Wie schnell sich manchmal die Zeiten doch ändern. Vor einem halben Jahr waren die Erzeugerpreise für gewerbliche Produkte in aller Munde, weil man an diesen Preisen sehr zuverlässig ablesen kann, wie sich die Verbraucherpreise entwickeln werden. Professor Sinn hat das bei seiner Weihnachtsvorlesung 2022, die laut YouTube über eine Million Mal angeklickt worden ist, sehr anschaulich erklärt (um die Minute 10). Auf dem Höhepunkt des Preisschocks waren die Erzeugerpreise um über 40 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat gestiegen und Herr Sinn erwartete, dass davon etwa ein Drittel bei den Verbraucherpreisen ankommen werde.
Im April war bei diesen Preisen in der EWU noch ein Zuwachs von einem Prozent festgestellt worden (wie hier beschrieben). Jetzt meldet das Statistische Bundesamt, dass im Mai auch in Deutschland nur noch ein Prozent Zuwachs gegenüber dem Vorjahr zu Buche steht und diese Preise gegenüber den Vormonaten absolut fallen. Die Abbildung zeigt, dass nicht nur die Erzeugerpreise für gewerbliche Produkte, sondern auch einige andere wichtige Indizes inzwischen unter dem Ziel der EZB von 2 Prozent liegen bzw. die Vorjahresraten bereits negativ geworden sind.
Auch die EZB wusste noch im März dieses Jahres, dass die Erzeugerpreise ein wichtiger vorlaufender Indikator sind. In ihrem Economic Bulletin Nummer 3 schrieb sie gleich zu Beginn:
“The increase in consumer goods price inflation in the euro area over the last two years was preceded by a sharp rise in producer prices. Leading indicator properties of industrial producer prices for consumer prices form a well-established and central element of the ECB’s analysis of pipeline pressures.” („Dem Anstieg der Verbraucherpreisinflation im Euro-Währungsgebiet in den letzten zwei Jahren ging ein starker Anstieg der Erzeugerpreise voraus. Die Eigenschaften der industriellen Erzeugerpreise als vorlaufender Indikator für die Verbraucherpreise sind ein bewährtes und zentrales Element der EZB-Analyse hinsichtlich des Pipeline-Drucks“; meine Übersetzung).
Genau an dieses „bewährte und zentrale Element“ ihrer Analyse kann sich die EZB heute allerdings nicht mehr erinnern. Sie schreibt und redet dauernd über den „ongoing inflationary pressure“ (wie hier gezeigt), erwähnt die Erzeugerpreise aber nun erstaunlicherweise mit keinem Wort mehr.
Klar, wer zu seinen früheren Glaubenssätzen stehen und sagen würde, dass die Erzeugerpreise ein vorlaufender Indikator für die Verbraucherpreise sind, müsste auch sagen, dass die von ihm (oder ihr) an die Wand gemalte hartnäckige Inflation nur eine Fata Morgana war. Dann wäre allerdings auch klar, dass all diejenigen, die im vergangenen Jahr so schnell „Inflation“ und „Zinserhöhung“ geschrien haben, weil sie daran glaubten, es gebe einen geheimnisvollen Geldüberhang, der sich nun Bahn bräche, vollkommen daneben lagen.
Insbesondere die Spitze der EZB mit ihrem klammheimlichen Glauben an den Monetarismus (wie hier gezeigt) wäre gnadenlos bloßgestellt. Auch von Hans-Werner Sinn hat man nicht gehört, dass er angesichts der oben gezeigten Daten an seiner Einschätzung festhält, die Erzeugerpreise seien ein guter vorlaufender Indikator. Immerhin ist das von ihm vermutete Drittel der Erzeugerpreissteigerung bislang weder in der EWU insgesamt noch in Deutschland angekommen.
Damit das Publikum nicht auf falsche Ideen kommt, ändern die Verantwortlichen in der EZB schnell mal ihre Überzeugungen und ignorieren die Erzeugerpreise einfach, obwohl sie weiter behaupten, einen auf Datenanalyse beruhenden Ansatz zu verfolgen. Die normalen Leute, aber auch die Journalisten kennen sich ja zum Glück nicht gut aus in Sachen Statistik oder haben keine Zeit, sich derlei Informationen selbständig zu beschaffen, zu verarbeiten und mit den bisherigen Aussagen der Zentralbanker zu kontrastieren. Die Geldpolitiker fahren daher mit dem Kurs „Was kümmert uns unser Geschwätz von gestern?“ recht unbehelligt.
Und vielleicht werden sie am Ende noch von den Gewerkschaften „gerettet“, die sozusagen aus der zweiten Reihe die Preissteigerungsrate wieder anheizen, so dass tatsächlich Inflation entsteht und die falschen Modelle der Zentralbank doch noch richtig aussehen lässt. Einen Vorwand für zukünftig überhöhte Lohnabschlüsse liefert die EZB den Gewerkschaften ja frei Haus, indem sie den Glauben an nur sehr langsam sinkende oder gar auf unerwünscht hohem Niveau stagnierende Preissteigerungsraten mit ihren Warnungen davor befeuert.
Wer es schafft, eine sich selbst erfüllende Prognose in Gang zu setzen, ohne dass dieser Mechanismus offenbar wird, hat als Prognostiker das große Los gezogen: Er liegt im Nachhinein immer richtig. Die Quittung für dieses unverantwortliche Vorgehen – das habe ich schon viele Male geschrieben – wird in den Wahlurnen zu finden sein. Denn die vom Konjunktureinbruch am ersten und meisten Geschädigten, die „kleinen Leute“, werden ihrer Wut über die ökonomische Entwicklung in der Zustimmung zu extremen Parteien Luft machen.