Gedanken zum Jahreswechsel
(dieser Artikel ist heute zeitgleich bei Overton erschienen)
Was tut man, wenn einem die Probleme über den Kopf wachsen? Man steckt den Kopf in den Sand oder man flüchtet sich in hektische Aktivität, die man als die Lösung aller Probleme verkauft. Unsere Politiker wählen fast immer die zweite Variante und sie scheitern regelmäßig kläglich. Deutschland, Frankreich, Italien, Großbritannien und die USA sind offenbar nur noch regierbar, wenn einer wie Donald Trump den Menschen weismacht, man müsse nur die richtigen und möglichst unverrückbare Vorurteile haben, um alles „great again“ zu machen.
Ist es die schiere Menge der Probleme, die die Politik überfordert, oder ist es die Unfähigkeit der heutigen Politiker, sich ein fundiertes Urteil zu bilden, auf dessen Basis eine tragfähige Lösung zu finden wäre? Beides spielt sicher eine Rolle. Symptomatisch für die Unfähigkeit ist jedoch die verheerende Neigung der Politiker, das flache und sinnlose Gequatsche in Fernseh-Talkshows dem Volk als sachliche Auseinandersetzung zu verkaufen. Robert Habeck treibt es nun auf die Spitze, er setzt sich zum Blabla öffentlichkeitswirksam an einen beliebigen Küchentisch, anstatt sich hinter den Kulissen mit den besten Fachleuten auseinanderzusetzen.
Wohin man auch schaut, überall findet man die Flucht vor der Komplexität und die Zuflucht in allzu einfachen Floskeln. Feindbilder zu schaffen, ist die neue Königsdisziplin der Flachdenker. Wer ein klares Feindbild hat, braucht nicht mehr nachzudenken. Die Farben schwarz und weiß sind von vorneherein vergeben, Grautöne sind verboten. Wer sich zu den aktuellen Konflikten äußert und nicht die Parolen der Flachdenker bedient, wird sofort und unwiederbringlich aussortiert aus der Riege derjenigen, die man zur Kenntnis zu nehmen hat.
Die Ukraine ist der Hauptleidtragende der westlichen Oberflächlichkeit. Weil man, ohne auch nur eine Sekunde über die Vorgeschichte des Konflikts nachzudenken, Russland sofort zum Feind erklärt hat, ist es ohne Gesichtsverlust der westlichen Eliten nicht mehr möglich, den Krieg zu beenden. Weil aber Russland seine militärische Position praktisch jeden Tag verbessert, wird der westliche Gesichtsverlust von Tag zu Tag größer. Jeden Tag sterben auf beiden Seiten viele Menschen, deren Tod auch die Folge der westlichen Denkblockade ist. Man muss es sich vorstellen: Nur einer wie Donald Trump kann, weil er sich explizit nicht zu den westlichen Eliten zählt, den Konflikt auch gegen die Phalanx der Kriegstreiber in der Nato und in der EU beenden.
Nicht viel anders ist es im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Weil man partout nicht anerkennen will, dass es für das Recht auf Selbstverteidigung auch zwischen Staaten harte Grenzen geben muss, lässt man zu, dass Israel den Konflikt in die Nähe eines Völkermordes treibt. Das unendliche Elend in der palästinensischen Bevölkerung ist aber die Basis für neuen Hass. Die Kinder, denen man heute die Eltern und ihre Kindheit geraubt hat, werden diesen Hass wieder nach Israel tragen. Man mag die Hamas besiegt haben, aber an ihre Stelle treten zehntausende, die im Hass auf Israel vereint sind und nur auf die Gelegenheit warten, Rache zu üben. Israel nimmt sich durch eine unverantwortliche politische Führung auf Jahrzehnte hinaus selbst die Chance, in Ruhe und Frieden zu leben.
Die westliche Vorstellung, man könne Staatenbildung betreiben, wenn einmal die traditionellen oder religiösen Strukturen zerstört sind, hat sich in der arabischen Welt überall als eine nur lächerlich zu nennende Fiktion erwiesen. In Syrien kann man gerade wieder erleben, wie brutal ein Machtvakuum von allen Seiten ausgenutzt wird, ohne dass sich damit eine Chance auf eine nachhaltige Lösung verbindet. Wieder ist der Westen mittendrin, aber nur um die eigenen Interessen zu vertreten und ohne jede Idee, welche tragfähige Lösung es geben könnte. Dass sich auch Israel einmischt und erneut ohne kritische Kommentare des Westens das Völkerrecht in eklatanter Weise bricht, passt in das Bild der sich selbst der Lächerlichkeit preisgebenden westlichen Eliten.
Aber auch diejenigen im Westen, die vorgeben, es mit der sich entwickelnden Welt gut zu meinen, wollen nicht sehen, dass der Westen in vielen Entwicklungsländern unmittelbar Schaden anrichtet, weil er sein Weltmodell als alternativlos verkauft. Unverbrüchlich steht die westliche Welt zu ihren aus Washington heraus agierenden Institutionen, insbesondere zum Internationalen Währungsfonds. Obwohl der Zusammenschluss der Staaten, der unter dem Namen BRICS bekannt geworden ist, ohne jeden Zweifel das Resultat des Versagens dieser Institution ist, kommt kein Politiker in der westlichen Welt auf die Idee, dieses postkoloniale Herrschaftsinstrument in Frage zu stellen und ernsthaft über eine neue globale monetäre Ordnung nachzudenken. Man könnte sich jede Art von Entwicklungshilfe sparen, wenn man den Ländern die Möglichkeit gäbe, ohne Verpflichtung auf eine neoliberale Ideologie Kredite aufzunehmen.
Statt bei den eigenen Fehlern bei der Behandlung der Entwicklungsländer anzusetzen, wird Migration aus wirtschaftlichen Gründen aus den Entwicklungsländern heraus zu uns verteufelt und gar „zur Mutter aller Probleme“ erklärt. Zuwanderung wegen wirtschaftlicher Notwendigkeiten bei uns hingegen gilt als Königsweg bei der Lösung unserer demographischen Probleme. Das ist genau die Art von Schizophrenie, die den Ländern im Süden zeigt, dass der nördliche Egoismus durch nichts zu überbieten ist und sie zwingt, auf neue und unorthodoxe Wege zur Überwindung ihrer Schwierigkeiten zu setzen.
An Schizophrenie grenzt es auch, wenn man von der Erzählung, es gebe einen gravierenden Mangel an Fachkräften, praktisch übergangslos zu der Diagnose einer erheblichen Arbeitslosigkeit von Fachkräften überschwenkt. Galt der Fachkräftemangel in Deutschland im vergangenen Jahr noch als eines der größten Hindernisse für eine dynamische wirtschaftliche Entwicklung, stellt man nun mit Erstaunen fest, dass zehntausende von Fachkräften von den Unternehmen mir nichts dir nichts auf die Straße gesetzt werden, weil die Politik die wirtschaftliche Talfahrt einfach verschlafen hat.
Aus dem Tollhaus ist auch die Diskussion um das Bürgergeld und die großen Einsparmöglichkeiten, die man da vermutet. Bisher ist wirklich niemand auf die Idee gekommen zu fragen, was passiert, wenn man den Menschen, die ihr Einkommen vollständig ausgeben, einen Teil dieses Einkommen wegnimmt. Die Antwort ist einfach, überfordert aber die meisten Ökonomen und die Politik: Da den Beziehern von Bürgergeld nichts übrigbleibt, als ihre Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen einzuschränken, geht die volle Summe der „Einsparungen“ zulasten der Unternehmen. Wer zehn Milliarden einspart, kürzt die Einkommen der Unternehmen exakt um zehn Milliarden. Genau die gleichen Leute, Merz ist deren Gallionsfigur, wollen aber mit den eingesparten zehn Milliarden die Unternehmen entlasten, um die Wirtschaft anzukurbeln. Dümmer geht es einfach nicht mehr.
Auf dem gleichen Niveau findet die Diskussion um die staatlichen Schulden in Deutschland und unter der Führung Deutschlands in Europa statt. Fast alle Diskutanten, einschließlich der großen Mehrheit der deutschen Ökonomen, verharren auf der Ebene der schwäbischen Hausfrau. Der Schritt auf die gesamtwirtschaftliche Ebene überfordert offensichtlich die einen und wird aus ideologischen Gründen von den anderen abgelehnt. So redet man stundenlang über Schulden, ohne auch nur einmal das Sparen zu erwähnen, das die Wurzel des Übels bildet. Man sagt, der Staat müsse mit den Einnahmen (den berühmten 1000 Milliarden Euro) auskommen, die er über Steuern einzieht, er dürfe nicht über seinen Verhältnissen leben. Niemand sagt aber, dass der Versuch der privaten Haushalte und der Unternehmen unter ihren Verhältnissen zu leben, also zu sparen, nur erfolgreich sein kann, wenn der Staat über seinen Verhältnissen lebt.
Deutschland treibt mit seiner Unfähigkeit, diesen zwingend logischen Zusammenhang zu verstehen, Europa an den Abgrund. Wer darauf beharrt, dass Länder wie Frankreich und Italien ihre Staatsverschuldung verringern müssen, obwohl auch dort die privaten Haushalte und die Unternehmen per Saldo sparen, verlangt etwas, was diese Länder genau deswegen nicht leisten können, weil ihnen der große Bruder Deutschland den einzigen Ausweg, nämlich den in eigene Leistungsbilanzüberschüsse, schon seit Beginn der Währungsunion versperrt hat.
Auf welch niedrigem intellektuellen Niveau die deutsche Politik sich des Themas Wirtschaft bemächtigt, zeigt jedoch nichts besser als die Obsession in Sachen Wettbewerbsfähigkeit. Wieder wird nicht unterschieden zwischen der betrieblichen Ebene, wo Wettbewerbsfähigkeit selbstverständlich eine große Rolle spielt, und der gesamtwirtschaftlichen, wo es keine Rolle spielen kann. Doch alle großen Parteien sehen hier die entscheidende Stellschraube, um die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen.
War es nicht die Politik der Agenda, die Deutschland einen langen Aufschwung beschert hat? Muss man das nicht mit einer Agenda 2030 wiederholen, um die Wirtschaft zu beleben? Weit gefehlt! Gerade weil Deutschland für einige Jahre so erfolgreich war, gibt es die große Spaltung, die Europa und den Euro zu zerreißen droht. Der deutsche Merkantilismus ist auch deswegen unwiederholbar, weil insbesondere die neue Regierung der USA nicht bereit ist, den Defizit-Part weiterhin zu übernehmen. Trump hat klare Drohungen ausgesprochen. Die europäischen Partner können folglich keine Defizite mehr verkraften, die USA wollen es nicht mehr. Wo ist der Sinn?
Auch die Klimafrage erfordert das geistige Erklimmen einer höheren Ebene. Die jüngste Klimakonferenz hat wiederum gezeigt, dass auf der Weltebene keine Chance besteht, in den nächsten Jahren einen Ausstieg aus den fossilen Energieträgern auch nur einzuleiten. Die USA werden vermutlich das Abkommen von Paris aufkündigen. Auch ambitioniertere Ausstiegsversuche der übrigen industrialisierten Länder werden folglich keinerlei globale Wirkung haben. In dieser Woche meldete die Internationale Energieagentur, dass die weltweite Nachfrage nach Kohle in diesem Jahr einen Rekordwert erreicht hat. Europa verschwendet enorme Mengen politischer Energie auf eine Frage, die es nicht beantworten kann. Wenn es eine globale Anstrengung gibt, die dafür sorgt, dass die fossilen Energieträger in der Erde bleiben, kann ein Land wie Deutschland diesen Prozess politisch flankieren, ersetzen kann sie diese Anstrengung niemals.
Schließlich ist es mehr als bedauerlich, dass es in Deutschland nicht einmal im Ansatz gelungen ist, die vielen fragwürdigen politischen Antworten auf die Corona-Pandemie einer nachträglichen Überprüfung zu unterziehen. Aber es passt in das gesamte Bild einer heillos überforderten politischen Klasse. Die Resonanz bei vielen Bürgern ist eindeutig: Erst hat die Politik aus dem hohlen Bauch entschieden und hinterher drückt sie sich davor, die von ihr selbst immer wieder beschworene politische Verantwortung zu übernehmen. Man versucht, sich mit großer Unsicherheit und großer Eile bei den Entscheidungen zu entschuldigen. Doch selbst wenn man das zugesteht, bleibt viel mehr als ein übler Nachgeschmack. Eklatant ist das in Sachen Impfung. Eine Impfung, die ausschließlich zur Linderung schwerer Verläufe zugelassen war, wurde als Infektionsschutz verkauft. Damit verbunden waren so viele Fehlentscheidungen und Fehlinformationen, dass es kaum zu sagen ist, wie viele Rücktritte gerechtfertigt wären. Geschehen ist nichts. Das hat der Demokratie erneut schweren Schaden zugefügt.
Letztlich spiegelt die Misere unserer politischen Klasse aber nur die allgemeine Misere einer Gesellschaft, die immer mehr die Fähigkeit zu kritischem Denken verliert. Die Kritik- und Urteilslosigkeit von Medien und Politik ist der Tatsache geschuldet, dass wir von Kindesbeinen nicht mehr dafür ausgebildet sind, Sprache und Inhalte mit kritischem Verstand zu hinterfragen. In einer Gesellschaft, in der jeder seine Meinung haben darf, gilt noch lange nicht, dass man jede Meinung ernst nehmen muss. Denken beginnt in der Schule. Man darf keine „Überwältigungsverbote“ aussprechen, sondern man muss die Schüler tatsächlich „überwältigen“, man muss sie zum komplexen und zum logischen Denken zwingen, und das eben nicht nur im Fach Mathematik, sondern überall dort, wo man ohne Logik nicht auskommt. Wer nur Werte und Einstellungen kennt, aber keine Logik, ist dem Untergang geweiht.