Dieser Artikel ist heute bei Telepolis erschienen
Deutschland ist stolz auf seine Marktwirtschaft. Manche nennen das deutsche Wirtschaftssystem „soziale Marktwirtschaft“, da man glaubt, die Marktwirtschaft sei per se sozial, weil sie dazu beiträgt, für alle Menschen die Lebensumstände zu verbessern. Der Held der Marktwirtschaft, sozial oder nicht, ist der Unternehmer. Wie alle guten Liberalen und Marktwirtschaftler wissen, ist er es, der das System vorantreibt, investiert, Neuerungen einführt und damit neue Einkommensmöglichkeiten für alle schafft.
Komisch ist nur, dass gerade diejenigen, die die Marktwirtschaft wie eine Monstranz vor sich hertragen, am wenigsten verstehen, welche Rolle ihr Held in einer komplexen Wirtschaft spielt. Klar, jeder kennt einen erfolgreichen Unternehmer und weiß, welche Heldentaten der im Einzelnen vollbracht hat. Wenn es aber um die Frage geht, ob und wie man den Unternehmern, die derzeit kollektiv in Deutschland in Schwierigkeiten sind, von Seiten des Staates unter die Arme greifen kann, zeigt sich, dass die größten Verkünder der marktwirtschaftlichen Lehre am wenigsten über die Marktwirtschaft wissen.
So sind sich der deutsche Wirtschafts- und Finanzminister einig, dass man die deutschen Unternehmen jetzt entlasten muss, um die Investitionstätigkeit anzuregen und die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Robert Habeck und Christian Lindner haben das gerade unabhängig voneinander verkündet. Jeder glaubt, dass der Staat bei ausreichendem politischem Willen einfach die Unternehmenssteuern senken, Abschreibungen erleichtern oder noch mehr Subventionen verteilen kann, so dass dann alles wieder gut wäre. Die Frage scheint derzeit nur zu sein, woher der Staat – bei Einhaltung der Schuldenbremse – das Geld nimmt, das man braucht, um auf diese Weise „etwas für die Wirtschaft zu tun“.
Fände man eine solche Quelle, also eine Stelle, wo der Staat ohne allzu großen politischen Widerstand seine bisherigen Ausgaben zurückfahren oder für die Steuerentlastung des Unternehmenssektors anderswo die Steuern erhöhen kann, hätte niemand einen Zweifel, dass man dann den Unternehmen helfen und die deutsche Wirtschaft anregen könne. Das aber ist falsch. Das kann man nicht.
Die Unternehmen beziehen das Residualeinkommen
Die Unternehmen haben in der Marktwirtschaft eine ganz besondere Stellung und genau die verhindert, dass man mit einfachen Milchmädchenrechnungen à la Habeck oder Lindner etwas erreichen kann. Die Unternehmen beziehen nämlich das als Einkommen, was übrigbleibt, wenn alle vertraglichen Verpflichtungen für die Arbeitnehmer, die eigenen Lieferanten und den Staat erfüllt sind. Das nennt man das Residualeinkommen. Das ist Fluch und Segen zugleich. Reicht der unternehmerische Ertrag nicht aus, alle vertraglichen Verpflichtungen zu bedienen, schauen die Unternehmen in die Röhre und müssen im Zweifel Insolvenz anmelden. Kommt viel mehr Ertrag herein, als den vertraglichen Verpflichtungen entspricht, schwimmen die Unternehmen womöglich in Gewinnen.
Für den Staat, der die Unternehmen entlasten will, wird die Sache dadurch kompliziert. Nimmt er den Unternehmen etwa 10 Milliarden weniger Steuern ab und finanziert den Einnahmeausfall beispielsweise durch die Verringerung des Bürgergeldes, werden die Empfänger des Bürgergeldes ihre Nachfrage nach den Produkten der Unternehmen genau um die 10 Milliarden verringern, die der Staat den Unternehmen zukommen lassen wollte. Dass sich dann per Saldo die Situation der Unternehmen verbessert, ist nicht zu erwarten. Auf keinen Fall werden sie mehr investieren, weil ihr aktuelles Geschäft schlechter läuft als erwartet. Ganz gleich, wo der Staat seine Ausgaben kürzt oder welche Steuern er an anderer Stelle erhöht, um die Unternehmenssteuersenkung zu finanzieren, immer schlägt die Finanzierung unmittelbar oder mittelbar negativ auf die Unternehmen zurück.
Daraus folgt ganz eindeutig, dass der Staat die Einkommenslage der Unternehmen nur verbessern kann, wenn er auf eine Gegenfinanzierung seiner Maßnahmen verzichtet, was heißt, dass er die Mittel dafür am Kapitalmarkt aufnimmt. Nur durch höhere Verschuldung kann Geld bereitgestellt werden, das nicht an anderer Stelle die Residualeinkommen vermindert. Für eine wirkliche Verbesserung der Investitionsbedingungen kommt noch hinzu, dass nicht gleichzeitig die Zinsen steigen dürfen, weil auch das die positive Wirkung einer schuldenfinanzierten Entlastung der Unternehmen zunichte machen könnte.
Niedrigere Zinsen sind die sicherste Art der Entlastung
Würde etwa eine (unabhängige) Notenbank die Zinsen erhöhen, weil sie im Falle der Schuldenfinanzierung Sorge um die Solidität der Staatsfinanzen hat, könnte der Staat sich auch diesen Versuch der Entlastung der Unternehmen von vorneherein sparen. In dem Fall gibt es überhaupt nur die Geldpolitik, die durch Zinssenkungen eine Entlastung der Unternehmen in Gang setzen kann. Da aber zumindest in Europa die konjunkturelle Entwicklung nicht zu den Zielen der Zentralbank gehört, liegt man nicht falsch mit der Einschätzung, es gebe keine systematische Möglichkeit für den Staat, die Wirtschaft anzuregen, weil er immer auf die Zusammenarbeit mit der Notenbank angewiesen ist, die er aber nicht einfordern kann.
Sieht hingegen die Notenbank, dass es notwendig ist, die Wirtschaft zu entlasten, kann sie das durch eine Zinssenkung jederzeit ohne weitere Kosten tun. Ist jedoch, wie derzeit in Europa, die Notenbank darauf ausgerichtet, um jeden Preis Preisstabilität herzustellen und hält die Zinsen trotz deutlich nachlassender Inflationsgefahr hoch, kann der Staat sich nahezu jede Überlegung zur Anregung der Wirtschaft sparen. Der Staat müsste, wie es die USA nach Corona getan haben, mit gewaltigen geliehenen Summen in die Bresche springen, um eine Wende herbeizuführen. Das aber ginge nur mit einer Zentralbank, die, wie die amerikanische, explizit auch auf das Ziel der Vollbeschäftigung festgelegt ist.
Europa hat sich selbst in die Sackgasse gefahren
Was Europa und Deutschland braucht, ist gerade nicht die Art von Diskussion, wie sie von Lindner und Habeck derzeit geführt wird. Unbedingt notwendig ist die Erweiterung des Blickfeldes der Politik und der meisten Ökonomen um die makroökonomische Dimension. Doch genau das wollen die Liberalen und Libertären nicht, weil der Blick über den Horizont der schwäbischen Hausfrau hinaus ideologisch verboten ist, weil man damit Keynesianismus assoziiert. Deswegen führt der Bundesfinanzminister, der nach eigenem Bekunden gerne mit Andersdenkenden „ins Gespräch kommen will“, langatmige Diskussionen mit Ultra-Libertären (wie hier in Leipzig mit Gunther Schnabl), wo man sich nur gegenseitig selbst bestätigt, statt sich einmal einer ernsthaften Auseinandersetzung mit wirklich Andersdenkenden zu stellen.
Bei einer solchen Auseinandersetzung würde sich zeigen, dass es die um die Makroökonomie verkürzten Vorstellungen der Nordländer einschließlich Deutschlands waren, die Europa und die europäische Währungsunion in die missliche Lage geführt haben (wie hier gezeigt). Doch anstatt mit den anderen Europäern in der derzeitigen Lage darüber offen zu reden, gräbt man sich noch tiefer in die eigenen Schützengraben ein, so dass man den Horizont garantiert nicht mehr sieht.
Man mag als Politiker, der sich zur Wahl stellen muss, einwenden, es sei doch bei der derzeitigen Einstellung der deutschen Bevölkerung zu solchen Fragen praktisch unmöglich, mit einer wirtschaftspolitischen Kehrtwende auch nur einen Blumentopf zu gewinnen. Das ist vermutlich richtig. Wenn aber die Kehrtwende nicht versucht wird, wenn man nicht alles unternimmt, um mit der Bevölkerung offen zu sprechen und die Diskussion auf eine neue Ebene zu heben, braucht man bald gar keine Politiker mehr, die sich zur Wahl stellen.
Dann wird nämlich nicht mehr diskutiert, sondern es wird ohne Diskussion von oben festgelegt, wer wie zu denken hat. Faschismus nennt man das. Demokratie lebt von der offenen Auseinandersetzung. Aber wenn sie dazu unfähig ist und genau deswegen wirtschaftlich total versagt, dann kommen diejenigen an die Macht, denen jede Art von Diskussion zuwider ist und die Diskussion selbst für das Versagen des Staates verantwortlich machen.