Ist es nicht erstaunlich? Alle Welt klagt über die abstürzende deutsche Wirtschaft, aber das Statistische Bundesamt meldet Quartal für Quartal, dass alles so schlimm nicht sei. Im ersten Quartal dieses Jahres, so das Amt, sei die deutsche Wirtschaft um 0,2 Prozent gewachsen. Für das zweite Quartal dieses Jahres stand zunächst nur der kaum messbare Rückgang von 0,1 Prozent zu Buche, was Stagnation, aber kaum Rezession genannt werden konnte. Inzwischen wurde das zweite Quartal aber auf minus 0,3 revidiert, was schon weit weniger zuversichtlich aussieht. Im gleichen Atemzug aber verkündete das Amt jedoch, im dritten Quartal sei man wieder auf Kurs mit einem Wachstum von 0,2 Prozent.
Ein Auf und Ab, aber keine Rezession
Betrachtet man die letzten sieben Quartale des Verlaufs des BIP nach amtlicher Rechnung (der saison- und kalenderbereinigt Wert, der in der vorletzten Spalte der Tabelle aufgeführt ist), ergibt sich eine wunderbarte Wellenbewegung (Abbildung 1). Das Auf und Ab ist fast perfekt; kleiner Schönheitsfehler ist nur, dass die negativen Zahlen, die jeweils auf eine positive folgen, durchweg größer sind. Aber siehe da, über fast zwei Jahre ist es dieser wunderbaren Rechnung zu Folge gelungen, das zu vermeiden, was man üblicherweise eine technische Rezession nennt, nämlich zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Vorzeichen.
Abbildung 1
Besonders erstaunlich ist das in diesem Jahr. Alle Indikatoren und die vorliegenden statistischen Ergebnisse zeigen durchweg nach unten, das Rechenwerk der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aber kommt mit einem Plus für das BIP im dritten Quartal. Nun kann man sagen, wartet mal ab, auch das wird nach einiger Zeit wieder nach unten korrigiert. Das mag sein, es wäre aber sehr unbefriedigend, wenn das Bundesamt vorläufige Berechnungen herausbringt, die mit den bekannten und für den Zeitraum schon vorhandenen Größen nicht in Übereinstimmung zu bringen sind.
Die Diskrepanz zwischen Statistik und Rechnung
In Abbildung 2 sind die statistisch ermittelten Quartalszahlen für die Produktion des produzierenden Gewerbes (Industrie und Bauwirtschaft) als Index aufgeführt und auf die gleiche Weise die entsprechenden Quartale des vom Amt berechneten BIP.
Abbildung 2
Nach der Coronakrise und dem extrem tiefen Einbruch der Produktion, bewegten sich die beiden Kurven bis Anfang 2023 in eine ähnliche Richtung. Doch nach dem ersten Quartal 2023 trennen sich die beiden Kurven. Während die Produktion geradezu abstürzt, bleibt das BIP auf dem einmal erreichten Niveau mit den oben beschriebenen minimalen Schwankungen. Zuletzt lag das Niveau der Produktion um etwa acht Prozent unter dem Wert des ersten Quartals 2023.
Besonders eklatant ist die Diskrepanz zwischen Statistik und Rechnung im dritten Quartal dieses Jahres. Vom ersten zum zweiten Quartal sank die Produktion von 94,5 auf 93,3, also um 1,2 Prozent. Vom zweiten zum dritten Quartal war es von 93,3 auf 91,5 und damit sogar etwas mehr als im Quartal zuvor. Gleichzeitigt weist aber die BIP-Rechnung einmal einen leichten Rückgang und einmal einen leichten Anstieg aus.
Wo sind die Kräfte hergekommen, die im dritten Quartal den Rückgang der Produktion in den beiden großen Bereichen Industrie und Bau ausgeglichen haben? Die einfache Antwort ist: Wir wissen es nicht. Es gibt einfach keine amtliche Statistik, die einen Aufschwung in anderen Bereichen zeigen würde.
Es gibt allerdings gesamtwirtschaftlich aussagekräftige Zahlen, auf die man zurückgreifen kann. Die Zahl der Arbeitslosen und die Zahl der offenen Stellen ist zeitnah vorhanden. Die Ergebnisse sind hier eindeutig. Im Vergleich zum ersten Quartal ist die Zahl der Arbeitslosen im zweiten Quartal 49 000 höher. Im dritten Quartal sind in saisonbereinigter Rechnung 52 000 Personen zusätzlich als arbeitslos registriert worden. Folglich war das dritte Quartal mindestens ebenso schwach wie das zweite. Bei der Zahl der offenen Stellen ist es das gleiche Bild. Hier brachte das zweite Quartal einen Rückgang von 24 000 Stellen, das dritte einen Rückgang von 23 000. Folglich deuten die beiden gesamtwirtschaftlich verfügbaren Indikatoren auf einen ebenso schnellen Rückgang der gesamten Produktionsleistung der Volkswirtschaft im dritten Quartal wie im zweiten.
Das Amt muss transparenter werden
Das Bundesamt laviert mit der Berechnung von aktuellen Quartalszahlen des BIP zwischen Statistik und volkswirtschaftlicher Prognose. Das bringt eine große Verantwortung mit sich. Das Amt hat unter den gegebenen Umständen eine sehr große Freiheit bei der Berechnung des BIP – vermutlich eine zu große. Es gibt vielleicht Begründungen für die berechneten Verläufe des BIP, aber sie lassen sich nicht nachvollziehen. Es mag Anzeichen dafür geben, dass in einem bestimmten Zeitraum andere Bereiche außerhalb des produzierenden Gewerbes besser gelaufen sind. Aber das muss man offenlegen, wenn man nicht in Verdacht kommen will, politisch genehme Berechnungen abzuliefern. Zudem muss man dann erklären, wie es sein kann, dass bedeutende gesamtwirtschaftliche Indikatoren wie Arbeitslosigkeit und offene Stellen exakt das Gegenteil dessen anzeigen, was man berechnet.
Mehr als bedauerlich ist es, dass praktisch alle Experten, die sich laufend mit den Daten der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung und den Konjunkturindikatoren auseinandersetzen, die vorläufigen Berechnungen des Bundesamtes wie eine unverrückbare Größe ansehen und niemals kritisieren. Weil das Amt unweigerlich in den Bereich der Prognose hineinstößt, ist es selbstverständlich die Aufgabe der professionellen Prognostiker, die Berechnungen des Amtes kritisch zu verfolgen und diese Kritik auch offen auszusprechen, wenn die Diskrepanzen zwischen Beobachtung und den Zahlen des Amtes in der Gesamtrechnung sehr groß werden. Aber auch die Fähigkeit zu solcher Kritik ist der „Verwissenschaftlichung“ der Arbeit der Institute zum Opfer gefallen.