Die wirtschaftliche Lage in Deutschland ist schlecht, sehr schlecht sogar. Es gibt Indikatoren wie den sogenannten Markit PMI (hier zu finden), die für die deutsche Industrie ein ähnlich verheerendes Szenario vorhersagen wie zu Zeiten der großen globalen Finanzkrise von 2008/2009 oder zur Zeit des Coronaschocks im Jahr 2020. Der ifo-Index ist ebenfalls im Juli massiv eingebrochen. Der gerade frisch erschienene bank lending survey der Europäischen Zentralbank (EZB) zeigt, wie stark die Straffung der Geldpolitik bereits wirkt; die Kreditvergabe an Unternehmen sinkt rasant. Doch die Verantwortlichen in Regierung und Zentralbank schauen weg. Sie wollen nicht sehen, was passiert, weil sie nicht wahrhaben wollen, wie fundamental sie mit ihren Schätzungen und Prognosen danebengelegen haben.
Das beginnt mit dem Bundeswirtschaftsminister, der nach wie vor die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen will. Er schreibt in seinem jüngsten Monatsbericht, die aktuellen Daten zu den Konjunkturindikatoren deuteten auf eine „moderate konjunkturelle Grunddynamik hin, nachdem es zum Ende des ersten Quartals zu einer merklichen Abkühlung gekommen war“, und „auf eine allmähliche Erholung der Industriekonjunktur in den kommenden Monaten“. Das ist keine Schönfärberei mehr, das sind die fest geschlossenen Augen, mit denen kleine Kinder glauben, sie könnten eine akute Gefahr vertreiben.
An anderer verantwortlicher Stelle fehlt es genauso an Sachverstand, um zu einer realistischen Einschätzung der Lage zu kommen und um geeignete Gegenmaßnahmen zu ergreifen: Die EZB, die mit ihrer Politik maßgeblich die wirtschaftliche Lage in den Mitgliedsländern prägt, ist, wie ich zusammen mit Friederike Spiecker viele Male gezeigt habe (zuletzt hier), durch ihre bisherigen Fehlurteile blockiert.
Weil sich die EZB-Verantwortlichen kollektiv eingeredet haben, sie hätten, unabhängig von der wirtschaftlichen Lage und unabhängig von den Ursachen der Preissteigerungen, eine „Inflation“ zu bekämpfen, hat sich der Nachfrageschock, der durch die massiven Preissteigerungen für Rohstoffe entstanden war, in eine Abwärtsspirale für die europäische Wirtschaft verwandelt: Die Investitionstätigkeit der Unternehmen in der Bauwirtschaft und in der Industrie löst nun die ursprüngliche Konsumschwäche als treibenden Faktor ab.
Selbst nachdem längst klar ist, dass es seit dem Ende des vergangenen Jahres keinen weiteren Inflationsdruck gegeben hat, sondern eine global zu beobachtende Deflationstendenz, haben die Verfechter einer kompromisslosen Inflationsbekämpfung in der EZB und in den nationalen Zentralbanken nicht aufgehört, vor einer Verfestigung der Verbraucherpreisinflation zu warnen. Die eindeutig vorauslaufenden Indikatoren wie die Erzeugerpreise oder die Großhandelspreise, die bereits Deflation signalisieren, werden bewusst ignoriert, weil man nicht zugeben will, falsch gelegen zu haben. In der EZB, die im März dieses Jahres noch gesagt hatte, dass die industriellen Erzeugerpreise als vorlaufender Indikator für die Verbraucherpreise „ein bewährtes und zentrales Element der EZB-Analyse hinsichtlich des Pipeline-Drucks“ sind, werden diese nun nicht mehr erwähnt.
Obwohl es in Europa trotz Reallohnverlusten offensichtlich keine gefährliche Beschleunigung der Lohnzuwächse gibt und gegeben hat, wird von der EZB immer mehr die Karte „Risiko durch Lohnsteigerungen“ gespielt. Das ist perfide, weil es die EZB war, die temporäre, von außen kommende Preissteigerungen vorschnell zur „Inflation“ erklärt hat. Trotz dieser gravierenden Fehleinschätzung waren jedoch die meisten europäischen Gewerkschaften niemals stark genug, um deutliche Reallohnverluste zu vermeiden. Mit Einmalzahlungen hat man ein angemessenes Mittel gefunden, die Reallohneinbußen (insbesondere für die unteren Lohngruppen) in Grenzen zu halten, ohne die Löhne an die „Inflation“ anzupassen. Nun die Lohnentwicklung zur eigentlichen inflationären Gefahr hochzuspielen, ist nur ein weiterer verzweifelter Versuch, vom eigenen Versagen abzulenken.
Besonders pointiert hat der für Europa zuständige Beamte des IWF, Alfred Kammer, den falschen Ton gesetzt. In einem Blog-Beitrag schreibt er:
“Inflation pressures are likely to persist for some time. Workers will try to recoup losses in purchasing power by pushing for higher wages, while businesses are likely to seek to protect their profits by setting their retail prices to reflect higher labor costs. We do not see inflation coming back to target before mid-2025—and inflation could possibly prove more persistent if, for instance, inflation expectations shift upwards or the share of wage contracts containing backward-indexation clauses increases.” (Der Inflationsdruck wird wahrscheinlich noch einige Zeit anhalten. Die Arbeitnehmer werden versuchen, den Kaufkraftverlust durch höhere Löhne auszugleichen, während die Unternehmen wahrscheinlich versuchen werden, ihre Gewinne zu schützen, indem sie ihre Einzelhandelspreise an die höheren Arbeitskosten anpassen. Wir gehen nicht davon aus, dass die Inflation vor Mitte 2025 wieder auf das Zielniveau zurückkehrt – und die Inflation könnte sich möglicherweise als hartnäckiger erweisen, wenn sich beispielsweise die Inflationserwartungen nach oben verschieben oder der Anteil der Lohnverträge mit rückwärtsgewandten Indexierungsklauseln zunimmt“; meine Übersetzung)
Die Unternehmen werden also in einer Marktwirtschaft versuchen, ihre Gewinne zu schützen, wenn die Löhne steigen? Das stimmt. Das haben sie bislang immer getan. Wenn der Wettbewerb zwischen den Anbietern funktioniert, werden die Unternehmen im Schnitt die Lohnstückkostenzuwächse in den Preisen weitergeben, also den Teil der Lohnsteigerungen, der nicht durch Produktivitätszuwächse wettgemacht wird. Die Empirie dazu ist für fast alle Länder der Welt eindeutig (wie hier gezeigt): Es hat in den letzten vierzig Jahren keine beliebigen Preiserhöhungsspielräume für die Unternehmen gegeben und nichts spricht dafür, dass sich das seit 2021 geändert hat. Das zumindest sollte man auch beim IWF wissen.
Aber einmal abgesehen davon: Dass es ausgerechnet die Unternehmen im Einzelhandel sein sollen, die Lohnkostenzuwächse weitergeben, leuchtet überhaupt nicht ein. Im Bereich des Großhandels und auf der Erzeugerstufe sinken die Preise, obwohl auch dort normale Löhne gezahlt werden. Wäre der Lohndruck allgemein hoch, würde man keine Deflation auf den Nicht-Verbraucherstufen haben. Auch die ominösen Inflationserwartungen, die niemals fehlen dürfen, gäbe es auf allen Stufen der Produktion und des Verkaufs und nicht nur beim Einzelhandel. Das Ganze ist keine theoretisch fundierte Analyse, sondern eine durch nichts zu rechtfertigende Spekulation, die nur zum Ziel hat, das Verhalten der europäischen Notenbanker zu rechtfertigen. Wenn der IWF nicht mehr beizutragen hat, sollte er besser schweigen.
Dass demokratisch gewählte Politiker in ganz Europa kommentarlos und hilflos zusehen, wie die Technokraten in der EZB monatelang in eine falsche Richtung laufen und einen gewaltigen Schaden anrichten, ist nicht mehr nachzuvollziehen. Es ist aber (wie hier gezeigt) die unmittelbare Folge des falschen Mandats, das Deutschland der EZB aufgedrängt hat. Wer sich auf den Standpunkt zurückziehen kann, man sei im Zweifel nur für Preisstabilität zuständig, hat den falschen Auftrag und obendrein eine billige Ausrede. Die Rezession wird dann zum leider unvermeidbar zu zahlenden Preis für Preisstabilität erklärt. Und dass Preisstabilität eine unverzichtbare soziale Wohltat ist, für die die Zentralbank kämpft, wird einfach nachgeschoben, ohne zu sagen, worum es bei Preisstabilität in einer Zeit großer von außen kommender Preisschocks eigentlich geht.
So wird die EZB mit ihrer fehlgeleiteten Politik fortfahren und die Zinsen morgen noch einmal erhöhen. Wenn auch am Ende dieses Weges niemand persönliche Verantwortung für die Fehlentscheidungen übernimmt, wird man erleben, dass große Teile der Bevölkerung für die Demokratie endgültig verloren sind. Denn selbst wenn die Zusammenhänge nicht im Einzelnen verstanden werden, wird doch richtig vermutet, dass „die da oben“ versagen, selbst aber nicht die Folgen ihres Versagens tragen, sondern die „kleinen Leute“ die Suppe auslöffeln lassen.