Warum wir über Inflation völlig falsch reden

Ein Gastbeitrag von Maurice Höfgen 

Jahrelang war sie weg, keiner hat sie wirklich vermisst, doch 2022 redeten alle über sie. Das ist auch richtig so, denn sie geht uns alle etwas an. Die Rede ist von der Inflation. Einkaufen, heizen, duschen: Der Alltag ist teurer geworden, viel teurer. Viele Menschen sind gezwungen zu verzichten. Die einen auf den Sommerurlaub und Biogurken, die anderen auf warme Wohnräume und volle Kühlschränke. Kein Wunder also, dass die Inflation laut Umfragen wieder zu den größten Sorgen der Deutschen zählt – neben dem schrecklichen Krieg in der Ukraine.

2022 musste mehr als jeder Zweite jeden Cent seines Monatseinkommens verwenden, um den Alltag zu wuppen. Sparen? Nicht mehr möglich. Sich etwas gönnen? Nur mit schlechtem Gewissen. In Deutschland hat jeder Dritte schon vorher kaum nennenswerte Ersparnisse gehabt. Keinen Puffer, auf den man in Krisenzeiten zurückgreifen kann, wenn der Liter Benzin und das Paket Butter plötzlich mehr als zwei Euro kosten; wenn der neue Strom- und Gasvertrag um ein Vielfaches teurer wird; wenn der Betrieb stockt und man in Kurzarbeit ein Drittel seines Gehaltes verliert. 

Schon vor der Krise war jeder zehnte Erwachsene in Deutschland überschuldet, konnte also seine laufenden Rechnungen nicht mehr begleichen. Mehr als eine Million Menschen hatten schon vorher Energieschulden, konnten also ihre Strom- oder Heizrechnungen nicht bezahlen. In Hunderttausenden Fällen wurde der Strom abgesperrt. Ein Stapel offener Rechnungen und Mahnungsbriefe, rote Zahlen auf dem Kontoauszug und dann noch Mathelernen mit den Kindern – im Dunkeln. Schon die wirtschaftliche Verwüstungsspur der Corona-Pandemie hat die Armuts- und Überschuldungszahlen 2021 in neue Höhen getrieben. Die Pandemie und ihre Folgen waren noch nicht überwunden, da kam die Inflation zur Unzeit. Doch vor der Inflation sind wir längst nicht alle gleich.

Sie ist kein schwarzes Loch, in das unser aller Geld eingesaugt wird und dann für immer verloren ist. Denn nicht alle werden zwangsläufig ärmer, wenn die Inflationsrate steigt. Das wird häufig übersehen, wenn die Statistiker die neuen Zahlen verkünden. Inflation passiert nicht, Inflation wird gemacht – von Firmen, von Gewerkschaften, vom Staat, von uns allen. Und zwar dann, wenn wir uns darum streiten, wer wie viel vom Kuchen bekommt. 

Der Kuchen ist unser Wohlstand. In der Marktwirtschaft gilt: Wer mehr Geld hat, kann sich ein größeres Stück vom Kuchen kaufen. Deshalb streiten wir uns alle permanent um Geld. Darum, wie viel wir verdienen, zu welchen Preisen wir kaufen und verkaufen, wie viele Steuern wir zahlen, wer wie viel vom Staat bekommt und so weiter. Das ist völlig normal und gehört zur Marktwirtschaft wie der Topf zum Deckel. Der Streit um den Kuchen ist ein Verteilungskonflikt mit Gewinnern und Verlierern. Arbeitgeber gegen Arbeitnehmer, Firmen gegen Verbraucher, Staat gegen Privatwirtschaft, Exporteure gegen Importeure. Wer sein Einkommen erhöht, kann ein größeres Stück vom Kuchen ergattern, wer das nicht schafft, muss mit weniger auskommen. 

Wenn Preise verändert werden, gibt es immer jemanden, der mehr verdient, und jemanden, der mehr bezahlt. Etwa, wenn Autofahrer an der Tankstelle plötzlich mehr für den Liter Benzin hinlegen müssen. Der Autofahrer zahlt mehr, die Tankstelle verdient mehr. Das ist schlecht für den Autofahrer und gut für die Tankstelle – logisch. Meistens geht der Konflikt aber weiter. Die Tankstelle muss vielleicht auch mehr an den Ölgroßhändler zahlen. Und der Großhändler an die Raffinerie. Und die Raffinerie an den, der das Erdöl fördert. Wer genau Gewinner und Verlierer ist, lässt sich deshalb nicht immer auf den ersten Blick feststellen. In unserem Beispiel sind es die Ölförderer, weil sie das Öl weiterhin günstig aus dem Boden holen, aber teurer verkaufen konnten. Ihr Kuchenstück wird größer, das der Verbraucher kleiner.

Ein anderes Beispiel: Bäcker Lutze erhöht die Preise für seine hellen, runden Brötchen, weil seine Angestellten eine Gehaltserhöhung bekommen haben und die Gaspreise gestiegen sind, seit Putin seine Gaskrake Gazprom im Wirtschaftskrieg gegen Deutschland einsetzt. Oma Erna muss jetzt 50 statt 30 Cent pro Brötchen zahlen. Hier wird eines der einfachsten, aber auch wichtigsten ökonomischen Ge- setze deutlich: Die Ausgaben des einen sind immer die Einnahmen eines anderen. Wenn Oma Erna 50 Cent fürs Brötchen zahlt, nimmt Bäcker Lutze 50 Cent ein. Wenn es am Tag vorher noch 30 Cent waren, ist das gut für Bäcker Lutze und schlecht für Oma Erna. 

Schon allein aus diesem Grund kann Inflation nicht dazu führen, dass alle ärmer werden. Das wäre unlogisch. Für einen Konflikt braucht es mindestens zwei Parteien. Nicht alle können gleichzeitig und gegeneinander ihre Interessen durchsetzen, auch das verbietet die Logik. Die spannende Frage, wer den Streit um den Kuchen gewinnt und wer dabei verliert, hat außerdem viel mit Macht zu tun. Macht über Preise, Macht über den Markt und Machteinfluss auf die Politik. Darauf kommen wir in Kapitel 4 noch zu sprechen.

Wenn keiner der Streithähne im Gerangel um das größere Stück vom Kuchen nachgeben will, entsteht daraus eine Spirale, die sich immer abwechselnd durch steigende Preise und steigende Löhne stetig selbst befeuert. Diese Spirale meinen Ökonomen, wenn sie von »Inflation« sprechen. Sie, die Spirale, lässt die Preise nämlich dauerhaft und auf breiter Front steigen. Dauerhaft. Und auf breiter Front. Nicht einmalig, nicht nur in gewissen Bereichen. Sie hat auch einen Namen: Lohn-Preis-Spirale. Der eignet sich nicht für skandalträchtige Schlagzeilen, trotzdem wird das Phänomen gefürchtet. Von der Politik und von den Zentralbanken. Beide müssen nämlich dafür sorgen, dass die Lohn-Preis-Spirale idealerweise gar nicht erst entsteht. Und wenn doch, dass sie schnell endet. Politik und Zentralbank spielen Streitschlichter, wenn man so will.

NICHT JEDER PREISANSTIEG IST INFLATION

Ich habe den Begriff »Inflation« bis hierhin also falsch benutzt. Und zwar als Synonym für »gestiegene Preise«. So passiert es auch in Zeitungen, Talkshows, Bundestagsreden und den sozialen Medien. Nur geht dabei eben vieles durcheinander.

Wenn das neue iPhone teurer ist als das alte oder das Schokocroissant von heute auf morgen mehr kostet, sind das Preisanstiege, aber das bedeutet noch lange nicht, dass die Inflation steigt. Das gilt auch, wenn der Ölpreis sich erhöht und Tanken teurer wird. Der Ölpreis ändert sich ohnehin von Tag zu Tag, weil an der Börse ein stabiles Angebot auf schwankende Nachfrage trifft und den Preis Achterbahn fahren lässt. 

Die Statistiker, die die Inflationsrate bestimmen, kennen das Problem. Denn messen können sie selbstverständlich nur konkrete Ereignisse, also wenn Firmen ihre Waren mit neuen Preisschildern versehen oder Börsenkurse sich ändern. Diese Schwankungen und gestiegenen Preise bildet dann die Inflationsrate ab. Aber darüber, ob die Preisanstiege dauerhaft sind und damit die Definition von »Inflation« erfüllen, sagt die Inflationsrate gar nichts aus. Wenn der Staat Maßnahmen wie einen Tankrabatt oder eine Mehrwertsteuersenkung umsetzt, fällt die Inflationsrate dementsprechend bei der Einführung und steigt bei der Beendigung wieder an. Das staatlich verursachte Auf und Ab der Inflationsrate ist aber keine Inflation im eigentlichen Sinne.

Genauso verhält es sich, wenn Gas teurer wird, weil Russland nicht mehr liefert und es noch keine Alternativen zum russischen Gas gibt. Die Sorge vor der Gasknappheit hat 2022 einen wahren Preisschock ausgelöst. Sprunghaft stieg der Gaspreis in neue Höhen, als der russische Präsident in die Ukraine einmarschieren ließ. Eine »Inflation« war das allein aber (noch) nicht. Denn für einen dauerhaften Preisanstieg hätten Gas und ganz viele weitere Güter immer teurer und teurer werden müssen – ohne einen Weg zurück zu alten, günstigen Preisen. Das war aber nicht der Fall. 

Schon zwischen Kriegsbeginn und dem endgültigen Abdrehen der Nord-Stream-Pipeline im September 2022 war der Gaspreis immer wieder gefallen. Wer im Oktober an der Börse Gas bestellte, das 2023 bzw. zwei oder drei Jahre später geliefert werden sollte, zahlte deutlich weniger als für eine Lieferung im darauffolgenden Monat. An der Börse rechneten Käufer und Verkäufer also damit, dass die Knappheit beim Gas in den nächsten Jahren nicht mehr so akut sein würde wie im Oktober 2022. Das bedeutet, dass der Gaspreis in Zukunft wahrscheinlich wieder fällt und damit alles wieder günstiger wird, was mit viel Gas produziert wird, zum Beispiel Fensterglas, Dünger oder Brötchen. Vom Gaspreis selbst geht also keine sich selbst verstärkende Dynamik aus, die die Inflationsrate Jahr für Jahr neu antreibt.

Wenn wir genug Gas aus anderen Ländern bekommen, kann der Preisschock nach und nach wieder verschwinden. Zumindest zum größten Teil. Nach und nach, weil die hohen Börsenpreise erst mit einer gewissen Verzögerung bei den Versorgern ankommen und mit noch mehr Verzögerung dann auf der Nebenkostenabrechnung der Haushalte abgebildet werden. Auch wer günstige Ver- träge mit langen Laufzeiten abgeschlossen hat, kann sich also vor Preisanstiegen schützen. Was beim Gehalt im Arbeitsvertrag von Nachteil ist, weil das in der Regel nicht von heute auf morgen angepasst werden kann, ist beim Vertrag mit dem Gasversorger von Vorteil.

Warum verschwindet der Preisschock nur zum großen Teil und nicht vollständig? Weil Flüssiggas aus den USA, Aserbaidschan, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Algerien teurer sein wird als das günstige Erdgas aus den Gazprom-Pipelines. Und obendrein auch schlechter für Umwelt und Klima.

Die Gewinner der hohen Energiepreise sitzen übrigens meist im Ausland. In Saudi-Arabien, Katar, den USA, Nor- wegen – und Russland. Bis zu Putins Lieferstopp und der Sabotage an den Nord-Stream-Pipelines hat Gazprom mit der Förderung von Erdgas Rekordgewinne verbucht. Allein im ersten Halbjahr 2022 verdiente der Konzern fast 42 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Im ganzen Jahr 2021 waren es nur rund 27,5 Milliarden Euro. Noch beeindrucken- der sind nur die Zahlen vom weltweit größten Ölförderer, Saudi Aramco. Der saudische Staatskonzern hatte kaum höhere Förderkosten als 2021, konnte aber 2022 mit den gestiegenen Börsenpreisen jeden geförderten Liter Öl zu deutlich höheren Preisen verkaufen. Der Gewinn verdoppelte sich daraufhin im ersten Halbjahr nahezu – auf satte 88 Milliarden Dollar. 

Während der größte deutsche Importeur von Putin-Gas Uniper fast pleiteging und vom Staat gerettet werden musste, legten Ölraffinerien die höheren Rohölpreise auf die Tankstellen und die wiederum auf die Autofahrer um. Die Autofahrer wurden zu den Verlierern. An der Zapfsäule konnten sie nichts dagegen machen, mit niemandem die Preise verhandeln. Wohl aber bei ihrem Arbeitgeber mehr Gehalt oder von der Politik mehr Entlastungen fordern. 

So löste der Energiepreisschock die Sorge um eine inflationäre Lohn-Preis-Spirale aus, und eine bundesweite Debatte um Entlastungsmaßnahmen der Politik begann.

Das war eine Leseprobe aus dem neuen Buch von Maurice Höfgen „TEUER: Die Wahrheit über Inflation, ihre Profiteure und das Versagen der Politik“. Im weiteren Verlauf des Buches widerlegt Maurice Höfgen monetaristische Dogmen und Politiker-Plattitüden. Das Buch ist heute im DTV-Verlag erschienen. Für Interessierte hier ein Bestelllink.