100 Billionen Dollar an Staatsschulden: Wer weckt wen und warum eigentlich?

Das Schauspiel ist immer wieder beeindruckend. Die klugen Volkswirte wiegen bedenklich mit den Köpfen und heben warnend ihre Zeigefinger: die Staaten der Welt leben über ihre Verhältnisse und die aufgetürmten Berge an Staatsschulden überschreiten die Schwelle des Begreifbaren. Einhundert Billionen Dollar wird man am Ende des Jahres auf den Schuldturm der Welt schreiben müssen. Insbesondere die USA machen Schulden, als gäbe es kein Morgen.

Wenn dann noch „die“ global agierende Organisation, der Internationale Währungsfonds (IWF), in genau das gleiche Horn bläst, gibt es bei den neoliberalen Autoren kein Halten mehr. In der FAZ versteigt sich Gerald Braunberger zu der nur schwer nachzuvollziehenden Aussage, der Weckruf des Währungsfonds sei zwar zeitgemäß, habe aber noch den Zeitgeist gegen sich. Wörtlich schreibt der Herausgeber der FAZ:

Kurz vor seiner Herbsttagung hat der Internationale Währungsfonds vor den sich aufbauenden Türmen der Staatsverschuldung in der Welt gewarnt. Nach seinen Schätzungen dürften die Staatsschulden am Ende des Jahres mehr als 100 Billionen Dollar betragen; dies entspräche 93 Prozent der Wirtschaftsleistung (Bruttoinlandsprodukt) aller Nationen. Der Fonds plädiert für eine rasche, aber auch nachhaltige Konsolidierung der Staatsschulden, um künftige Schuldenkrisen mit schwer absehbaren Konsequenzen zu vermeiden.

Der Währungsfonds verfügt über gute ökonomische Argumente, aber er hat noch den Zeitgeist gegen sich. Der Weckruf des Währungsfonds ist unbequem, aber zeitgemäß. Wenn Regierungen nicht länger Probleme mit viel Geld zuschütten können, müssen sie nach sinnvollen Lösungen Ausschau halten. Das führt im Endeffekt zu einer besseren Politik. Finanzpolitische Konsolidierungen sind schwierig, langwierig und unbeliebt. Aber sie sind notwendig.

Im österreichischen Standard wird zum gleichen Thema zwar auch mit gewaltigen Zahlen jongliert, aber die Autoren können sich nicht entscheiden, ob sie angesichts der Dimension der amerikanischen Schuldenwirtschaft bloß erschrocken oder doch auch beeindruckt sein sollten. Im Jahr 1990 lag die amerikanische Staatsverschuldung noch bei 40 Prozent des BIP, in diesem Jahr wird sie die historische Marke von 100 Prozent fast erreichen. In Österreich ist man sich sicher, dass angesichts solcher Entwicklungen wie in den USA in Europa die Nerven blank liegen würden, aber die Autoren des Standard bemerken immerhin, was der FAZ entgangen ist, nämlich dass die „Schuldenparty“ der USA auch Vorteile in Form von deutlich höherem Wachstum hat. 

Wer angesichts solcher Bedrohungsszenarien und der unvorstellbar großen Zahlen noch nicht vom Hocker gefallen ist, sollte einfach einen Moment nachdenken. Wenn die Staaten der Welt um 100 Billionen über ihren Verhältnissen leben, also mehr ausgeben, als sie einnehmen, wer lebt dann und um wieviel genau unter seinen Verhältnissen, gibt also weniger aus als er einnimmt? 

Die Antwort ist furchtbar einfach: Die privaten Haushalte der Welt und die Unternehmen der Welt zusammengenommen leben um genau 100 Billionen unter ihren Verhältnissen, denn die Welt insgesamt kann ja nicht mehr tun, als entsprechend ihren Verhältnissen zu leben, und andere Akteure gibt es einfach nicht.

Nun muss man nur eine einzige Frage beantworten, um zu einem fundierten Urteil über die Staatsschulden zu kommen. Haben die privaten Haushalte und die Unternehmen freiwillig gespart, also unter ihren Verhältnissen gelebt, oder hat der Staat sie dazu gezwungen? Auch die Antwort kann nicht umstritten sein: Niemand zwingt die Haushalte und die Unternehmen dazu, einen Teil ihrer Einnahmen nicht wieder auszugeben, sondern zur Bank oder auf die Kapitalmärkte zu tragen und auf eine Verzinsung zu warten. 

Wer aber freiwillig sein Geld auf den Kapitalmarkt trägt, erwartet offenbar, dass es dort Akteure gibt, die bereit sind, über ihre Verhältnisse zu leben, Kredite aufzunehmen, das aufgenommene Geld zu investieren und aus der Rendite der Investition Zinsen für die Sparer zu bezahlen. 

Wer jedoch sollte dieser Akteur im globalen Maßstab sein, wenn sowohl die privaten Unternehmen als auch die privaten Haushalte es vorziehen, auf der Sparerseite zu stehen?

Wenn der „Weckruf“ des IWF den Zeitgeist gegen sich hat, ist der Zeitgeist ein kluger Bursche (oder ein Mädel natürlich). Wer dagegen den Weckruf für zeitgemäß hält, der hat weder die Zeichen der Zeit noch fundamentale gesamtwirtschaftliche Logik verstanden. Dass man Letzteres sogar dem IWF vorwerfen muss, zeigt, dass man mit der herrschenden Lehre in der Ökonomik endgültig und vollständig brechen muss (wie hier geschehen).