Ein Gastbeitrag von Joachim Nanninga
Heiner Flassbeck stellt in seiner Glosse zum Sturm auf die kalifornische SVB ein großes Rätselraten fest und wartet auf die baldige Auflösung von der FED. Mich hat der Ehrgeiz gepackt, schon vorher Antworten zu finden. Für die Rahmenbedingungen sind Kenntnisse des Geldsystems unerlässlich, für die zugrundeliegenden Probleme und Ursachen im konkreten Fall finden sich in der öffentlichen Berichterstattung ausreichend Hinweise, vielleicht sogar für das final auslösende Momentum mit dem Rückzug eines amerikanischen Großspekulanten.
Flassbecks Anliegen zu betonen, dass Banken nicht zusammenbrechen müssen, wenn die Leitzinsen erhöht werden, kann ich nur unterstützen. Wo liegen hier dann die Gründe? Ein überragender Teil der Aktiva der SVB bestand in US-Staatsanleihen. Wir wissen doch, dass der Staat, gestützt auf seine Zentralbank, der solventeste Schuldner ist. Wie konnte es trotzdem zu dem Desaster kommen?
Vorweg: Wer Angst vor einer Kernschmelze des modernen Finanzsystems hat, verwechselt es mit einem schlecht gewarteten Atomkraftwerk in einer seismischen Problemzone. Dem Bankensystem als Ganzem kann durch den Zusammenbruch einer oder mehrerer Geschäftsbanken – selbst durch Bank-Run – nicht grundsätzlich die fortdauernde Funktionsfähigkeit abhandenkommen. Das schließt natürlich nicht aus, dass übergeordnete Stellen die negativen Folgen durch Fehlentscheidungen verschlimmern können und dass Kunden der zusammengebrochenen Banken neue Geschäftsbeziehungen bei anderen Banken aufbauen müssen. Dass bei irgendjemand Kosten hängen bleiben werden, ist jedoch auch hier nicht zu vermeiden. Das sind Kosten, die von einem vernünftigen kaufmännischen Bank-Management zuvor hätten „eingepreist“ werden müssen und die nun unerwartet andere tragen müssen.
Bank-Run ist der mehr oder weniger erfolgreiche Versuch aller Bankkunden, ihre Forderungen gegen die Bank, der sie nicht mehr vertrauen, zu Forderungen gegen andere Banken einschließlich der Zentralbank zu machen. Die gesamte Geldmenge verringert sich nur in dem Ausmaß, wie der Abzug des Geldes nicht gelingt und Einlagen für Bankkunden verloren sind, somit der Schuldentilgung des geschlossenen Bankinstituts dienen und damit als Zahlungsmittel erloschen sind. Im vorliegenden Fall haben aber die Einlagen eine staatliche Sicherung erfahren. Das heißt letztlich nichts anderes, als dass der Staat auf den Zinsvorteil verzichtet, den er im Vergleich der alten Anleihen zu den nach der Leitzinserhöhung begebenen Anleihen hatte. Das Journalisten-Narrativ „…auf Kosten der Steuerzahler“ ist natürlich Unsinn.
Dass die SVB in der Coronazeit starke Liquiditätszuflüsse hatte, ist überall zu lesen. Paradoxerweise wurzelt genau darin die Liquiditätskrise der Bank, an der sie dann zerbrach. Statt die Zuflüsse als Zentralbank-Geld liquide zu halten, schichtete die Bank auf die angeblich sicherste Anlage, US-Staatsanleihen, um. Damit konnte wegen des großen Betrages trotz der geringen Verzinsung ein verlockender Ertrag generiert werden. Nun ist die Bank aber nicht wegen ihrer Kreditvergabe an Start-ups und Tech-Firmen – ein Geschäft, an das sich viele Banken gar nicht herantrauen – zusammengebrochen, sondern, wie allgemein berichtet wird, wegen der Staatsanleihen in ihrer Bilanz.
In dieser Darstellung des Zusammenhangs muss noch eine entscheidende Lücke gefüllt werden! Es kommt hier gar nicht darauf an, wie sicher man sich darauf verlassen kann, dass der Staat am Ende der Laufzeit der Anleihe den Nennbetrag auszahlt. Die Anleihen werden börsentäglich gehandelt und haben einen täglichen Preis, zu dem man sie kaufen und verkaufen kann. Wenn der Staat wegen Leitzinserhöhung eine bessere Verzinsung neu begebener Anleihen zahlen muss, sinkt der Preis der alten Papiere, so dass für einen Käufer der alten Papiere mit ihrem nunmehr günstigeren Preis sich die Verzinsung in den Bereich entwickelt, den er auch bei frischen Papieren erhielte. Die Darstellung der Sachlage, dass die SBV mit den Anleihen dem US-Staat als erstklassigem Schuldner „Geld geliehen“ hätte, trägt hier überhaupt nicht.
Die SVB ist auf Kosten ihrer eigenen Liquidität ein Kursrisiko eingegangen, zudem als immenses Klumpenrisiko, das allerdings auch bei vielen anderen Assets gleichermaßen gegeben wäre. Sie ist auf eigene Rechnung mit enormer Summe ein Wettrisiko auf unbegrenzt fortdauernde niedrige Zinsen eingegangen. Um den erwarteten Ertrag nicht durch weiteren Aufwand zu belasten, ist darauf verzichtet worden, mit den börsenüblichen Mitteln (Hedging) das Risiko teilweise an Dritte weiterzugeben und aus dem eigenen Prozentgewinn einen Promillegewinn zu machen. Sie haben wie gewöhnliche Zocker die Wette verloren. Spekulieren auf eigene Rechnung und zu Lasten der eigenen Liquidität ist kein klassisches Bankgeschäft – im Gegensatz zur Kreditvergabe. Die Kreditvergabe, also das klassische Geschäft der Banken, war nicht die Quelle der Probleme, obwohl doch die normalen Kreditnehmer einer kleinen Bank im Gegensatz zum Staat nicht gerade als sicher gelten. Banken können jedoch im Kreditgeschäft aufgrund der Vielzahl der Geschäfte, aufgrund ihrer eigenen Erfahrung und der Kenntnis ihrer Kunden ihr Risiko stochastisch berechnen und daraufhin ihren Kreditzins kalkulieren. Mit dem Halten von Staatsanleihen war die Bank in einem anderen Geschäftszweig spekulativ tätig, wo ein solches Risiko rational nicht zu berechnen war.
Über welche Wirkungskette kam die Bank dann insgesamt ins Rutschen und zerbrach schließlich? Die Zinserhöhung der FED belastete letztlich auch die Kunden der SVB. Investoren wurden vorsichtiger, Geschäftsaussichten entwickelten sich weniger rosig. Bei der SVB zeigte sich dies als gesteigerter Liquiditätsbedarf der eigenen Kunden. Sie mussten von ihren Einlagen für Auszahlungen Gebrauch machen. Wenn diese Auszahlungen unmittelbar ausschließlich mit Einzahlungen auf andere Konten bei der SVB verbunden gewesen wären, hätte sich an der Liquidität der SVB wenig geändert. So war es aber nicht: Die SVB musste sich selbst Liquidität durch Verkauf ihrer Aktiva, der Staatsanleihen, verschaffen. Jeder Verkauf einer Anleihe war aber mit einem Aufwand in Höhe der Differenz zwischen Buchwert und Verkaufserlös verbunden. Es war irgendwann abzusehen, dass aus der Liquiditätskrise der Bank eine Überschuldungskrise werden müsste. Der Flug des Bankchefs Greg Becker von der Westküste an die Ostküste zu den Kraftzentren des Finanzsystems (Goldman-Sachs, Rating-Agentur) mit einem Kapitalerhöhungsplan in der Tasche kam zu spät. Er wurde zunichte gemacht vom Einlagenabzug eines Großspekulanten bei der SVB. Wer wissen will, aus welcher Unternehmenskultur heraus so etwas verständlich wird, wie es dazu kommen konnte, dass die SVB das genannte Kursrisiko der Staatsanleihen einging, wird in diesem Artikel der Financial Times fündig.
Worin genau bestand das unkalkulierbare Risiko, dass die SVB einging? Sie hatte auf der Aktivseite ihrer Bilanz etwa zur Hälfte langfristige Forderungen gegen den sehr solventen Schuldner USA, auf der Passivseite ihrer Bilanz standen die Einlagen, also ihre Verbindlichkeiten gegen über den Bankkunden. Letztere sind auf dem Girokonto sofort „fällig“, wie es buchhalterisch heißt, können also sofort zum Abheben oder Überweisen genutzt werden. Entsteht nun im Zahlungsverkehr ein negativer Saldo, entsteht bei der Bank umgekehrt Liquiditätsbedarf, der normalerweise durch Interbankenkredit oder Kredit der Zentralbank gedeckt werden kann. Wenn diese Hilfe jedoch nicht erreichbar ist, weil man selbst nicht ausreichend vertrauenswürdig erscheint, bleibt nichts anderes als Verkauf eigener Aktiva, auch unter Buchwert. Theoretisch wäre für die SVB auch ein Verkauf ihrer Kreditforderungen möglich gewesen. Das wäre aber nur mit viel größeren Abschlägen möglich gewesen, weil für Externe die Werthaltigkeit dieser Forderungen nur eingeschränkt und mit viel Aufwand prüfbar ist.
Hätten die eigenen Aktiva einen höheren Liquiditätsstatus gehabt, am besten als Zentralbankgeld, wäre das Problem nicht entstanden. Das Bankengeschäft besteht aber gerade darin, durch Kreditvergabe langfristige Forderungen aufzubauen im Verbund mit dem Eingehen fälliger Verbindlichkeiten, die der Kreditkunde sofort an dritter Stelle zur Schuldentilgung nutzen kann. Die Banken sind Intermediäre zwischen Gläubigern, denen gegenüber sie kurzfristige Verbindlichkeiten halten, und Schuldnern, gegen die sie langfristige Forderungen halten. Nichts anderes ist letztlich der Sinn der Fristentransformation: Wenn die Bank als Intermediär zwischen Gläubiger und Schuldner tritt, kann der Gläubiger sofort über seine Zahlungsmittel verfügen und der Schuldner konnte für seine Zahlungspflicht einen Aufschub erreichen. Oder anders ausgedrückt, wenn wir nur auf den Kreditkunden der Bank schauen: Er erhält von der Bank seine kurzfristige Zahlungsfähigkeit im Austausch gegen seine, mit längerer Frist verbundene Tilgungspflicht.
Letztlich steht die Bank auf der Ebene des Geldvermögens, also der Forderungen und Verbindlichkeiten, immer intermediär zwischen den Gläubigern und Schuldnern, die das Bankensystem nutzen. Die aus der Fristeninkongruenz resultierenden Risiken zu minimieren, ist Aufgabe des Bankengeschäfts. Große Banken sind hier klar im Vorteil. Für Banken mit stark eingegrenztem Branchensegment oder auch mit wenigen großen Kunden entstehen besondere Risiken. Das Fristenproblem kann dadurch vermindert werden, dass die Bank den Einlegern die Bereitschaft abkauft, ihre Einlage länger festzulegen. Eine alte Bankregel fordert, dass langfristigen Forderungen der Bank langfristig gebundene Einlagen gegenüberstehen sollten. Eine Weiterentwicklung dieser Bankregel, deren Befolgung sogar vor Bank-Run schützen würde, ist die Mehrbelastungsregel. Sie verlangt, dass alle eventuellen Verluste aus vorzeitigem Verkauf längerfristig gebundener Aktiva immer durch das Eigenkapital gedeckt sein müssen. Von beidem war die SVB wohl weit entfernt.
Bevor ich mich bei Autoren der MMT (Modern Monetary Theory) durch den Gebrauch der Begriffe „Banken als Intermediäre“ und „Fristentransformation“ dem vollkommen überflüssigen Verdacht aussetze, ich verstünde das Kreditgeschäft als Weiterverleih von Einlagen (analog zu den Pfandhäusern), weise ich ausdrücklich darauf hin, dass mit jedem neuen Kredit die Geldmenge (Zahlungsmittelmenge, nicht Menge des Geldvermögens!) in der Wirtschaft vermehrt, mit jeder Kredittilgung gemindert wird. Wer diesen Zusammenhang als „Geld aus dem Nichts schöpfen“ beschreibt, mag bei Laien die Frage auslösen, warum sich die SVB dann nicht durch „Geldschöpfung“ am eigenen Schopf aus dem Sumpf gezogen hat. Doch dazu ist nur die Zentralbank und mit ihr zusammen das gesamte Bankensystem in der Lage. „… aus dem Nichts!“ bleibt aber auch hier irreführend. Zusätzliche Zahlungsmittel sind und bleiben immer an zusätzliche Kreditverbindlichkeiten gebunden. Die Vermehrung der „Geldmenge“ beruht immer auf Verträgen, bei denen sich eine Seite bereitfindet, eine Kreditlast zu schultern. Alleine kann eine Bank die „Geldmenge“ nie mehren.
Die Zentralbank hat das entscheidende Privileg, dass ihre Verbindlichkeiten nie das Gehege ihrer eigenen Buchhaltung verlassen können. Mit anderen Worten: Der Inhaber eines Zentralbankkontos kann ausschließlich auf ein anders Zentralbankkonto überweisen. Die Zentralbank kann sich deshalb technisch gesehen zu beliebigen Verbindlichkeiten bereitfinden, ohne je illiquide zu werden. Diese Fähigkeiten gelten zwar nicht für eine einzelne Geschäftsbank, wohl aber für das Bankensystem im Währungsgebiet zusammen mit der betreffenden Zentralbank. Das erklärt auch die unbegrenzte Fähigkeit zur Rettung einzelner Banken.