Dieser Artikel ist heute im Overton-Magazin des Westend -Verlages erschienen
Demokratie ist ein einfaches Staatssystem, theoretisch zumindest. Das Volk, der Souverän, wird zur Wahl aufgefordert und wählt zwischen denen, die sich zur Wahl stellen. Diejenigen, die eine Mehrheit der Sitze im Parlament gewinnen, bilden eine Regierung und entscheiden in allen wichtigen Fragen für die nächsten vier oder fünf Jahre. Das System ist so unschlagbar gut, dass wir es als alternativlos ansehen und jedes Land auf der Welt mit Verachtung strafen, das sich nicht an diese einfachen Regeln hält.
Kein Erdrutschsieg in UK
In der Praxis ist es allerdings mitnichten einfach. In Europa beispielsweise durften die Bürger zwar wählen, was auch etwa 50 Prozent getan haben. Aber die in das Parlament Gewählten dürfen keine Regierung bilden, sondern dürfen nur das Verhandlungsergebnis der nationalen Regierungschefs abnicken, die sich vorbehalten haben, die europäische Kommission zu bilden – was immer auch das Volk dazu gesagt hat. Obwohl quer durch Europa bei der Europawahl die Antieuropäer auf dem Vormarsch sind, haben die „guten Europäer“ entschieden, dass Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin bleiben soll: obwohl es ohne Zweifel das Versagen ihrer Kommission war, das die Erfolge der Gegner Europas möglich gemacht hat.
In England hat es nach dem Eindruck vieler Beobachter vergangene Woche einen Erdrutschsieg der Opposition gegeben. New Labour mit Keir Starmer hat in der Tat die Mehrheit der Sitze gewonnen. Schaut man auf die Anzahl der Stimmen, sieht das Bild ganz anders aus: New Labour lag bei einer geringen Wahlbeteiligung bei 34 Prozent der Stimmen, was absolut und relativ weit weniger ist, als Old Labour bei der letzten Wahl mit Jeremy Corbyn gewonnen hatte, ohne die Regierung bilden zu können. Der wichtigste Grund dafür ist das Wiedererstarken von Nigel Farage, der zwar nur einen Sitz gewann, aber 14 Prozent der Stimmen holte. Wohlgemerkt, das ist der Mann, der wie kaum ein anderer die Engländer in Sachen Brexit hinters Licht geführt hat.
In Frankreich hat der Präsident in seiner Allmacht nach der Europawahl das Parlament aufgelöst und innerhalb von drei Wochen Neuwahlen verordnet, weil er glaubte, auf diese Weise die Rechte noch einmal von der Macht fernhalten zu können. Doch 46 Prozent der französischen Wähler haben im zweiten Wahlgang für eine rechte, für eine antieuropäische Partei gestimmt, wenn man die zwei kleinen Fraktionen der Republikaner (ehemals Gaullisten) mit jeweils fünf Prozent dazu zählt. Mit 32 Prozent wurden diejenigen, die von der Macht ferngehalten werden sollen, klar die stärkste Partei. Nur weil das Wahlrecht die Blockade der Mehrheit möglich macht, hat man „in der Mitte“ über Nacht eine Koalition geschlossen – allerdings ohne jemals inhaltlich miteinander geredet zu haben.
Der kleine gemeinsame Nenner des Neoliberalismus
In Deutschland mit seinem Verhältniswahlrecht wird es unübersichtlich, sobald fünf oder sechs Parteien den Einzug ins Parlament schaffen. Man versucht nach der Wahl Koalitionen zu bilden, was aber nicht zu wirklicher Regierung führt, weil die Parteien ideologisch weit auseinanderliegen und sich deswegen nur auf den kleinen gemeinsamen Nenner des Neoliberalismus einigen können. So kommt es dazu, dass die Spitzen einer Dreier-Koalition, die sachlich kaum Gemeinsamkeiten hat, 80 Stunden lang zusammensitzen, um sich auf Grundzüge eines Jahreshaushalts zu einigen.
Am tollsten ist es in den USA. Da ist die Demokratie scheinbar noch stabil, aber das liegt nur daran, dass niemand Präsident werden kann, der nicht zumindest das halbe Establishment hinter sich sammelt. Bei nur zwei ernstzunehmenden Parteien geht es vor allem darum, möglichst viel Geld von privaten Sponsoren einzusammeln, weil man ohne deren Geld niemals den Hauch einer Chance hat, die Macht zu erringen. Wer dann den „demokratisch gewählten“ Mächtigen sagt, was sie zu tun und zu lassenhaben, kann man sich leicht vorstellen. Dass derzeit zwei sehr alte weiße Männer mit unterschiedlichen Gebrechen um die Gunst des Geldadels kämpfen, bringt rund um die Welt hohe mediale Aufmerksamkeit mit sich. Doch die viel wichtigere Frage, ob man ein System noch Demokratie nennen kann, wo die Einstiegshürden für neue Parteien unendlich hoch sind und das große Geld darüber bestimmt, wer Präsident wird, diese Frage wird kaum einmal gestellt.
Für alle diese „Demokratien“ ist es charakteristisch, dass sie ihr Parteienspektrum unaufhaltsam nach rechts bewegt. Selbst in England ist New Labor so weit in die Mitte gerückt, dass links nur noch Splittergruppen existieren. Das ist die Folge des wirtschaftspolitischen Einheitsbreis (des neoliberalen Mainstreams), der spätestens seit Ende der Achtzigerjahre als „alternativlos“ angesehen wird. Weil es keine Blöcke mehr gibt, die sich in ihrer wirtschafts- und sozialpolitischen Programmatik deutlich unterscheiden und folglich auch keine ernsthaften Auseinandersetzungen zu diesem zentralen Thema mehr stattfinden, entscheiden sich immer mehr Wähler für die Parteien, die platt behaupten, die Fremden seien schuld an der allgemeinen Misere. Globalisierung, Europäisierung und Migration können ja nur schuld sein, wenn es keiner Partei mehr gelingt, die wirtschaftlichen Sorgen der Massen zu adressieren und eine allgemeine Verbesserung der Wirtschaftslage in Gang zu setzen.
Nur noch eine wirtschaftspolitische Ausrichtung
Dass alle Parteien mit ihrem neoliberalen Mainstreambrei daneben liegen, kann ja wirklich niemand glauben. Würde man den Menschen gar vermitteln, dass auch die Migration die Folge des wirtschaftspolitischen Versagens des Neoliberalismus ist (wie hier gezeigt), ihr Weltbild wäre total erschüttert. Doch das sagt niemand, weil seit dem Ende des Sozialismus alle ganz fest daran glauben, es gebe nur noch eine wirtschaftspolitische Ausrichtung, die von den unterschiedlichen Parteien zwar facettenreich ausgelegt wird, aber prinzipiell nicht unterscheidbar ist.
Man sieht, „Demokratie“ funktioniert viel besser mit einer klaren ideologischen Polarisierung. Länder mit großen ideologischen Differenzen, die zu einer Blockbildung führt, sind demokratisch klar im Vorteil gegenüber denen, wo die Parteien sich kaum noch unterscheiden. Nur wenn, wie in den USA, das große Geld von vorneherein die Weichen für ein Zwei-Parteien-System stellt, gibt es keine Zersplitterung der Parteienlandschaft. Aber auch dann besteht die Gefahr, dass sich eine Seite dadurch zu profilieren versucht, dass sie Randthemen in den Vordergrund schiebt, um vom Versagen des allgemein akzeptierten Neoliberalismus abzulenken. So gibt selbst der superneoliberale Trump immer wieder den Anwalt des kleinen Mannes, indem er, dessen Großvater noch eingewandert ist, im Einwanderungsland USA die „Gefahren“ der Einwanderung zum zentralen Thema seiner Wahlkämpfe macht. Auch die deutsche superneoliberale „Alternative“, die AfD, schwimmt auf dieser lächerlichen Welle, weil sie sonst selbst nicht wüsste, warum sie eine Alternative sein sollte.