Im Englischen gibt es den schönen Ausdruck vom „elephant in the room“, der zwar sehr groß ist, aber scheinbar von niemandem entdeckt wird. Man redet über alles Mögliche, was sich in diesem Raum befindet, nur der Elefant kommt in den Gesprächen nicht vor, obwohl alle höllisch aufpassen müssen, nicht von ihm erdrückt zu werden. Selbst wenn in einem Porzellanladen – um auch eine deutsche Redensart zu bemühen – die Tassen nur so aus den Regalen purzeln, glaubt man eher an ein Erdbeben als an den mitten im Laden stehenden und eigentlich unübersehbaren Elefanten als Verursacher.
Vielleicht neigen Wissenschaftler überdurchschnittlich dazu, das Wesentliche zu übersehen, sehr schnell von dem Elefanten abzulenken und über die ihrer Ansicht nach wirklichen, „tieferliegenden“ Ursachen des Scherbenhaufens zu philosophieren. Ja selbst wenn der Elefant stolz und unüberhörbar trompetet, dass er die Tassen zerdeppert habe, wird er schnell in Schutz genommen und behauptet, er täusche sich, die Tassen wären auch von alleine heruntergefallen.
Marcel Fratzscher zum Beispiel, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, analysiert tagein tagaus die Wirtschaft, kann oder will den aktuell Scherben produzierenden Elefanten aber beim besten Willen nicht entdecken. Im Focus schreibt er über den Verlust wirtschaftlicher Dynamik in Deutschland im internationalen Vergleich, und er findet jede Menge Gründe, warum die Investitionen unzureichend sind und der Export, wie er sich ausdrückt, „bröckelt“.
Ja, so ist es! In einer Weltwirtschaft, wo, wie hier beschrieben, die Politik in allen großen Industrieländern explizit darauf ausgerichtet ist, die Investitionstätigkeit abzubremsen, leidet vor allem das Land, das in den vergangenen beiden Jahrzehnten wie kein anderes darauf gesetzt hatte, Investitionsgüter für den Export zu produzieren. Da auch im eigenen Land die Politik die Investitionstätigkeit im Visier hat, ist es kein Wunder, dass neben dem Export vor allem die unternehmerische Dynamik zu wünschen übriglässt.
Doch das kommt bei Fratzscher nicht vor. Er zählt alles Mögliche auf, nur den Elefanten, die mächtige Politik nämlich, die mitten in einer globalen Abschwächung die Investitionstätigkeit abwürgt, den nennt er nicht.
Wie aber kann es sein, werden Sie nun fragen, dass mitten in einem Abschwung die Wirtschaftspolitik nichts Besseres zu tun hat, als die Investitionen zu reduzieren? Das ist eine gute Frage. Diese Art von Politik nennt man „Inflationsbekämpfung“. Weil die Notenbanken der wichtigsten Regionen überzeugt davon sind, dass aus den Rohstoffpreissteigerungen des vergangenen Jahres auch heute noch, mitten in einer Rezession, eine Inflation werden kann, hat beispielsweise die Europäische Zentralbank (EZB) gerade die Zinsen erneut erhöht.
Zinserhöhung aber zielt auf die Investitionen, worauf sonst? Die EZB ist ja nachgerade stolz darauf, die wirtschaftliche Dynamik deutlich verringert zu haben (wie u. a. hier und hier gezeigt). Wenn also in dem Land, das Weltmarktführer bei der Produktion vieler Investitionsgüter ist, die wirtschaftliche Dynamik verschwindet und in eine Rezession umschlägt, ist das kein Wunder, sondern das Ergebnis der gewollten geldpolitischen Restriktion.
Nur, warum reden die Ökonomen nicht darüber? Warum übersehen sie den gewaltigen Elefanten, der mitten im Raum steht? Wahrscheinlich haben sie selbst die von der EZB eingeschlagene Politik für richtig gehalten oder sie wollen es sich nicht mit den EZB-Verantwortlichen verderben. Warum auch immer, den Ratschlag solcher Berater kann man getrost beiseitelegen.
Bundeskanzler Scholz scheint hingegen den Rat Fratzschers zu beherzigen und geht noch einen Schritt weiter: Er streichelt den Elefanten, wenn er kurz vor dem Wohnungsbaugipfel gegen jede Empirie und gegen jede Logik erklärt, die Zinsen seien nicht das Problem in Hinblick auf den einbrechenden Wohnungsbau.
Es ist eine grandiose Illusion zu glauben, man könne mit einem Sammelsurium von Bürokratieabbau bis Verbesserung der Infrastruktur das enorme Hemmnis überwinden, das die Geldpolitik bewusst aufgebaut hat.
Fratzscher meint, die Vergangenheit habe gezeigt, dass Deutschland sich auch unter extrem ungünstigen Umständen wie nach dem Zweiten Weltkrieg neu erfinden kann. Doch auch da liegt er falsch. Wie hier in einer dreiteiligen Serie gezeigt, waren es vor allem günstige monetäre Bedingungen, nämlich sehr niedrige Zinsen und ein unterbewerteter Wechselkurs, die das deutsche Aufholen nach dem Zweiten Weltkrieg möglich gemacht haben. Gegen hohe Zinsen und den erklärten Willen der Zentralbank, die Konjunktur deutlich zu bremsen, ist noch niemand jemals angekommen.