(Dieser Artikel ist heute auf Telepolis erschienen: Telepolis.de)
Wenn ein hochrangiger europäischer Policymaker wie Christine Lagarde bei einem Treffen der wichtigsten Notenbanker der Welt ein Grundsatzreferat über „policymaking in an age of shifts and breaks“ hält, also über Politik im Zeitalter der Verschiebungen und Brüche spricht, sollte man genau hinhören. Denn das ist es in der Tat, worauf es ankommt in dieser Welt: Wie bewältigt man den unumgänglichen Strukturwandel, ohne gravierende makroökonomische Fehler zu machen?
Die Antwort der Präsidentin der EZB klingt auf den ersten Blick plausibel:
“Large-scale reallocations can also lead to rising prices in growing sectors that cannot be fully offset by falling prices in shrinking ones, owing to downwardly sticky nominal wages. So the task of central banks will be to keep inflation expectations firmly anchored at our target while these relative price changes play out.” (Umschichtungen in großem Umfang können auch zu steigenden Preisen in wachsenden Sektoren führen, die nicht vollständig durch sinkende Preise in schrumpfenden Sektoren ausgeglichen werden können, da die Nominallöhne nach unten unflexibel sind. Die Aufgabe der Zentralbanken wird also darin bestehen, die Inflationserwartungen fest bei unserem Ziel zu verankern, während sich diese relativen Preisveränderungen vollziehen; meine Übersetzung).
Aufhorchen lässt allerdings der Zusatz mit den „sticky nominal wages“. Offenbar vermutet Lagarde, dass in einem Sektor, in dem die Umsätze boomen, die Löhne steigen und in einem anderen, der schrumpft, die Löhne sinken. Stimmt das? Passen sich in der Art von Marktwirtschaft, die wir kennen, die Löhne jeweils flexibel nach unten und oben an die sektoralen Entwicklungen oder an die der Branchen oder gar der Unternehmen an? Und wenn sie das nicht tun, sollten wir uns eine Marktwirtschaft wünschen, in der die Löhne flexibel im Lagardeschen Sinne sind?
Wer an dieser Stelle vermutet, hier ginge es wohl um einen theoretischen Grundsatzstreit, liegt falsch. Es geht um ein zentrales Funktionsprinzip der Marktwirtschaft und wer ein solches missversteht, kann niemals richtige Politik machen. Man muss sich einmal aus der Sicht der Arbeiter vorstellen, was in diesem Strukturwandel passiert, wenn die Löhne flexibel sind.
Flexible Löhne?
Die Ingenieure in den begünstigten Branchen, sagen wir diejenigen, die bei den Herstellern von klimarelevanten Produkten arbeiten, erhalten höhere Bezüge, weil ihre Branchen boomen. Die Ingenieure in den benachteiligten Branchen, sagen wir in der Automobilindustrie, müssen sinkende Löhne verkraften, weil die Automobilindustrie auf dem absteigenden Ast sitzt. Wie lange wird das gutgehen? Wann werden die Ingenieure in der Automobilindustrie sagen, wie kommen wir dazu, sinkende Löhne zu haben, wo wir doch ohne weiteres die gleiche Arbeit leisten können wie die Ingenieure in den boomenden Branchen? Also nichts wie dorthin, wo höhere Löhne bezahlt werden.
Sind die Beschäftigten in der Lage, die Löhne, die von unterschiedlichen Unternehmen in unterschiedlichen Branchen für eine bestimmte vergleichbare Qualifikation gezahlt werden, zu vergleichen, werden sie wandern. Sie bewerben sich bei den Unternehmen, von denen die höchsten Löhne geboten werden. Auf diese Weise werden jederzeit und schnell die Löhne für eine bestimmte Qualifikation über die Branchen und Unternehmen hinweg angeglichen und kein Unternehmen kann sich dem entziehen, weil es sonst bestimmte Fachkräfte einfach nicht bekommen würde. Dann sind allerdings in der Lagardeschen Diktion die Löhne unflexibel, weil die Preise der Produkte der sich unterschiedlich entwickelnden Branchen womöglich nicht mehr unterschiedlich reagieren können: die, die abzufallen drohen, können das nicht durch Preissenkungen aufhalten oder gar verhindern; und die Branchen, die sich um Aufwind befinden, müssen keine allein und spezifisch bei ihnen lohnbedingten Kostensteigerungen in ihren Produktpreisen weitergeben.
Die hohe Mobilität der Arbeitskräfte, die in dieser Überlegung unterstellt wird, gibt es allerdings auf modernen Arbeitsmärkten zumeist nicht. Außerhalb der USA jedenfalls sind die Arbeitnehmer ziemlich sesshaft geworden und können und wollen nicht alle paar Monate umziehen, um sich einen neuen Arbeitsplatz zu suchen. Auch den Unternehmen ist daran gelegen, gut eingearbeitete Fachkräfte zu halten, weil die Suchkosten auch auf ihrer Seite u. U. sehr hoch sind. Folglich sind die Tarifpartner in einigen Ländern in den 50er und 60er Jahren des vergangenen Jahrhunderts dazu übergegangen, Tarifverträge zu vereinbaren, die Gehaltsstrukturen und Lohnsteigerungen über ganze Branchen oder – via Zusammenarbeit verschiedener Gewerkschaften – gar über die Gesamtwirtschaft hinweg ähnlich regeln.
Diese Flächentarifverträge sind nichts anderes als ein funktionales Äquivalent zur Mobilität der Arbeitskräfte in einer Welt, in der die Arbeitskräfte nicht mehr so mobil sind. Der Flächentarifvertrag stellt Bedingungen her, wie sie auf einem Markt mit hoher Mobilität der Arbeitskräfte herrschen würden und ist genau deswegen kein dem Marktsystem von außen aufgedrücktes sozial- und gewerkschaftspolitisches Instrument, sondern der perfekte Ersatz für die aus vielen institutionellen Gründen bei weitem nicht perfekte Mobilität der Arbeitskräfte, die auch keineswegs wünschenswert wäre, sondern ein familienfeindliches Nomadenleben darstellte.
Flexible Gewinne
Mit dem Flächentarifvertrag hat man offenbar ein Instrument geschaffen, das den Schumpeterschen Vorstellungen von einer marktwirtschaftlichen Dynamik, die von den einzelnen Unternehmen vorangetrieben wird, perfekt angepasst ist. Das System wird gesteuert von den temporären Gewinnen derjenigen, denen es gelungen ist, ein Produktionsverfahren zu rationalisieren oder ein neues Produkt erfolgreich an den Mann zu bringen. Bei steigender Produktivität, aber den gleichen Löhnen wie bei den Konkurrenten sinken deren Lohnstückkosten und bringen den innovativen Unternehmen einen temporären Geschäftserfolg. Diejenigen, die nicht mithalten können, müssen Insolvenz anmelden und aus dem Markt ausscheiden, weil sie auf die Möglichkeit, die Löhne zu senken, nicht zurückgreifen können.
Ein solches System wird über flexible Gewinne gesteuert, weil die Vorleistungspreise starr sind. Je inflexibler die Preise für Vorleistungen einschließlich Arbeit für das am Markt handelnde einzelne Unternehmen sind, desto flexibler und in der Steuerung des Systems effizienter ist der Gewinn dieses Unternehmens. Umgekehrt schaffen Systeme flexibler Vorleistungspreise (einschließlich der Löhne) inflexible Gewinne und bedürfen daher anderer Steuerungsmechanismen. Je flexibler die Preise für Vorleistungen einschließlich Arbeit sind, desto starrer und damit ineffizienter als Steuerungsinstrument ist der Gewinn.
Es ist mehr als erstaunlich, dass sich zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland gerade die Arbeitgeber tendenziell vom System flexibler Gewinne zu einem System inflexibler Gewinne übergegangen sind und die Politik sie dabei unterstützt hat (Stichwort: Tariföffnungsklauseln). Wieso ist es aus der Sicht der Arbeitgeber sinnvoll, ein System einzurichten, in dem jeder Produktivitätsvorsprung, den sich ein Unternehmen erarbeitet, zu erheblichen Teilen von Preissteigerungen für seine spezifischen Vorleistungen einschließlich Arbeit weggesteuert wird? Wer entscheidet in diesem System darüber, ob ein Unternehmen am Markt bleiben kann, das trotz permanent schwacher Produktivitätsentwicklung überlebt, weil es für seine Vorleistungen einschließlich Arbeit weit weniger als seine Konkurrenten zahlen muss?
Aber auch aus der Sicht der Gewerkschaften muss man fragen, ob es sinnvoll ist, ein System gutzuheißen, in dem der Produktivitätsvorsprung eines Betriebes nur oder überwiegend den Arbeitern dieses Betriebes zugutekommt? Wer entscheidet dann darüber, welche Arbeitnehmer in guten und welche in schlechten Betrieben arbeiten und damit hohe oder niedrige Löhne verdienen dürfen? Die Reaktion der Arbeitskräfte mit Abwanderung dürfte einem System der Lohndifferenzierung nach Ertragslage jedenfalls Grenzen setzen, da die Kosten der Immobilität für den einzelnen Arbeitnehmer – der vergleichsweise geringere Lohn – die Mobilitätsschranke irgendwann aufheben.
Die Geldpolitik und flexible Preise
Die immer wieder geforderte “Flexibilität am Arbeitsmarkt”, im Sinne von unterschiedlichen Preisen (also Löhnen) für gleiche Arbeitsleistungen, hat nichts mit der Preisflexibilität in einer funktionierenden Marktwirtschaft zu tun. Mit letzterer ist nämlich nicht gemeint, dass jeder Anbieter oder Nachfrager auf einem bestimmten Markt einen individuellen Preis vereinbaren kann, sondern dass sich für alle Teilnehmer eines Marktes ein einheitlicher Preis einspielt. Der kann sich dann im Zeitablauf sehr wohl verändern, also den unterschiedlichsten Einflüssen “flexibel” anpassen. Aber dann ändert er sich für alle Marktteilnehmer in gleicher Weise und eben nicht für ein paar wenige so und für einige andere anders und für die restlichen gar nicht.
Die wirklich für die Funktionsweise des Systems bedeutende Flexibilität der Preise ist am größten, wenn die sichtbaren Unterschiede der Preise gleichartiger Produkte und Dienstleistungen nahe Null sind. Um es anschaulich auszudrücken: Wenn in allen Bäckereien einer Stadt ein Brötchen gleicher Größe und Qualität in einem bestimmten Monat 40 Cent kostet, käme niemand auf die Idee, von verkrusteten Strukturen oder einem Anbieterkartell zu sprechen. Stiege der Brötchenpreis im folgenden Monat aufgrund verheerender Ernteschäden und entsprechender Verteuerung des Mehls auf z.B. 44 Cent in allen Bäckereien, wäre die notwendige marktwirtschaftliche Flexibilität, also die Fähigkeit, rasch auf sich verändernde Bedingungen zu reagieren, offenbar gegeben.
Für die Geldpolitik ist es fundamental, zu verstehen, dass es in einer funktionierenden Marktwirtschaft keinen Mechanismus gibt, der dafür sorgen könnte, dass Preiserhöhungen in boomenden Branchen durch Preissenkungen in den weniger begünstigten ausgeglichen werden. Die Idee, es sei inflexiblen (sticky) Löhnen zuzuschreiben, wenn das nicht geschieht, ist gefährlich. Die Geldpolitik neigt bei einer solchen Sichtweise dazu, generell die Arbeitnehmer für eine „zu geringe Preisflexibilität“ verantwortlich zu machen und mit Zinserhöhungen zu reagieren. Wenn jedoch im Strukturwandel temporär Knappheiten auftreten und bestimmte Bereiche so hohe Preissteigerungen durchsetzen können, dass das Preisniveau vorübergehend auch insgesamt steigt, ist Zinserhöhung das genaue Gegenteil dessen, was die Volkswirtschaft braucht.
Denn die Zinserhöhungen behindern den Prozess des Wegkonkurrierens von Pioniergewinnen durch nachahmende Investitionen und damit das Aufheben von Engpässen, die durch die Preissteigerungen angezeigt werden. Gerade in Zeiten, in denen ein rascher Strukturwandel besonders notwendig ist, um dem Klimawandel zu begegnen, sind stärkere Preisschübe in einzelnen Sektoren nahezu vorprogrammiert. Diese durch die Erschwerung von Investitionen zu unterdrücken heißt, die Marktwirtschaft ihrer Fähigkeit der flexiblen Anpassung zu berauben.
Dass die EZB gestern die Zinsen erneut angehoben hat, obwohl es in Europa keinerlei inflationären Druck mehr gibt und die vorlaufenden Indikatoren wie die Erzeugerpreise schon weit im deflationären Bereich liegen (wie hier zuletzt gezeigt), ist das Ergebnis solch fataler Missverständnisse hinsichtlich der Funktionsweise unseres Wirtschaftssystems. Dass die EZB die erneute Erhöhung unmittelbar mit einem höheren Pfad der Energiepreise begründet (hier in der Pressemitteilung), zeigt, dass sie nicht verstanden hat, dass es keinen Marktmechanismus geben kann, der einen solchen exogenen Effekt, der wiederum temporär sein wird, ausgleichen kann.