Vorbemerkung
Der beiliegende Artikel von Friederike Spiecker und mir ist am 20. Januar im „Freitag“ erschienen. Hintergrund ist der von vielen Seiten vorangetriebene Versuch, eine neue Art der Globalisierung zu proklamieren, bei der sich der Westen/Norden weniger abhängig vom Süden und Osten macht und die Handelspartner in Kategorien wie den „Wertepartner“ oder das autoritäre Regime einordnet.
Die große Mehrheit der Ökonomen in Deutschland und Europa, die bis vor Kurzem Globalisierung und Freihandel als unverbrüchliche Einheit gesehen haben, schweigt zu diesem Versuch. Jahrzehntelanges Predigen zum universalen Nutzen des Freihandels ist offenbar mit einem Schlag vom Tisch.
Stattdessen wird der Bonner Ökonom Moritz Schularick, der gerade einen Ruf als Direktor an das Kieler Institut für Weltwirtschaft erhalten hat, durch verschiedene Leitmedien der Republik gereicht. Schularick zeigt sich offen gegenüber Kompromissen beim Freihandel, weil die „Interdependenz […] eben auch Konfliktpotenzial und Verletzbarkeiten [birgt]“ (so im Spiegel vom 7. 1. 2023). Er glaubt, dass „[d]ie Regierenden … zunehmend bereit sein [werden], Sand in das Getriebe der globalen Arbeitsteilung zu streuen, und zwar dort, wo das freie Walten der Marktkräfte zu übermäßigen Abhängigkeiten führen würde oder bereits geführt hat – wie im Fall China.“
Das ist eine Diagnose, bei der die Freihändler geschlossen auf die Barrikaden gehen müssten, vorneweg das Kieler Institut, das in den vergangenen sieben Jahrzehnten mit ungeheurem ideologischem Impetus die Doktrin des wechselseitigen Nutzens von Freihandel verteidigt hat. Und die Freihändler könnten sogar punkten. Denn wer soll in der neuen Welt des „Interdependenz-Managements“, wie es Schularick nennt, entscheiden, ob bei einem bestimmten Produkt die Abhängigkeit „übermäßig“ ist?
Für einen solchen selektiven Handel wird man auf der Welt kaum Partner finden und Kompromisse zu schließen wird eine Herkulesaufgabe. Die bisher schon allzu häufig unter die Räder gekommenen Entwicklungsländer werden es sich dreimal überlegen, ob sie sich auf einen Handel einlassen, der nicht mehr nach den halbwegs transparenten Regeln der WTO, sondern nach undurchsichtigen und rein politischen Überlegungen von den Regierungen der Industrieländer gesteuert wird.
Doch die Missverständnisse reichen noch tiefer. Es war nicht die Globalisierung als solche, die „Konfliktpotenzial und Verletzbarkeit“ mit sich gebracht hat, sondern die Art und Weise, wie die Globalisierung von den entwickelten Ländern den sich entwickelnden Ländern übergestülpt wurde. Basierend auf vollkommen realitätsfremden Modellen hat der Westen/Norden Güter- und Kapitalverkehrsfreiheit ausgerufen und jeden massiv politisch unter Druck gesetzt, der sich diesem Dogma nicht beugen wollte. Mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank wurden Länder, die Hilfe brauchten, systematisch auch gegen den Willen ihrer Regierungen auf Neoliberalismus getrimmt.
Das Tollste ist jedoch, dass der Neoliberalismus nicht einmal so konzipiert war, dass er hätte funktionieren können. Das Maß an Währungsstabilität, das unabdingbar für einen funktionierenden Freihandel ist, hat es nie gegeben. Die Kapitalmärkte sind das Gegenteil von effizient. Sie haben verrückt gespielt und jedes Land mit massiven Spekulationen überzogen, das unter den Bedingungen offener Märkte versuchte, eine gewisse monetäre Autonomie zu gewinnen.
Obendrein schaffen es einige Industrieländer, selbst gegen die Dogmen des Neoliberalismus eklatant zu verstoßen. Deutschland etwa und die Niederlande predigen den Freihandel, praktizieren mit ihren Leistungsbilanzüberschüssen jedoch gleichzeitig Merkantilismus in Reinform. Deutschland hat seinen Merkantilismus sogar zu einer Art Staatsreligion erhoben: Weder die großen Medien noch die Wissenschaft setzen sich kritisch mit der Tatsache auseinander, dass einige Länder die Europäische Währungsunion ausgenutzt haben, um sich dauerhafte Vorteile zu verschaffen, deren Existenz eindeutig den gemeinsam beschlossenen europäischen Regeln widerspricht. Kommt einmal Kritik im Ausland daran auf, steht der deutsche Medien-Wissenschaft-Komplex sofort bereit, diesen glatten Verstoß gegen die Regeln des Freihandels auch ohne ernstzunehmende Argumente mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
Globalisierung à la carte?
Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker (Freitag, 20. Januar)
Die Globalisierung ist ins Gerede gekommen. Man wolle nicht mehr so abhängig sein, sagen viele. Man könne in Zukunft nicht ohne weiteres auf die Effizienzgewinne der Globalisierung bauen, sagen andere. Man müsse alle wichtigen Produkte auch zu Hause herstellen können, glauben die meisten. Nur bei den Rohstoffen, die man selbst nicht hat, wolle man weiter die Märkte unbedingt offenhalten.
Globalisierung sozusagen à la carte ist das, was sich die Menschen und die Politiker in den Industrieländern wünschen. Nach der totalen Globalisierung, die der globale Norden dem globalen Süden in den 90er Jahren angeboten hatte, nun also die selektive Globalisierung, bei der jeder darauf achtet, nicht abhängig zu werden.
Man fragt sich, nach welchen Regeln die Selektion erfolgen soll. Totale Offenheit, das Prinzip der freien Märkte, war einfach. Selektive Offenheit dagegen ist kompliziert und es existiert keine Institution, die bereit und in der Lage wäre, die Verhandlungen zu einer solchen Globalisierung zu moderieren. Hinzu kommt die einfache Frage, wer die Partner bei der selektiven Globalisierung sein sollen. Die Entwicklungsländer haben erlebt, dass schon die freien Märkte keineswegs so segensreich für sie waren, wie ihnen von allen Seiten versprochen worden war.
Nehmen wir ein aktuelles Beispiel. Der brasilianische Präsident Lula da Silva hat in seinen beiden ersten Amtszeiten (2003-2011) erfahren müssen, dass ihm die Offenheit der Märkte, die der Norden erwartete, massiv auf die Füße gefallen ist. Bei offenen Kapitalmärkten wurde die brasilianische Währung zum Spielball von Spekulanten und wertete über einen Zeitraum von zehn Jahren so stark auf, dass die brasilianische Industrie im internationalen Standortwettbewerb enorm an Boden verlor. Leistungsbilanzdefizite und Arbeitslosigkeit waren die Folge. Die anschließenden Abwertungswellen kamen zu spät, um Brasilien über den internationalen Handel wieder hinreichend positive Impulse zu vermitteln. Stattdessen kämpfte Brasilien mit hohen Preissteigerungsraten. Dieser Cocktail an katastrophalen makroökonomischen Rahmenbedingungen bereitete schließlich der rechten Regierung unter Bolsonaro den Boden.
Von einem „Währungskrieg“ sprach die zweite Regierung unter Lula da Silva damals. Hätte der deutsche Bundespräsident bei seinem Besuch in Brasilia vor einigen Wochen Lula die Bereitschaft der Bundesregierung mitgebracht, sich im Rahmen der G7 und in Europa für ein monetäres Rahmenwerk einzusetzen, bei dem Spekulation mit Währungen keine Chance mehr hat, der warme Händedruck zur Gratulation für die dritte Amtszeit wäre von einer substanziellen Hilfe begleitet gewesen.
Doch daran ist gar nicht zu denken. Deutschland und Europa sind stolz auf ihre Währungsunion und den Binnenmarkt, verschwenden aber keinen Gedanken an eine vernünftige globale Ordnung der Finanzwelt. Die USA und Großbritannien sind strikt gegen jede Änderung, weil die Wall Street und die Londoner City mit der Spekulation gut verdienen. Hinzu kommt, dass der Internationale Währungsfonds (IWF) im Auftrag der USA und Europas den Entwicklungsländern aller Kontinente Neoliberalismus verordnet hat, sobald ein Land in Schwierigkeiten geriet. Lateinamerikaner und Afrikaner können viele Lieder davon singen, wie die IWF-Rezepturen regelmäßig scheiterten und zu den größten politischen Verwerfungen führten, die man sich nur vorstellen kann.
Freier Handel war eine Mogelpackung
Folglich ist schon der „freie“ Handel mit offenen, zu Spekulation einladenden Finanzmärkten im Rahmen des IWF-Regimes eine Mogelpackung für die Entwicklungsländer. Wer kann da erwarten, auch nur einen Jota Bereitschaft im Rest der Welt zu finden, sich auf selektiven Warenhandel unter den Bedingungen freier Kapitalmärkte einzulassen, bei dem ausgerechnet die Rohstoffe von Selektion ausgenommen sind?
So einfach wird die Globalisierung á la carte nicht zu haben sein. Gerade Deutschland mit seinem enorm großen Exportsektor und seinen ungerechtfertigten riesigen Leistungsbilanzüberschüssen ist der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen. Niemand hat mehr zu verlieren, wenn das fragile globale System kollabiert. Wer Änderungen will, muss konstruktive Vorschläge machen, die den Entwicklungsländern weit entgegenkommen, und darf nicht allein auf den eigenen Vorteil bedacht sein.
Was braucht die Welt?
Die Welt braucht 50 Jahre nach dem Ende von Bretton Woods wieder ein globales Wirtschafts- und Währungssystem, das auf der Erkenntnis aufgebaut ist, dass Handel und Finanzen nicht voneinander zu trennen sind. Unternehmen, die im internationalen Handel erfolgreich agieren wollen, müssen sich, nicht anders als auf der nationalen Ebene, absolute Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten erarbeiten. Sie müssen – unter Berücksichtigung der Qualität – billiger sein. Die von den Ökonomen seit Jahrhunderten hochgehaltenen komparativen Kostenvorteile im internationalen Handel sind eine Schimäre.
Was für Unternehmen gilt, gilt jedoch nicht für Länder. Sind viele Unternehmen eines Landes erfolgreich im Sinne einer Zunahme der Produktivität, müssen unter vernünftigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Löhne in dem Land so stark steigen, dass der Produktivitätsvorteil im internationalen Vergleich nicht mehr zugunsten der Unternehmen dieses Landes zu Buche schlägt. Bei höherer Produktivität steigen die Lohnstückkosten dann genau so stark wie in anderen Ländern, die eine geringere Produktivitätszunahme aufweisen.
Steigen die Löhne im Verhältnis zur heimischen Produktivität zwischen den Ländern in unterschiedlichem Tempo, ergeben sich Inflationsdifferenzen, die absolute Vorteile für ganze Länder mit sich bringen, nämlich für diejenigen, die die geringsten Inflationsraten aufweisen. Die Inflationsdifferenzen müssen deshalb zwingend durch das Währungssystem ausgeglichen werden.
Die Währungen von Ländern mit niedrigen Inflationsraten müssen aufwerten und umgekehrt. Konstante reale Wechselkurse, also konstante Wettbewerbspositionen von Ländern, sind der Kern der Lösung der Globalisierungsprobleme. Standortwettbewerb von Ländern ist genau das Gegenteil dessen, was die Welt braucht. Die Positionen von Unternehmen können sich auch bei konstanten realen Wechselkursen in der gleichen Weise ändern wie in einem Binnenmarkt, so dass die Vorteile des Wettbewerbs erhalten bleiben, ohne dass ganze Gesellschaften in den Ruin getrieben werden und Auswanderungswellen nach sich ziehen.
Die Welt braucht folglich ein Handelssystem, das von einem Währungssystem ergänzt wird, welches dafür sorgt, dass kein Land auf Dauer absolute Vorteile oder Nachteile hat. Was nichts anderes heißt, als dass kein Land dauerhafte Leistungsbilanzdefizite und keines dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen darf. Nur so kann man einen Neuanfang schaffen, der auf Integration der Entwicklungsländer und auf Kooperation statt auf Konfrontation setzt.
Rivalität ist grundsätzlich fehl am Platz
Generell muss sich die Einstellung der Industrieländer zu den Entwicklungsländern fundamental ändern. Standortwettbewerb ist ebenso fehl am Platz wie die immer wieder in den internationalen Organisationen hochkommende natürliche Gegnerschaft des Nordens mit dem Süden. Kein Diplomat des Nordens, der nicht wüsste, dass die Entwicklungsländer die Gegenspieler seines eigenen Landes sind. Das sind Formen des geistigen Kolonialismus, die dringend abgestellt werden müssen.
Auch die gerade von der deutschen Außenpolitik entdeckte Rivalität mit China passt überhaupt nicht zu einer kooperativen Strategie. Wer China leichtfertig zum Rivalen erklärt und von der regelbasierten Ordnung mit den nördlichen „Wertepartnern“ fabuliert, hat die Chance schon verpasst, mit den Entwicklungsländern auf Augenhöhe ins Gespräch zu kommen.
Das gilt auch und gerade in Sachen Klimakooperation. Die Ergebnisse der jüngsten Weltklimakonferenz in Ägypten belegen, wie wenig der Westen bereit ist, sein Handelsmodell zugunsten der ärmeren Teile der Welt zu verändern und damit sein Herrschaftsintrumentarium zu reduzieren, obwohl das im langfristigen Interesse auch seiner zukünftigen Generationen ist.
Die Einrichtung eines Fonds zum Ausgleich klimabedingter Schäden in Ländern, die besonders von der Klimakrise gefährdet sind, spricht Bände, und zwar über seine unverbindliche Finanzierung und unklare Ausschüttungspolitik hinaus. Was nämlich nicht eingerichtet wurde, ist ein Fonds, um grüne Technologien und entsprechendes Know-how weltweit preiswert zur Verfügung zu stellen und damit potenzielle Schäden von vornherein zu verhindern oder wenigstens zu verringern. Das würde obendrein die Produzenten fossiler Rohstoffe unter den Druck sinkender Nachfrage setzen und die Erschließung und Ausbeutung neuer fossiler Lagerstätten erschweren.
Warum geschieht das nicht? Im Westen träumt man davon, an der Technologieführerschaft in Sachen klimafreundlicher Produktion so gut zu verdienen, dass man den gewohnten Wohlstand aufrechterhalten kann, während man den Strukturwandel hin zu Klimaneutralität bewerkstelligt. Also will man diese Kenntnisse nicht preiswert oder gar kostenlos verbreiten, erwartet aber gleichzeitig, dass sich ärmere Länder auf CO2-Reduktionsziele verbindlich einlassen. Wieso sollten sich Entwicklungsländer, die bei weitem nicht die Hauptverursacher, sehr wohl aber die Hauptleidtragenden des Klimawandels sind, auf eine solche geradezu kolonialistisch wirkende Zwangsjacke einlassen? Sie müssten nämlich die teure westliche Technologie mit ihrer billigen Arbeitskraft erkaufen, wozu sie in für den Klimaschutz ausreichendem Maße obendrein kaum in der Lage sein dürften.
Eine tatsächlich erfolgreiche, d.h. über Symbolpolitik und moralisch grüne Westen hinausgehende internationale Klimaschutzpolitik wird der Lackmustest für eine in Zukunft fair gestaltete Globalisierung sein. Der Westen ist aufgefordert, seinen warmen Worten zur Unterstützung von Demokratie, Menschenrechten und Klimaschutz Taten folgen zu lassen.