Ein Leser macht mich darauf aufmerksam, dass Philipp Bagus, den ich als Beispiel für die österreichische „Theorie“ der Volkswirtschaftslehre erwähnt hatte, in einem Video auf meine Kritik des Sparens angesprochen wird.
Ab Minute 18:38 versucht er auf die von Balthasar Becker aufgeworfene Frage nach der Bedeutung der Finanzierungssalden zu antworten. Doch die Antwort ist, es war nicht anders zu erwarten, mehr als dünn. Er behauptet einfach, wenn mehr gespart würde, würde auch automatisch mehr investiert. Und weil Investitionen ja auch Ausgaben seien, stelle Sparen kein Problem dar.
Das ist die typische Art und Weise, wie man das Problem ignoriert. Die Neoklassik hat zwischen dem Akt des Sparens und dem des Investierens wenigstens noch einen Zinsmechanismus unterstellt, der die höheren Investitionen hervorbringen soll. Das ist allerdings, wie immer wieder und zuletzt in meinem Grundlagenbuch gezeigt, durch nichts zu begründen.
Die dünne österreichische Theorie behauptet einfach, dass die Konsumenten einen Teil ihrer Einnahmen (die sie von den Unternehmen als Arbeitslohn oder Gewinnbeteiligung und vom Staat als Transfereinkommen gezahlt bekommen haben) zur Bank oder auf den Aktienmarkt tragen können, ohne dass davon Wirkungen auf die Einnahmen und die Kapazitätsauslastung der Unternehmen ausgehen. Das ist falsch. Jeder Euro, der von den privaten Haushalten als Gehalt oder Rente eingenommen, aber nicht wieder (für Güter und Dienstleistungskäufe) ausgegeben wird, schmälert die Einnahmen derjenigen, die das Gehalt oder die Rente gezahlt haben. Damit sinkt ohne Zweifel die Kapazitätsauslastung und damit die Investitionsbereitschaft und letzten Endes die Investitionstätigkeit. Sie steigt also keineswegs.
Wenn aber mehr gespart und nicht zugleich entsprechend mehr investiert wird (oder sogar weniger investiert wird), sinkt das gesamtwirtschaftliche Einkommen. Das nennt man gemeinhin Rezession, aber so etwas kommt in der österreichischen Schule nicht vor, weil alles optimal funktioniert, wenn nur der Staat sich aus allen wirtschaftlichen Abläufen heraushalten würde. Weil man von vorneherein einfach annimmt, dass das gesamtwirtschaftliche Einkommen von solchen Prozessen niemals tangiert wird, muss man sich darüber auch keine Gedanken machen. Mit Wissenschaft hat das, das sollte jeder denkende Mensch erkennen, nichts zu tun.
Wenn Philipp Bagus sagt, auch sinkende Löhne könnten quasi über Nacht zu einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung führen (sein Ministeriumsbeispiel), dann liegt er fundamental falsch. Sinkende Löhne wirken grundsätzlich destabilisierend: Sie senken die Arbeitslosigkeit nicht, sondern erhöhen sie, weil die gesamtwirtschaftlichen Nachfrageeffekte sinkender Löhne immer zuerst auftreten, also vor jeder Reaktion von Unternehmen. Die Unternehmen würden in einem von vornherein schwierigen Umfeld eine für sie günstigere Kostensituation nur dann mit Mehrbeschäftigung beantworten, wenn sie einen positiven Impuls bei der Nachfrage erhalten oder wenigstens erwarten. Umgekehrt ist aber bei sinkenden Löhnen: Der Impuls ist negativ. Daher darf der gesamtwirtschaftlich negative Effekt sinkender Löhne nie ausgeblendet werden und eine Empfehlung für die Wirtschaftspolitik nicht einseitig auf einer mikroökonomischen Binsenweisheit à la „sinkende Kosten regen Produktion und Investitionen an“ aufgebaut werden.
Interessant ist auch, dass Philipp Bagus die Frage nach den Finanzierungssalden als eine „schon sehr aggregierte Sichtweise“ bezeichnet. Ja, das ist aggregiert! Deswegen nennt man das Fach Volkswirtschaftslehre und nicht Betriebswirtschaftslehre. Wer nicht aggregiert, kann überhaupt nichts von Belang über die Gesamtwirtschaft und damit auch nichts Hilfreiches für die Wirtschaftspolitik sagen.
Ich habe Libertäre erlebt, die selbst die Benutzung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung ablehnen. Das kann man tun, dann muss man als aufrechter Wissenschaftler aber auch zu jeder Frage schweigen, die über die Verhältnisse an einem einzigen Markt hinausgeht. Zu Inflation, zu Wachstum, zur Arbeitslosigkeit oder der Investitionstätigkeit in einer Volkswirtschaft kann man dann einfach nichts Relevantes äußern. Auch Wettbewerbsfähigkeit und Globalisierung müssen dann Themen sein, die man als „Österreicher“ einfach unkommentiert lässt.
Fast noch spannender ist, dass Philipp Bagus (wenige Minuten nach der oben zitierten Stelle) sagt, die Behauptung, bei sinkenden Preisen für ein Produkt steige dessen Nachfrage, sei ein „Gesetz“ (er nennt es „Nachfragegesetz“), das allein aus der Logik abgeleitet sei. Das ist eindeutig falsch. Welche Logik sollte das sein?
Es ist nur eine schlichte Beobachtung, die manchmal zutrifft und manchmal nicht, sonst nichts. Es gibt Märkte, bei denen die Nachfrage stiegt, weil der Preis steigt, und es gibt finanzialisierte Rohstoffmärkte, bei denen der Preis rein spekulationsgetrieben steigt oder fällt, was aber absolut nichts mit dem physischen Angebot und der physischen Nachfrage nach dem Produkt zu tun hat. Es gibt, wie jeder Wissenschaftler zumindest seit der globalen Finanzkrise wissen sollte, Finanzmärkte, wo der Preis eines Derivats nur deswegen steigt, weil viele Spekulanten aufgrund nur einer einzigen Information in die gleiche Richtung spekulieren, die sich jedoch letztlich als falsch erweist. Von der komplexen Verarbeitung vielfältiger Informationen, die die österreichische Schule den privaten Akteuren zuschreibt, ist auf diesen so wichtigen Märkten dann gerade nichts zu sehen. Sehr wohl richten diese Marktentwicklungen aber enorme Schäden in der realen Welt an, die dann vom Staat repariert werden müssen – die Bankenrettung in der Finanzkrise lässt grüßen.
Eine wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung, die sich nicht mit den aktuellen Problemen der realen Welt befasst, ist an sich schon fragwürdig. Aber eine wirtschaftswissenschaftliche Denkrichtung, deren Grundlagen die realen Probleme von vornherein per Annahmen ausschließt, deren Vertreter aber dennoch meinen, die Wirtschaft ganzer Länder analysieren und beurteilen zu können und wirtschaftspolitische Beratung betreiben zu müssen, ist gefährlich.