Der Mannheimer Ökonom Tom Krebs hat ein Buch mit dem Titel „Fehldiagnose“ geschrieben, in dem er seinen Kollegen vorwirft, die falsche Medizin zu verordnen, weil sie die Krankheit der deutschen Wirtschaft nicht richtig diagnostiziert hätten. Doch es ist viel schlimmer. Seit Jahrzehnten findet man immer wieder das gleiche Muster: Sobald die deutsche Wirtschaft in Schwierigkeiten gerät, erscheinen in den Medien hunderte von ökonomischen Medizinern, die jeweils ihr liebstes Vorurteil zur Wurzel allen Übels erklären und auch gleich die allein gesundmachende Therapie parat haben. Sie versuchen nicht einmal, eine Diagnose zu stellen, sie wissen ja, was schiefläuft. Die Krise ist genau der Moment, wo man von den Medien gefragt wird und aller Welt laut und mit großer Überzeugungskraft die eigene Wahrheit verkünden kann, ohne dem Patienten auch nur einmal ins Auge gesehen zu haben.
Daneben gibt es diejenigen, die unglaublich virtuos einfach alles aufzählen, was irgendwie schief gelaufen sein könnte. Da kommt man leicht auf fünf bis zehn „Ursachen“, von denen allerdings keine wirklich diagnostiziert ist, sondern die nur die gesammelten Vorurteile der herrschenden Ökonomik abbilden. Doch multikausal klingt immer gut, weil man ja weiß, wie komplex die Welt ist. Weder den zeitlichen Verlauf der Krise noch sonstige beobachtbare Charakteristika muss man bei Multikausalität beachten, man wird schon das richtige treffen, wenn man die Schrotladung nur breit genug streut.
Ich habe schon vor einigen Wochen gezeigt, dass die gleichen Ökonomen, die heute der deutschen Wirtschaft tiefgreifende strukturelle Probleme zuschreiben (Dekarbonisierung, Digitalisierung, demographischer Wandel, Bürokratie, Steuern), vor zwei Jahren der deutschen Wirtschaft noch einen Investitionsboom ohnegleichen vorhergesagt haben. Waren alle diese schrecklichen Hindernisse damals nicht vorhanden? Doch das alles gab es schon, es war nur in den Augen der Ökonomen kein Hindernis. Folglich haben die Ökonomen damals vollkommen daneben gelegen oder es ist zwischenzeitlich etwas passiert, was viel schlimmer ist als all die genannten Faktoren.
Wie soll die Politik aus dem Gewirr von Ratschlägen und Empfehlungen die geeigneten heraussuchen? Nun, es gibt ein paar einfache Tests, anhand derer auch der Laie oder der politische Laie feststellen kann, ob die an der Debatte teilnehmenden Ökonomen ernst zu nehmen sind oder nicht.
Der erste Test betrifft die Wettbewerbsfähigkeit. Wie absurd (oder verlogen, das kann man sich aussuchen) die Debatte ist, kann man als denkender Mensch ohne weiteres daran festmachen, dass dauernd über den Verlust an Wettbewerbsfähigkeit geredet wird, aber wirklich niemand sich traut, auf die schlichte Tatsache hinzuweisen, dass Deutschland weiterhin über den höchsten Leistungsbilanzüberschuss der großen industrialisierten Länder verfügt (in Prozent des BIP), und der sogar, nach allen Prognosen, noch weiter steigen soll. Soll durch eine erneute Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Überschuss noch einmal massiv erhöht werden? Wie werden darauf die Handelspartner, insbesondere die USA unter Trump regieren? Wie kann man einfach ein Rezept der Vergangenheit (Agendapolitik unter Schröder) wieder aufwärmen, ohne zu sagen, welche Folgen das hat?
Der zweite Test betrifft die Rolle der Geldpolitik. Obwohl es explizit die Absicht der EZB war, mit ihren Zinserhöhungen eine rezessive Tendenz in ganz Europa einzuleiten, spricht kaum jemand über die Geldpolitik im Zusammenhang mit den rezessiven Tendenzen in Europa. Das hat eindeutig ideologische Gründe (die Geldpolitik ist politisch unabhängig und darf nicht kritisiert werden, weil man sonst ihre Unabhängigkeit untergraben würde). Ich habe schon Mitte Oktober darauf hingewiesen, dass die Preisentwicklung in der Industrie in der EWU unmittelbar zeigt, wie restriktiv die gegenwärtige Geldpolitik ist.
Die Abbildung von Eurostat zeigt, dass sich die Erzeugerpreise (ohne Energie, die schwachgelbe Kurve) von Anfang 2023 bis September 2024 praktisch nicht bewegt haben. Was nichts anderes bedeutet, als dass der Wettbewerbsdruck so hoch ist, dass es den Industrieunternehmen trotz zuletzt kräftig steigender Löhne schon seit fast zwei Jahren nicht mehr gelingt, die Preise anzuheben.
Da gleichzeitig in ganz Europa die Industrieproduktion und die Umsätze rückläufig sind (in anderen Ländern etwas weniger stark als in Deutschland, aber eindeutig rückläufig), sind die (nominalen) Renditeerwartungen der Unternehmen im Durchschnitt negativ. In einer solchen Situation wirkt ein Zins von deutlich über drei Prozent von Seiten der Notenbank (die Unternehmen müssen bei ihrer Bank ja noch höhere Zinsen zahlen) enorm restriktiv; er führt unweigerlich zu einer drastischen Reduktion der Investitionstätigkeit, wie wir sie gerade erleben.
Das Einzige, was bei sinkender Produktion und hohen Zinsen hilft, ist die allgemeine Belebung der Nachfrage, um die Renditeerwartungen in der ganzen Breite der Volkswirtschaft zu verbessern – und eine rasche Rückführung der Zinsen. Wohlgemerkt, es geht hier um Globalsteuerung. Man braucht sich dabei um kein einzelnes Unternehmen Gedanken zu machen. Managementfehler zu korrigieren, ist ohnehin nahezu unmöglich und sogar gefährlich, wenn die Politik es versucht. Auch Subventionen zur Senkung der Strompreise oder Prämien für Investitionen (wie Robert Habeck sie immer wieder ins Spiel bringt) kann man sich sparen, weil beides viel zu selektiv und mit hohem Mitnahmeeffekten verbunden ist.
Gleichzeitig zeigt die eher deflationäre Preisentwicklung auf der Erzeugerstufe und der jüngste Absturz der Lohnzuwächse (wie hier gezeigt), dass es keinerlei Inflationsgefahr gibt. Die Geldpolitik der EZB ist einfach falsch und verantwortlich für den enormen Einbruch der Konjunktur. Wenn dann noch die Verantwortlichen in der EZB über ein „neutrales Zinsniveau“ phantasieren, das zwischen 2 und 3 Prozent liegen soll, belegt das nur die Unfähigkeit an der Spitze der EZB, theoretische Spielereien von ernsthafter Diagnose zu unterscheiden (zum neutralen Zins Box 11 in meinem Grundlagenbuch). Wer das gesamte geldpolitische Versagen nicht zur Kenntnis nimmt und glasklar anspricht, will keine objektive Meinung kundtun.
Der dritte Test betrifft die staatliche Schuldenaufnahme. Das muss ich nicht lange ausführen, es war schon so oft Thema (hier unter anderem). Wer aber über die Rolle des Staates, Anregung der Konjunktur oder über die staatlichen Schulden spricht, ohne die Querverbindungen zu den Überschüssen und Defiziten der anderen Sektoren einer Volkswirtschaft zu ziehen, fällt von vorneherein durch das Raster der ernstzunehmenden Ökonomen. Die schwäbische Hausfrau muss man nicht zur Kenntnis nehmen.
Der vierte Test hat mit der Arbeit zu tun. Die Klage über eine zu geringe Arbeitsbereitschaft in Deutschland ist weit verbreitet und die Drohung der CDU, die Arbeitsbereitschaft durch radikalen Entzug von Sozialleistungen zu erhöhen, spricht für sich. Wir arbeiten zu wenig, ist zu einem geflügelten Wort geworden. Doch auch vor dieser Krise war das Niveau der Arbeitslosigkeit in Deutschland mit 2,5 Millionen Menschen immer noch sehr hoch. Wer jedoch nach dem deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit seit über einem Jahr (und einer deutlich fallenden Zahl der offenen Stellen) immer noch von zu wenig Arbeitsbereitschaft als Grund für die Misere spricht, ist ein Demagoge.
Wenn eine Wirtschaft, die nach Überzeugung fast alle „Experten“ seit vielen Jahren unter einem gravierenden Fachkräftemangel leidet, jetzt auf einmal qualifizierte Arbeitskräfte in Größenordnungen auf die Straße setzt, die nahezu jede Woche in Politik und Medien für blankes Entsetzen sorgen, dann muss etwas passiert sein, was nichts mit Arbeit, sondern mit ganz anderen Dingen zu tun hat. Die Aussage des Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, Oliver Zander, dass „Kein Unternehmen der Welt Arbeitsplätze auf Dauer halten (kann), wenn nicht genug Aufträge da sind“, ist vollkommen richtig. Warum die Aufträge fehlen, ist die einzig relevante Frage. Mit Arbeitsbereitschaft hat das nichts zu tun.
Abschließend drei Beispiele, an denen sie selbst überprüfen können, ob ein Experte spricht oder einer, der eine Botschaft verkaufen will:
Clemens Fuest vom ifo-Institut redet beim Bayrischen Rundfunk 5 Minuten (ab Minute 4) über die Krise und über alles, was so üblicherweise genannt wird (Strukturkrise seit 2019, mehr arbeiten, Bau geht runter, Managementprobleme auch, Rahmenbedingungen, hohe Steuern, Bürokratie, Strukturwandel, China und E-Mobilität). Das hat nichts mit dem Versuch einer ernsthaften Diagnose zu tun. Geldpolitik und das allgemeine Nachfrageproblem kommen natürlich nicht vor. Er erwähnt auch, man müsse einen Handelskrieg vermeiden und über Gegenmaßnahmen zu Zöllen nachdenken, die deutschen Überschüsse aber gibt es bei ihm nicht.
Auch Marcel Fratzscher kennt keine Geldpolitik, nennt aber Deutschland in den frühen 2000ern als Vorbild für heute. Damals hatte das Land mit über fünf Millionen Arbeitslosen zu kämpfen, doch Reformen und Entschlossenheit hätten einen Turnaround ermöglicht, der die goldenen 2010er Jahre einläutete. Wie man den Leistungsbilanzüberschuss durch Lohndumping noch einmal verdoppeln könnte, ohne massive Handelssanktionen zu provozieren und Europa zu zerstören, sagt er allerdings nicht.
Gerald Braunberger lässt in der FAZ die ganz dicke und unverdauliche Angebotssoße über seine Analyse fließen und kramt aus allen Ecken, was jemals an Schwachstellen genannt wurde, lobt natürlich die Agenda-Politik und bringt am Ende doch nicht den Mut auf, dem FAZ-Leser zu sagen, dass Deutschland 20 Jahre lang viel zu wettbewerbsfähig war und von einer kompetenten europäischen Kommission dafür schon vor langer Zeit vor den Kadi gezogen worden wäre. Geldpolitik gibt es natürlich nicht, und bevor ein Leitartikler in der FAZ zugeben würde, dass es ein Nachfrageproblem geben kann, müsste die Welt kurz vor dem Untergang stehen. Braunberger entblödet sich nicht einmal, die alte Schwachsinnsthese von Frau Merkel aus dem Keller zu holen, nachdem die Europäer unter zu hohen Sozialausgaben leiden, weil die, gemessen an der weltweiten Wirtschaftsleistung, höher sind als der europäische Anteil an der Wirtschaftsleistung selbst. Schon die einfache Tatsache, dass Sozialausgaben anders gemessen werden, wenn in einem Land die Rentenversicherung staatlich und in einem anderen privat organisiert ist, wird bei diesem lächerlichen Argument einfach ignoriert.