Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
Bundeskanzler Olaf Scholz ist kein Wirtschaftsexperte. Das erwartet auch niemand. Der Regierungschef der viertgrößten Industrienation der Welt sollte aber Berater haben, die ihn davor bewahren, sich in Wirtschaftsfragen zu disqualifizieren. Solche Berater hat er offensichtlich nicht. Bei einem Bürgergespräch in Ostdeutschland bemerkte der Kanzler, schuld am fehlenden Neubau von Wohnungen sei unter anderem „ein psychologisches Problem durch einen schnellen Zinsanstieg in den vergangenen Jahren“.
Entweder glaubt der Kanzler, nicht der Zinsanstieg als solcher sei ein Problem, sondern nur die Psyche derjenigen, die ein paar hunderttausend Euro leihen wollen, um ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen oder zu bauen. Dann ist ihm wirklich nicht zu helfen. Oder aber, er weiß wohl, wie problematisch der Zinsanstieg ist, will es aber nicht klar sagen, weil er sich dann sachlich mit der Politik der EZB auseinandersetzen müsste, was er vermeiden möchte.
Politik blind für das Offensichtliche
Doch der Bundeskanzler ist nicht der Einzige, der diese Konfliktscheu gegenüber der EZB an den Tag legt. Die gesamte Bundesregierung stellt sich blind und taub, wenn es um die Frage geht, warum sich die deutsche Wirtschaft nach dem Coronaschock auf einer der längsten Talfahrten seit vielen Jahrzehnten befindet. Man diskutiert lieber über zu viel an Bürokratie oder zu wenig an Wettbewerbsfähigkeit, als sich der Frage zu widmen, um die es wirklich geht.
Die Frage nämlich, wie es sein kann, dass ein temporärer Preisschock, der inzwischen überwunden ist, dafür sorgen kann, dass die deutsche und mit ihr die gesamte europäische Wirtschaft über Jahre leiden. Insbesondere der Rückgang der Investitionstätigkeit in der Bauwirtschaft und in allen übrigen Bereichen wird Europa angesichts der vielen Herausforderungen nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig massiv schaden – von den politischen Folgen ganz zu schweigen.
Der Wirtschafts- und der Finanzminister behaupten in seltener Einigkeit, Deutschland sei nicht mehr ausreichend wettbewerbsfähig (hier zitiert). Worauf beide ihre Einschätzung jenseits von Klagen aus Unternehmerkreisen stützen, weiß man nicht. Auch sie reden nicht über das Offensichtliche, sondern über das Nebensächliche. Zwar läuft in Deutschland der Export schwach, aber die Importe laufen noch viel schwächer. Das ist kein Beleg für geringe Wettbewerbsfähigkeit, sondern für einen Mangel an Nachfrage aus dem In- und Ausland.
Der deutsche Überschuss im Außenhandel wird in diesem Jahr voraussichtlich bei über 200 Mrd. Euro liegen und im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) zunehmen gegenüber 2023. Vergangenes Jahr betrug er über 4 Prozent des deutschen BIP und fiel mehr als doppelt so hoch aus wie 2022. Das lag an der Verbesserung der Außenhandelspreisverhältnisse (terms of trade) aufgrund der wieder sinkenden Preise für fossile Rohstoffe – die deutsche Wettbewerbsfähigkeit nahm 2023 also zu. Der Handelsüberschuss pro Kopf der Bevölkerung wird dieses Jahr hierzulande ungefähr viermal so groß sein wie in China. Will man diesen Überschuss durch eine Steigerung der deutschen Wettbewerbsfähigkeit noch einmal erhöhen und Länder wie die USA dazu provozieren, noch mehr protektionistische Maßnahmen einzuführen?
Gerade hat das ifo-Institut gemeldet, dass im Januar die Zahl der Unternehmen in Deutschland, die einen Mangel an Aufträgen konstatieren, gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum von 20 auf 37 Prozent gestiegen ist. Das ist ein eindeutiges Indiz. Der Maschinenbau klagt über rückläufige Nachfrage im In- und im Ausland. Die Auftragseingänge in der Industrie insgesamt sind eindeutig rückläufig – und zwar aus dem In- wie aus dem Ausland, wie wir weiter unten in Abbildung 2 und 3 noch veranschaulichen.
Auch der Einzelhandel in Deutschland und Europa sieht sich nach dem deutlichen Rückgang im ersten Halbjahr 2022 aufgrund des Ukrainekriegs einer seit einem Jahr stagnierenden Nachfrage gegenüber (Abbildung 1). Zwar erholte sich Deutschland hier nach dem Coronaschock schneller als die meisten anderen Länder, aber der Vorsprung ist verschwunden und es scheint, als würde Deutschland mittlerweile den Rest Europas mit nach unten ziehen.
Abbildung 1
Wirtschaftsberatung wie Medien blind für das Offensichtliche
Aber auch „führende“ Ökonomen stehen der Politik, was den Mangel an klarer Analyse betrifft, in nichts nach. Der Präsident des eben genannten Instituts, das im Januar den stark zunehmenden Auftragsmangel ermittelt hat, stellte noch im Dezember 2023 fest:
„Es gibt ja, wenn Sie so wollen, zwei Arten von Rezession. Die eine ist eine klassische Rezession, von Nachfrageschwäche getriebene Rezession: Die Nachfrage sinkt und die Unternehmen werden ihre Produkte nicht mehr los. Dann ist es problematisch, wenn der Staat zusätzlich die Nachfrage reduziert. Das ist aber primär nicht die Rezession, die wir haben. Das können Sie daran erkennen, dass wir zwar eine schwache Wirtschaftsentwicklung haben – eine wirkliche Rezession im Moment wohl nicht -, aber wir haben hohe Inflation. Das heißt, wir sind in einer Stagflationssituation. Und bei hoher Inflation ist es so, dass es an allen möglichen Dingen mangelt, aber nicht an Nachfrage. Wenn also der Staat die Nachfrage weiter herunternimmt, ist das kein Problem, weil wir nicht leere Kapazitäten haben, die dann noch stärker unterausgelastet werden, sondern dann sinkt eben die Inflation etwas. Das können Sie auch daran erkennen, dass wir niedrige Arbeitslosigkeit haben im Moment.“
Das ist toll. Clemens Fuest kennt zwar eine „klassische, von Nachfrageschwäche getriebene Rezession“, er kann aber nicht eine klassische, nachfragegetriebene Inflation von einer temporären, von Angebotsschocks ausgelösten Preissteigerung unterscheiden. Folglich lag er bei seiner Lageeinschätzung vollkommen falsch, wie sein eigenes Institut nun bestätigt hat, und hat entsprechend vollkommen falschen Rat gegeben.
Die Unfähigkeit, sich sachlich fundiert mit der Wirtschaft auseinanderzusetzen, zeigt sich auch in der Konfusion, die Tag für Tag durch die Medien geistert. Die nur absurd zu nennende These, zunehmende Krankmeldungen hätten im vergangenen Jahr die Rezession verursacht, schafft es mit einem langen Bericht in die Tagesschau. Dass Unternehmen, die eine viel zu geringe Nachfrage haben, nicht in der Lage wären, wegen Krankheit der Mitarbeiter die vorhandene Nachfrage abzuarbeiten, obwohl ihre Kapazitäten unterausgelastet sind, ist auszuschließen. Jedes Unternehmen hat den Spielraum, einmal wegen vermehrter Krankmeldungen ausgefallene Produktion im Laufe des Jahres nachzuholen.
Offenbar fehlt es bei den Wirtschaftsberichterstattern an fachlichen Kenntnissen: In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wird das Bruttoinlandsprodukt auf drei Arten ermittelt: einmal nach der Entstehungsseite (Wieviel wird produziert?), einmal nach der Verwendungsseite (Wieviel wird nachgefragt?) und einmal nach der Verteilungsseite (Wer verdient was?). Sind überdurchschnittlich viele Arbeitskräfte krank, mag das die Produktion behindern. Sollte die Nachfrage deshalb nicht ausreichend bedient werden können, müsste die Lagerhaltung sinken und würde die Preissteigerung zulegen. Beides war ausweislich der Berechnungen des Statistischen Bundesamtes 2023 nicht der Fall: Die Lagerhaltung nahm um 64 Milliarden Euro zu (das sind immerhin 1,5 Prozent des BIP) und die Preissteigerungsrate ist auf dem Rückzug.
Die Talfahrt ist dramatisch
Die Talfahrt der deutschen Industrie hält nun schon zwei Jahre an. Der Auftragseingang im Verarbeitenden Gewerbe sinkt seit Anfang 2022 (Abbildung 2 und 3). Die Indizes ohne Großaufträge (das ist die rote Linie in Abbildung 2) zeigen einen nahezu kontinuierlichen Rückgang; die Großaufträge überdecken die Grundtendenz immer nur temporär.
Abbildung 2
Abbildung 3 zeigt, dass die Auslandsnachfrage vergleichsweise immer noch eine Stütze der deutschen Konjunktur ist. Die Auslandsnachfrage war nach dem Coronaschock weit stärker gestiegen als die Inlandsnachfrage und bewegt sich trotz des starken Rückgangs immerhin noch in der Nähe des Niveaus von 2015, während die Nachfrage aus dem Inland mittlerweile 15 Prozentpunkte unter dem Niveau von 2015 liegt.
Abbildung 3
Dramatisch ist auch die Lage bei der Investitionsnachfrage (Abbildung 4), obwohl Deutschland nichts dringender braucht als steigende Investitionen. Der wichtigste Indikator für die heimische Investitionstätigkeit, die Inlandsnachfrage in der deutschen Investitionsgüterindustrie, ist genau wie die gesamte industrielle Inlandsnachfrage seit Anfang 2022 um rund fünfzehn Prozentpunkte abgerutscht, ohne dass es Anzeichen für eine Wende gäbe.
Abbildung 4
An der Entwicklung der Industrieproduktion (Abbildung 5) kann man erkennen, wie sehr sich Deutschland bei der industriellen Entwicklung von Europa nach unten abgekoppelt hat. Das hat damit zu tun, dass Deutschland als der wichtigste Produzent von Investitionsgütern von der europäischen Dauerflaute (hier sind die Gründe dafür beschrieben) und der weltweiten Zinswende besonders hart getroffen wird. Frankreich etwa stagniert auf dem 2015er Niveau und hält sich damit deutlich besser, vermutlich weil die Regierung einen wesentlich vernünftigeren finanzpolitischen Kurs fährt.
Abbildung 5
Deutschland und Europa brauchen dringend eine Kehrtwende in Sachen Wirtschaftspolitik. Aber die wird von Deutschland sowohl innerhalb der EZB als auch in Brüssel verhindert.
Das „Biest“ ist tot, aber nichts ist gewonnen
Wir haben in den vergangenen Monaten schon oft erklärt, warum die Diagnose „Inflation“ für die temporären Preissteigerungen der vergangenen Jahre nicht zutrifft (hier zuletzt). Von Monat zu Monat zeigt sich nun auch in der Statistik klarer, dass die hohen Preissteigerungsraten der Vergangenheit angehören. Das ist absolut evident auf der Ebene der Erzeugerpreise in der Industrie der EWU (Abbildung 6). Die Abbildung zeigt, dass die Preissteigerungsdynamik vollständig gebrochen ist. Ob man über 12, über 6 oder über drei Monate rechnet, es gibt in der Industrie keine nach oben gerichtete Preisdynamik im Sinne einer erneuten Beschleunigungsgefahr. Eher ist eine deflationäre Entwicklung unterhalb des Inflationsziels der EZB zu erwarten.
Abbildung 6
Das gilt auch für die Erzeugerpreise ohne Energie (Abbildung 7). Hier gibt es eine Angleichung aller drei Raten unterhalb von null, was zeigt, dass auch hier keine Preissteigerungen in der Pipeline sind, die das Erreichen des Inflationsziels der EZB gefährden würden.
Abbildung 7
Das gleiche Muster ist bei den Verbraucherpreisen insgesamt und bei der sogenannten Kernrate (also ohne Energie und Nahrungsmittel) zu erkennen (Abbildungen 8 und 9). Nur die 12-Monatswerte liegen in beiden Abbildungen noch über dem Inflationsziel. Doch das hat keine Bedeutung für die Inflationsdynamik, weil die beiden zeitnäher berechneten Größen zeigen, dass sich diese Dynamik in die richtige Richtung entwickelt oder sogar nach unten überschießt.
Abbildung 8
Abbildung 9
Das Versagen der EZB
Dass die Spitze der EZB nicht auf solche Graphiken zurückgreift, sondern in ihrer Kommunikationsstrategie stur an den Vorjahresraten festhält, zeigt, dass sie kein wirkliches Interesse daran hat, die wichtigen Vorgänge transparent zu machen und zu erklären. Sie will unter allen Umständen ihr rigoroses Vorgehen verteidigen und auf billige Art und Weise davon ablenken, dass sie seit Beginn des Jahres 2022 mit ihrer Einschätzung einer wirklichen Inflationsgefahr falsch lag. Auch jetzt kann man schon sagen, dass die von der EZB-Spitze verbreitete Vorstellung, erst 2025 werde die europäische Inflationsrate wieder auf dem Inflationsziel liegen, ohne weitere äußere Schocks eine glatte Fehleinschätzung ist.
Wenn Joachim Nagel, der Präsident der Deutschen Bundesbank, Ende Januar sagt, die EZB habe das „gierige Biest“ der Inflation gezähmt, benutzt er nicht nur eine in der Sache unangemessene Sprache, sondern suggeriert auch, für die Zähmung des Biests sei ein erhebliches Opfer in Form des wirtschaftlichen Rückschlags angemessen. Das ist eine Behauptung, die von der Entwicklung in den USA glatt widerlegt wird. Der Verlauf der Preisentwicklung entspricht in den USA weitgehend dem in Europa (wie hier gezeigt). Dort ist die rückläufige Preisentwicklung aber ohne jeden wirtschaftlichen Rückschlag eingetreten. Offenbar bedurfte es dafür keines Nachfragerückgangs. Weil der Staat in den USA eine extrem expansive Fiskalpolitik betrieb und weiter betreibt, wurde die restriktive Wirkung der Zinsanhebungen der FED mehr als ausgeglichen. Trotzdem trat die Beruhigung bei der Preisentwicklung ein.
Noch abwegiger sind die Ideen des Präsidenten der österreichischen Zentralbank, Robert Holzmann. In einem FAZ-Interview redet er von einem Sparüberhang bei den privaten Haushalten, der durch die hohe Inflation zwar reduziert worden sei, aber „immer noch real da ist“, was in seinen Augen Inflationspotenzial in sich birgt. Man fragt sich, warum sich dieser angebliche Sparüberhang aktuell nicht in einer wenigstens konstanten privaten Konsumnachfrage bemerkbar macht und wann er denn wieder so zum Tragen kommen könnte, dass die Unternehmen kräftiger an der Preisschraube zu drehen beginnen. Ganz offenbar verhalten sich die privaten Haushalte prozyklisch – und genau das ist das Problem, vor dem die Wirtschaft steht und das die Politik einschließlich der Zentralbank lösen soll und nicht verschärfen darf.
Wie wenig dieser Zentralbankchef von den tatsächlichen Zusammenhängen versteht, offenbart er noch deutlicher mit folgender Antwort auf die Frage, wo er noch Aufwärtspotential für die Inflation sehe: „Und nicht zuletzt gab es in China Turbulenzen mit einer erheblichen Vernichtung von Finanzvermögen. Das sind gewaltige Verschiebungen, die Auswirkungen auch auf die wirtschaftliche Entwicklung hierzulande haben können.“ Vermutlich regt sich beim durchschnittlichen FAZ-Leser angesichts dieses Unfugs keinerlei Zweifel an der Kompetenz des Befragten: China – Turbulenzen – Vernichtung von Finanzvermögen – Gefahr für uns? Das passt alles ins platte Weltbild der Bedrohung aus Fernost, warum also nicht auch zu Inflationssorgen, auf die die EZB so dringend angewiesen ist, um ihren abwegigen Kurs zu verteidigen?
Komisch nur, dass der FAZ-Redakteur als eingefleischter Monetarist nicht zurückfragt, warum eine Vernichtung von Finanzvermögen, also eine Verkleinerung des nach Ansicht von Monetaristen existierenden weltweiten Geldbergs, zu Inflation führen sollte? Selbst wenn man nicht an einen Geldberg glaubt, müsste man Robert Holzmann die Frage stellen, warum konjunkturelle Schwierigkeiten in China bei uns zu Inflation führen sollten. Denn wenn unsere Exporte nach China sinken, reduziert das die Auslastung der deutschen Exportindustrie – kein Anlass für Preissteigerungen. Und wenn chinesische Firmen ihre Exporte zur Überwindung der eigenen Konjunkturschwäche ankurbeln wollten, werden sie das kaum mit steigenden Preisen angehen.
Robert Holzmann befürwortet, 2024 keine Zinssenkungen vorzunehmen oder allenfalls erst gegen Ende des Jahres. Diese Position ist durch nichts zu rechtfertigen. Auf wie schwachen Füßen sie steht, belegt dieses Interview unmittelbar. Wird sie realisiert, richtet das gewaltigen Schaden in Europa an.