WISO – Darf das ZDF das Volk für dumm verkaufen?

(Dieser Artikel ist heute bei Telepolis erschienen)

Am Montagabend bin ich durch Zufall in eine Sendung des ZDF hineingestolpert, wo diese öffentlich-rechtliche Anstalt in einer Reihe zum Wahlkampf 45 Minuten lang die Frage zu beantworten versuchte „was die deutsche Wirtschaft jetzt braucht?“. Der „ZDF-Wirtschaftsexperte“ Florian Neuhann ging auf die Suche nach Zukunftsideen für Deutschland. Nicht nur, dass der Experte nicht fündig wurde, er suchte auch an hunderten von Stellen, von denen man von vorneherein wissen konnte, dass man da niemals fündig werden kann. 

Ich habe es immer wieder gesagt, aber wer wissen will, was die deutsche Wirtschaft braucht, muss zunächst herausfinden, was ihr fehlt. Wie jeder gute Arzt, muss man versuchen, eine Diagnose zu stellen, also die Ursachen der Misere zu ergründen und solche Faktoren auszuschließen, die nicht die Ursachen, sondern schon das Ergebnis der Misere sind. Doch schon eine solche Grundüberlegung kann man von einem „Wirtschaftsexperten“ des ZDF wohl nicht erwarten. Der turnt lieber auf alten Stahlwerken herum und fährt aufs geradewohl durchs Land, um sich von all den „Experten“ beraten zu lassen, die man auch an jedem Stammtisch findet. 

Da wird der Vorstandsvorsitzende von VW befragt, der wirklich nichts über die deutsche Wirtschaft zu sagen hat, ein Auszubildender von VW, ein Arbeiter, dem die Entlassung droht, obwohl er gerade ein Haus gebaut hat, ein Installateur, ein saarländischer Automobilarbeiter, der sich umschulen lässt, diverse Unternehmer auf einer Unternehmerkonferenz und viele andere mehr. Sehr interessante Menschen, aber leider vollkommen am Thema vorbei. Ein Panoptikum der deutschen Misere, hätte man die Sendung nennen können, dann hätte wenigstens niemand auf die Beantwortung der Titelfrage gewartet. 

Aber Fachleute kamen natürlich auch noch zu Wort. An einem Tisch im Stahlwerk wurden all diejenigen versammelt, die tiefere Einsichten vermitteln sollten. Dort durfte die Chefin des Deutschen Gewerkschaftsbundes, die Vorsitzende des Sachverständigenrates und ein niederländischer Journalist zum Besten geben, was sie für typisch an der deutschen Misere halten. Passend war es allerdings, dass die drei auch keinen Schimmer von einer volkswirtschaftlichen Diagnose hatten, sondern weiter auf der Mikroebene blieben bzw. das wiederholten, was die deutschen Wahlkämpfer tagein, tagaus predigen: Bürokratieabbau und Wettbewerbsfähigkeit die einen, gute Löhne und soziale Absicherung die anderen.

Insbesondere die Vorsitzende des Sachverständigenrates hat wieder einmal gezeigt (wie schon im letzten Jahresgutachten), dass sie die Ebene der Volkswirtschaft einfach nicht kennt, sondern wie alle anderen glaubt, dass Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet. So plauderte man über KI, über Digitalisierung und über die Probleme mit den chinesischen Autos. Sogar den „extremen Fachkräftemangel“ durfte Monika Schnitzer unwidersprochen in die Runde werfen, obwohl fast alle Einzelbeispiele, die vorher gezeigt wurden, eindeutig belegten, dass derzeit zehntausende von Fachkräften von den Unternehmen einfach vor die Tür gesetzt werden. Witzig war auch, dass der ZDF-Experte den niederländischen Journalisten um Aufklärung darüber bat, warum die deutsche Produktivität so schwach sei. Er hätte sich auch selbst fragen könne, die Antwort wäre sicher genauso sachverständig gewesen. 

Ja, es war wohl ein Witz! Wenn ich eine Satiresendung über Wirtschaftsjournalismus machen würde, sie würde genauso aussehen. Man hält allen möglichen Menschen ein Mikrofon vor die Nase, macht ein bis zwei schöne Zeichentrickfilme zur Illustration der schweren Materie, fährt einige hundert Male durch eine Fabrikhalle, lässt von kundigen Unternehmern ihr Erfolgsgeheimnis erklären und schafft Betroffenheit durch zwei bis drei Beispiele von Menschen, die wirklich Pech hatten. 

So geht Wirtschaft. So kann auch klein Fritzchen Wirtschaft und der große Fritz schon gar. Diese Sendung war aber auch der Beweis dafür, dass die deutschen Volkswirte an ihrer angebotspolitischen Kleingeistigkeit ersticken, weil sich sonst niemals ein Journalist trauen würde, eine Sendung zu machen, die alles auslässt, was auf der gesamtwirtschaftlichen Ebene von zentraler Bedeutung ist.

Es gab natürlich keine Nachfrage. Wenn in Deutschland über Wirtschaft gesprochen wird, gibt es niemals Nachfrage, sondern immer nur Angebot. Dass die Empirie genau das Gegenteil anzeigt, interessiert niemanden. Warum sollten wir unsere Vorurteile korrigieren, wo es sich damit doch so bequem lebt? In allen Bereichen der deutschen Wirtschaft wird Nachfragemangel gemeldet und die Kapazitätsauslastung ist sehr niedrig (wie z. B. hier nachzulesen). Hier hat die Investitionsschwäche der Unternehmen ihren Ursprung. 

Die Realeinkommensverluste der Masse der Arbeitnehmer sind wiederum der wichtigste Grund für die Nachfrageschwäche. Wie die Abbildung 1 zeigt, haben die Lohnsteigerungen der letzten Jahre bei weitem nicht die Preissteigerungen ausgeglichen, die aus den verschiedensten Gründen schockartig aufgetreten sind (beide Abbildungen sind von Friederike Spiecker erstellt worden). 

Abbildung 1

Dem Großteil der Einkommensverluste in Deutschland stehen Einkommensgewinne im Rest der Welt gegenüber. Die Rohstoffproduzenten sind die mit Abstand größten Gewinner gewesen. Davon aber hat die deutsche Wirtschaft nicht in gleichem Maße profitieren können, weil diese Länder überwiegend weit höhere Sparquoten haben als die deutschen Konsumenten, folglich ist auch weltweit Nachfrage ausgefallen. 

Das einzige Mittel, um eine solche globale Nachfrageschwäche zu bekämpfen, wären massive Zinssenkungen gewesen (wie hier nachzulesen). Die Notenbanken haben aber das Gegenteil getan, sie haben (ohne jeden vernünftigen Grund) die Zinsen erhöht (wie hier gezeigt). In Deutschland ist sogar, wie die Abbildung 2 zeigt, der kurzfristige Zins im Verhältnis zum langfristigen Zins stärker gestiegen als jemals seit den 1950er Jahren, die Zinsstruktur war also stärker und länger invers als in früheren Restriktionsphasen. Diese Inversion, auch dafür gibt es unzählige Belege, ist regelmäßig verantwortlich für Rezessionsphasen. Zinsen sind eben nicht nur ein mehr oder weniger unbedeutender Kostenfaktor, sondern der entscheidende Gradmesser dafür, ob man darauf wartet, dass Erträge für Ersparnisse vom Himmel fallen oder ob man selbst zur Bank geht, einen Kredit aufnimmt und investiert. Wer in diesen Tagen von der wirtschaftlichen Schwäche spricht, ohne die Zinspolitik der EZB zu erwähnen, zeigt von vorneherein, dass er kein Interesse an einer sinnvollen Diagnose hat.

Nur wenn die Finanzpolitik, wie in den letzten Jahren in den USA, massiv mit eigener Nachfrageausweitung dagegenhält, führt eine solche Inversion nicht zwingend zu einer Rezession. Deutschland und Europa aber quält sich die Finanzpolitik mit selbst auferlegten Schuldenbremsen, die exakt das Gegenteil dessen verlangen, was derzeit angemessen ist. 

Abbildung 2

Dass unter den oben beschriebenen Nachfrage- und Zinsbedingungen die Investitionstätigkeit einbricht, die Konjunktur in die Knie geht und die Arbeitslosigkeit steigt, ist vollkommen klar. Doch all das wollen die Zuschauer des ZDF sicher gar nicht wissen. Sie lassen sich lieber von dümmlichen Interviews und sinnlosen Statements einlullen, die ihr Hirn von vorneherein nicht überanstrengen. So zumindest muss es ein Sender sehen, der, paradoxerweise in öffentlichem Auftrag, seine „Wirtschaftsexperten“ ausschickt, um herauszufinden, was die deutsche Wirtschaft jetzt braucht.