Dieser Artikel ist heute auf Telepolis (www.heise.de) erschienen
Die größte Bedrohung, die Deutschland und Europa in Übersee ausgemacht haben, hört auf den Namen IRA (Inflation Reduction Act) und ist der ganze Stolz der Biden-Administration. Dabei geht es keineswegs nur um die Verringerung der Inflation, in erster Linie geht es um die Verringerung der Abhängigkeit der USA von ausländischen Importen. China steht dabei zwar im Vordergrund, aber auch Europa ist keineswegs aus dem Schneider. Die jüngste gemeinsame Reise des deutschen und des französischen Wirtschaftsministers nach Washington zeigt, dass man den Schaden für Europa zu begrenzen versucht.
Worum es geht, ist für die Europäer und insbesondere die Deutschen nicht leicht zu verstehen, weil sie sich seit Jahrzehnten einreden, sie seien im Geist und in ihren Taten die größten Freihändler überhaupt. Dass Freihandel niemals eine Einbahnstraße sein kann, ist ihnen nicht zu vermitteln. Erst wenn sie Weltmarktführer bei so ziemlich allen Produkten sind, die man sich vorstellen kann, ist die Welt in Ordnung. Dass die Länder, die nicht überall Weltmarktführer sind, das weniger positiv sehen und ändern möchten, liegt in ihrem Verständnis nur daran, dass die anderen verkappte Protektionisten sind.
Überschüsse und Defizite
Manchmal sagen ein paar Zahlen mehr als tausend Worte: Das amerikanische Leistungsbilanzdefizit, also grob gesagt der Saldo aus Exporten und Importen von Waren und Dienstleistungen, belief sich im dritten Quartal 2022 auf 217 Milliarden US-Dollar. Europa verzeichnete im gleichen Zeitraum ebenfalls ein Defizit, aber nur eines von 90 Milliarden €. Das ist aber höchstens die halbe Wahrheit. Im dritten Quartal des Jahres 2021 lag das amerikanische Defizit nämlich ebenfalls bei 220 Milliarden, da verzeichneten die Europäer aber einen Überschuss von fast 75 Milliarden. Geht man zehn Jahre zurück, wird man feststellen, dass die Europäer immer Überschüsse hatten und die Amerikaner immer Defizite. Man kann bei den USA auch 40 Jahre zurückgehen und man wird fast jedes Quartal und fast jedes Jahr große Defizite finden.
Nun ist Europa ein heterogenes Gebilde und es ist keineswegs so, dass alle Länder Überschüsse aufweisen. Das größte europäische Land, Deutschland, wies jedoch von 2004 an einen jährlichen Überschuss aus, der über 100 Milliarden € betrug. Seit 2014 sind die 200 Milliarden pro Jahr überschritten und zwischen 2015 und 2021 lag der deutsche Überschuss sogar immer bei über 250 Milliarden Euro. Erst im vergangenen Jahr führte der enorme Preisanstieg bei importierten Rohstoffen (die Verschlechterung der sogenannten Terms of Trade) zu einer Halbierung des deutschen Überschusses. Neben Deutschland sind die Niederlande das zweite chronische Überschussland.
Überschüsse sind doch keine Sünde, wird in Deutschland immer wieder gesagt, sie sind doch nur der Beleg dafür, dass die Arbeitsteilung funktioniert: Die einen sind eben tüchtiger als die anderen und wenn die Produkte des Tüchtigen häufiger gekauft werden als die der weniger Tüchtigen, kann das am Ende nur gut für alle sein. Dabei wird eine Kleinigkeit übersehen, nämlich das Grundprinzip, auf dem die gesamte Freihandelsidee und sogar die Marktwirtschaft ruht.
Unternehmen und Länder
Unternehmen, die im internationalen Handel erfolgreich agieren wollen, können sich absolute Vorteile gegenüber ihren Konkurrenten erarbeiten. Sie müssen dann bei gleicher Qualität des Produkts billiger sein, was genau dann gelingt, wenn man durch Innovationen eine höhere Produktivität erzielt. Das bedeutet, dass der Wettbewerb der Unternehmen im internationalen Bereich nicht anders als auf der nationalen Ebene abläuft. Die absoluten Vorsprünge schaffen Anreize für andere Unternehmen, die den erfolgreichen Wettbewerber nachahmen und schließlich einholen.
Was für Unternehmen gegenüber anderen Unternehmen gilt, kann jedoch nicht für Länder gegenüber anderen Ländern gelten. Sind viele Unternehmen eines Landes tüchtig, also erfolgreich im Sinne einer Zunahme der Produktivität, werden bei vernünftigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen die Löhne in dem Land insgesamt so stark steigen, dass der Produktivitätsvorteil im internationalen Vergleich nicht mehr zugunsten der Unternehmen dieses Landes zu Buche schlägt. Höhere Nominallöhne gleichen die höhere Produktivität aus. Trotz der höheren Produktivität steigen die Lohnstückkosten und die Preise dann in den „tüchtigen“ Ländern genau so stark wie in den Ländern, die eine geringere Produktivitätszunahme aufweisen. Auf absolute Vorteile und eine höhere Wettbewerbsfähigkeit kann das „tüchtige“ Land dann nicht bauen. Nur sein Lebensstandard steigt schneller als anderswo.
Steigen die Löhne jedoch in dem Land nicht, das Vorteile bei der Produktivität aufweist, ergeben sich Inflationsdifferenzen zwischen den Ländern, die absolute Vorteile für alle Unternehmen eines Landes mit sich bringen, ganz gleich, ob die einzelnen Unternehmen tüchtig sind oder nicht. Das fundamentale Prinzip, dass nur solche Unternehmen temporär absolute Vorteile erringen können, die tatsächlich produktiver als ihre Konkurrenten sind, ist dann durchbrochen.
Handel und Finanzen gehören zusammen
Daher müssen alle Inflationsdifferenzen, ganz gleich, was ihre Ursachen sind, zwingend durch das Währungssystem ausgeglichen werden. Die Währungen von Ländern mit niedrigen Inflationsraten müssen aufwerten und umgekehrt. Nur bei konstanten realen Wechselkursen, also konstanten Wettbewerbspositionen von Ländern, ist die Freihandelsdoktrin überhaupt mit den Prinzipien kompatibel, die auch innerhalb der Volkswirtschaften gelten. Die Positionen von Unternehmen ändern sich bei konstanten realen Wechselkursen in der gleichen Weise wie in einem Binnenmarkt. So bleiben die Vorteile des Wettbewerbs erhalten, ohne dass ganze Gesellschaften zurückfallen und in wirtschaftliche Notlagen geraten. Standortwettbewerb von Ländern ist ein schlimmer Verstoß gegen den Freihandel und gegen die Idee von einem fruchtbaren Wettbewerb der Unternehmen allgemein.
50 Jahre nach dem Ende des Systems von Bretton Woods gilt es vor allem in den Überschussländern zu verstehen, dass Handel und Finanzen nicht voneinander zu trennen sind. Das globale Handelssystem muss von einem Währungssystem ergänzt wird, welches dafür sorgt, dass kein Land auf Dauer absolute Vorteile oder Nachteile hat. Was nichts anderes heißt, als dass kein Land dauerhafte Leistungsbilanzdefizite und keines dauerhafte Leistungsbilanzüberschüsse aufweisen darf. Defizitländer wie die USA sind zum Abbau der Defizite legitimiert, alle möglichen Maßnahmen zu ergreifen, auch solche, die für sich genommen protektionistisch wirken.
Deutschland muss seine Überschüsse rückführen…
Deutschland hat sich zu Beginn der 2000er Jahre unter dem Deckmantel des Euro dadurch absolute Vorteile verschafft, dass die Löhne über Jahre nicht so stark gestiegen sind, wie sie angesichts der deutschen Produktivitätszunahme und dem europäischen Inflationsziel hätten steigen müssen. Da die Bewertung des Euro sich nach dem Durchschnitt der europäischen Inflationsraten richtete, wurde das deutsche Lohndumping nicht durch eine entsprechende Aufwertung des Euro ausgeglichen. So entstand ein absoluter Vorteil gegenüber den Europäern, die Mitglied der EWU waren und gegenüber allen anderen Handelspartnern.
Die Überschüsse haben in Deutschland Arbeitsplätze und Einkommen zulasten der Handelspartner geschaffen. Noch schwerer wiegt im Korsett der Europäischen Währungsunion, dass es die mit den Überschüssen einhergehende Verschuldung des Auslandes war, die es Deutschland in den vergangenen zehn Jahren erlaubt hat, die Verschuldung seines eigenen Staatshaushalts in engen Grenzen zu halten. Alle Länder, die, wie Frankreich und Italien, nicht in ähnlichem Maße auf die Verschuldung des Auslandes bauen konnten, mussten die Staatsfinanzen viel stärker zur Stabilisierung der Volkswirtschaft einsetzen und kollidierten mit der Regel zur Schuldenbegrenzung in den europäischen Verträgen.
…und eine binnenwirtschaftliche Entwicklungsstrategie finden
Europa braucht einen Neuanfang, der wie in den USA auf den heimischen Markt und weniger auf den Weltmarkt setzt. Das kann aber nur gelingen, wenn Deutschland mit einer ganz neuen wirtschaftspolitischen Ausrichtung vorangeht. Dabei müssen die Einkommen der großen Masse der Menschen im Vordergrund stehen. Nicht der beste Niedriglohnsektor der Welt ist gefragt, wie ihn voller Stolz ein sozialdemokratischer Bundeskanzler einst nannte, sondern die beste Teilhabe aller Bürger an den wirtschaftlichen Erfolgen.
Würden die Sozialdemokraten endlich verstehen, worum es in der Wirtschaft geht, wäre das ein wirklich sozialdemokratisches Programm. Sozialer Ausgleich ist nicht nur gut für das soziale Gewissen, er ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiches Wirtschaften. Verabschieden muss man sich allerdings von den Dogmen über den internationalen Handel. Gäbe der amerikanische IRA dafür einen Anstoß, könnte er für Deutschland und Europa segensreich sein.