). Das bedeutet nichts anderes, als dass die gesamtwirtschaftliche Rendite (die man mit dem BIP-Wachstum annähern kann) im Durchschnitt über der Rendite von reinen Finanzinvestitionen lag.
Das änderte sich paradoxerweise mit der neoliberalen Zeitenwende, die von Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Helmut Kohl auf den Weg gebracht wurde. Mit dieser Wende, die eigentlich darauf ausgerichtet war, die Investitionsbedingungen durch „marktwirtschaftliche Reformen“ zu verbessern, wurde eine durchgreifende Wende zum Schlechteren in die Wege geleitet, der sich kleine Länder wie Italien nicht entziehen konnten.
Für Italien war diese Wende besonders drastisch, wie die Abbildung 1 zeigt. Wies das Land zur Zeit des Bretton Woods-Regimes nominale und reale Wachstumsraten auf, die sogar diejenigen der Wirtschaftswunderlands Deutschland in den Schatten stellten, ging es danach systematisch bergab. Niemals mehr nach dem Beginn der 1980er Jahre wies Italien Investitionsbedingungen auf, die denen der Zeit des Bretton Woods Regimes vergleichbar waren. Im Gegenteil: Fast durchweg waren die Investitionsbedingungen schlecht.
Man kann solche schlechten Investitionsbedingungen nur überwinden, das zeigen gerade die USA, indem man expansive Fiskalpolitik betreibt oder indem man, wie Deutschland es vormacht, den Nachbarn tief in die Tasche greift, indem man sich in einer Währungsunion sehr hohe Leistungsbilanzüberschüsse erschleicht. Der erste Weg ist Italien wegen der europäischen Schuldenregeln verschlossen, die Deutschland nach wie vor verteidigt, und den zweiten Weg hat Deutschland mit seinem eigenen Merkantilismus seit langem blockiert.
Abbildung 1
Woher kommen die hohen staatlichen Schulden Italiens?
Um die italienische Staatschuld wirklich beurteilen zu können, muss man ziemlich weit in der Geschichte zurückschauen. Denn das Erste, was man zur Kenntnis nehmen muss, ist die Tatsache, dass die hohen Schulden des italienischen Staates kein Ergebnis der letzten zwanzig Jahre sind, sondern schon lange vorher entstanden. Die Gründe dafür liegen auf der Hand.
Die Abbildung 2 zeigt den Verlauf der Staatsschuldenquote (in Relation zum BIP) ab 1980 für Italien, Frankreich, Deutschland und die EWU insgesamt.
Abbildung 2
Erstaunlicherweise ist fast alles das, was heute zum italienischen Problem schlechthin deklariert wird, in den 80er Jahren entstanden. Die Staatsschuldenquote ist von einem Niveau im Jahr 1980 von etwa 55 Prozent bis 1995 auf 120 Prozent gestiegen. Danach konnte Italien die Schuldenquote deutlich zurückführen bis es, nicht anders als die meisten anderen europäischen Länder, nach der globalen Finanzkrise wieder per staatlicher Ausgabenpolitik die Wirtschaft stabilisieren musste. Nur Deutschland, das via Leistungsbilanzüberschüsse die für sein Wachstum notwendige Verschuldung ins Ausland verlagerte, konnte seine Staatsverschuldung zurückfahren.
Um die italienische Schuld zu ergründen, muss man folglich in den 1980er Jahren auf die Suche gehen. Und siehe da, die dramatische Erhöhung des staatlichen Schuldenstandes ist die unmittelbare Folge eines – gerade in deutschen Augen – äußerst tugendhaften Verhaltens der Masse der Italiener, nämlich ihrer Sparneigung.
Die Abbildung 3 zeigt die Finanzierungssalden der einzelnen Sektoren der italienischen Volkswirtschaft von 1980 bis zum Jahr 2000. Das Ergebnis ist verblüffend. In den 1980er Jahren sparten die privaten Haushalte in Italien in der Größenordnung von bis zu über 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das bedeutet eine Sparquote von zum Teil mehr als 30 Prozent am verfügbaren Einkommen dieser Haushalte (das naturgemäß etwas mehr als halb so groß ist wie das BIP, weil die Gewinne der Unternehmen noch dazukommen).
Abbildung 3
Dieser „Sparwahn“ der italienischen Privathaushalte war es, der den „Schuldenwahn“ des Staates geschaffen hat. Nach der Rezession vom Anfang der 1980er Jahre blieb dem Staat nichts übrig, als die Wirtschaft mit eigener Verschuldung am Laufen zu halten. Und das gilt, obwohl in den achtziger Jahren die italienischen Unternehmen noch eine konstruktive Rolle spielten, weil sie durchgängig den Staat in der Schuldnerrolle unterstützten. Auf diese Weise gelang es trotz des enormen Sparens der Haushalte, einigermaßen vernünftige Wachstumsraten zu erzielen. Erst zum Ende des Jahrzehnts, als Italien in ein Leistungsbilanzdefizit geriet (grüne Kurve über null), kam es erneut zu einer Rezession.
Danach änderte sich in Italien alles fundamental. Italien wurde ein normales Land mit einer normalen Sparquote der privaten Haushalte (Abbildung 4, wiederum aus dem neuen Atlas). Allerdings stieg – auch ausgelöst von der deutschen Lohndumpingpolitik – das Leistungsbilanzdefizit in den ersten zehn Jahren des Jahrhunderts kontinuierlich an, was es, zusammen mit immer stärker sparenden Unternehmen, dem Staat – trotz geringer Sparquote der privaten Haushalte – unmöglich machte, seine Defizite deutlich zu verringern. Gleichwohl erzielte Italien in allen Jahren seit Beginn der Währungsunion einen Primärüberschuss, also einen Überschuss der staatlichen Einnahmen über die Ausgaben, wenn man die Zinszahlungen herausrechnet.
Abbildung 4
Nach der globalen Finanzkrise weist Italien zwar einen Leistungsbilanzüberschuss auf, doch der ist eindeutig der gesamtwirtschaftlichen Schwäche und einer darauffolgenden Importschwäche zuzuschreiben und nicht steigenden Exporten wie im Falle Deutschlands. Bemerkenswert ist auch, dass die privaten Haushalte in Italien von 2010 bis 2012 praktisch keine Ersparnisse mehr bildeten und der Staat trotzdem sein Defizit nicht verringern konnte, weil damals die Leistungsbilanz tief im Defizit war und die Unternehmen sich in einer Nettobetrachtung nicht mehr verschuldeten. Zuletzt hat die Nettoersparnis der Unternehmen mit über drei Prozent des BIP ein enormes Ausmaß erreicht, während die privaten Haushalte vor der Coronakrise nur noch wenig sparten.
Vergleicht man Italien mit Frankreich, zeigt sich, wie gewaltig die Aufgabe des italienischen Staates in den 1980er Jahren gewesen ist. Frankreich hatte in den 1980er Jahren damit zu kämpfen, dass es ein hohes Leistungsbilanzdefizit aufwies, die Ersparnis der privaten Haushalte war allerdings damals und im Übergang zu den neunziger Jahren sehr moderat. Aber auch hier gilt: Nur weil der Staat permanent die wirtschaftliche Entwicklung kontrollierte und mit eigener Nachfrage einsprang, wenn die private Wirtschaft ausfiel, konnte es gelingen, eine halbwegs vernünftige Wachstumsentwicklung hinzubekommen.
Abbildung 5
Zinsen und Ersparnisse
Die Gründe für die extreme Sparneigung der italienischen Privathaushalte in den 1980er Jahren sind sicher vielfältig. Es spricht aber einiges dafür, dass sie mit der sehr hohen Verzinsung zusammenhing, die zu Beginn der achtziger Jahre auf der gesamten Welt im Zuge der Bekämpfung der Inflation nach der zweiten Ölpreisexplosion üblich würde. Wie die Abbildung 1 zeigt, konnte man zu Beginn der 1980er Jahre mit zehnjährigen italienischen Staatsanleihen eine Rendite von 20 Prozent erzielen.
Da man sich unschwer ausrechnen konnte, dass auch in Italien im Zuge der restriktiven Geldpolitik und der damit verbundenen hohen Zinsen die Inflationsrate fallen würde, war damals auch mit einer sehr hohen Realverzinsung zu rechnen. Die Folge war eine unglaublich hohe Ersparnisbildung der privaten Haushalte, der nur mit hoher staatlicher Verschuldung begegnet werden konnte. Mit der Normalisierung der Zinsen spätestens seit dem Eintritt Italiens in die Europäische Währungsunion hat sich auch die Sparneigung der privaten Haushalte normalisiert.
Alles in allem bedeutet das für die Wirtschafts- und Finanzpolitik in Italien eine vollständige Exkulpation. Nichts außer einem weltweit zu beobachtenden Tatbestand in Form hoher Zinsen zu Beginn der 1980er Jahre des vorigen Jahrhunderts und einer vollkommen rationalen Reaktion der italienischen Privathaushalte darauf ist für die hohe italienische Staatsschuld verantwortlich zu machen. Es ist höchste Zeit, dass ganz Europa sich in verantwortungsvoller Weise mit unserem südlichen Nachbarland und dessen Wirtschaftsgeschichte befasst, statt auf seinen Vorurteilen zu beharren.
Eine deutsche Führungsrolle in Europa?
Europa wankt und Deutschland muss sich ändern. Die Wahl in Italien folgt dem gleichen Muster wie die Präsidentschafts- und die Parlamentswahlen in Frankreich, die im Frühjahr und Sommer dieses Jahres nationalistischen und potenziell faschistischen Parteien enorme Erfolge gebracht hatten. Das muss Konsequenzen haben. Denjenigen, die auch jetzt noch von einer deutschen Führungsrolle faseln und gleichzeitig die anderen Länder über den Tisch ziehen, muss das Handwerk gelegt werden.
Verweigern, ignorieren und leugnen der europäischen Spaltung ist inzwischen zwar zur zweiten Natur fast aller deutscher Politiker geworden, doch worauf will man mit dieser Taktik heute noch hinaus? Offensichtlich ist es den Menschen in den europäischen Nachbarländern trotz des deutschen Leugnens nicht verborgen geblieben, wie schamlos sich Deutschland mit Hilfe der Währungsunion in eine „Führungsrolle“ hineingemogelt hat.
Man muss sich nur das Statement des Vorsitzenden des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union, Anton Hofreiter, bei der gerade abgehaltenen FAZ-Kongress mit dem hochtrabenden Titel „European Economic Conference“ anschauen (insbesondere ab Minute 40). Das trieft nur so von der „Bereitschaft Deutschlands“ in Europa endlich die Führungsrolle zu übernehmen, die alle europäischen Länder, die Herr Hofreiter jemals besucht hat, geradezu von ihm eingefordert haben.
Kein Wort von Hofreiter über die ständige Verletzung der Verträge durch Deutschland, kein Wort zur Weigerung Deutschlands, die Schuldengrenze in Europa so anzupassen, dass die Nachbarländer nicht gezwungen werden, Rezessionen herbeizusparen, und auch kein Wort zu den unsäglichen Kampagnen, die von der deutschen Presse im Gleichschritt mit der Politik jedes Mal gefahren werden, wenn sich ein Politiker im Ausland, wie die zukünftige italienische Ministerpräsidentin, einmal erdreistet, Deutschland zu kritisieren. Nur vor Ignoranz triefende „Überlegenheit“ im „stärksten Land Europas“, das selbst niemals einen Fehler macht, sondern in Wirklichkeit viel zu zurückhaltend ist.
Dass die Europäische Kommission versagt, mag man schon nicht mehr schreiben, weil es einfach zu offensichtlich und banal ist. Eine italienische Ministerpräsidentin, die es ernst meint mit der Erneuerung Europas muss Allianzen bilden, um der deutschen Dominanz Paroli bieten und der Europäischen Kommission ganz fest auf die Füße treten zu können. Die eigene Geschichte aufzuarbeiten und in Europa offensiv zu vertreten, ist der erste Schritt in diese Richtung.