Sondierungspapier – Europa ist nur ein Wort

(Dieser Artikel ist heute mit einem anderen Titel beim Freitag online erschienen)

Es ist ein dünnes Papier. Auf knapp elf Seiten haben die Union und die SPD aufgelistet, worüber sie in den kommenden Koalitionsverhandlungen eine Einigung erzielen wollen. Jenseits der Schuldenfrage findet sich lediglich ein Sammelsurium, das aus den Wahlprogrammen der beiden Parteien herauskopiert und zusammengestückelt wurde. 

Besonders beeindruckend ist die Tatsache, dass Europa kaum vorhanden ist. Auf der ersten Seite taucht es bei den allgemeinen Glaubensbekenntnissen dreimal auf, dann kommt es nur noch bei der Migration vor.  Die entscheidende Frage, ob nämlich den deutschen Sonderschulden auch europäische Sonderschulden folgen dürfen, wird nicht einmal gestellt. Wie bei den Corona-Schulden im Jahr 2020 scheint die Parole zu sein, dass das, was Deutschland tut und kann, noch lange nicht für die anderen gilt. Für das größte Land einer Währungsunion ist das beschämend und ein gewaltiger strategischer Fehler zugleich. 

Es ist besonders beschämend, weil genau dieses Land sich schon zu Beginn der Währungsunion in eine Lage manövriert hat, die allen anderen das Verschulden durch den Staat besonders schwer macht. Heute Vormittag meldete das Statistische Bundesamt, dass der deutsche Überschuss im Außenhandel auch im Januar dieses Jahres bei 16 Milliarden Euro lag, was nichts anders bedeutet, als dass der Überschuss im gesamten Jahr wiederum in der Nähe von 200 Milliarden Euro liegen wird. Das sind 200 Milliarden neue Schulden, die vom Ausland aufgenommen werden. Dadurch wird der deutsche Staat unmittelbar entlastet, weil er sonst der Hauptschuldner für die Ersparnisse der Deutschen sein müsste (wie hier gezeigt). Nur weil dieser Überschuss Jahr für Jahr seit Mitte der 2000er Jahre anfällt, konnte Deutschland seine staatliche Gesamtverschuldung relativ gering, nämlich in der Nähe von 60 Prozent des BIP halten.

Eine solche Entlastung hat kein anderes europäisches Land (außer den Niederlanden), was sich beispielsweise in dauernd steigenden Schuldenquoten des Staates in Frankreich und Italien niedergeschlagen hat. Wenn sich Deutschland jetzt selbst eine Lizenz zum staatlichen Schuldenmachen ausstellt, aber nicht sagt, was das für die europäische Schuldenbremse bedeutet, ist das die höchste Form der Verachtung für die europäischen Partner, die man sich ausdenken kann. Die werden das nicht unbeantwortet lassen.

Noch erstaunlicher: Wettbewerbsfähigkeit ist im Sondierungspapier das wirtschaftspolitische Hauptthema in dem Land, das, ausweislich seines gewaltigen Überschusses im Handel und einer unerhört hohen Exportquote am BIP, wettbewerbsfähiger als die meisten anderen ist. Da alle Europäer versuchen, wettbewerbsfähiger zu werden, stellt sich die einfache Frage, gegenüber wem man die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen will, ohne gegen protektionistische Mauern zu rennen. Donald Trump hat ja schon oft genug damit gedroht, solche Mauern zu errichten und gegenüber China ist sowieso in Sachen Wettbewerbsfähigkeit nichts zu machen. Wenn alle Europäer noch mehr exportieren und weniger importieren wollen, müssen sie sich vielleicht eine zweite Erde suchen.

500 Milliarden Euro Sonderschulden will die neue Koalition über zehn Jahre für Infrastrukturinvestitionen aufnehmen. Das klingt gut, ist aber über die gesamte Zeit gesehen nicht sehr viel und zudem mit vielen Tücken versehen. Nirgendwo steht, dass diese Summe zusätzlich aufgebracht wird, was zur Folge hat, dass alle öffentlichen Investoren ihre Rechnungen aus den Sondertopf bezahlen und vielleicht keinen Euro mehr investieren als zuvor. 

Man fragt sich auch, warum man ausgerechnet Sonderschulden braucht, um Investitionen zu finanzieren. Sollen diese Schulden zurückgezahlt werden, obwohl ihnen eindeutig ein Gegenwert in Form von besseren Verkehrswegen und stabilen Brücken gegenübersteht, wenn die Ausgaben wirklich zusätzlich sind? Infrastrukturinvestitionen verbessern die Produktivität einer Volkswirtschaft. Dagegen nimmt man den Großteil der Ausgaben von der Schuldenbremse aus, die ohne Zweifel vollkommen unproduktiv sind, nämlich die Ausgaben für das Militär.

Warum hebt man, statt noch kompliziertere neue Regeln in das Grundgesetz zu schreiben, die Schuldenbremse nicht generell auf? Hätte Deutschland eine Strategie, um die außenwirtschaftlichen Überschüsse abzubauen, stünden dem Staat ohne jedes Finanzierungsproblem jedes Jahr 200 bis 250 Milliarden Euro an deutschen Ersparnissen zur Verfügung, die er investieren könnte. Das wäre ein Zukunftsprogramm, mit dem man  effektive Umweltpolitik für eine moderne Gesellschaft betreiben könnte und das für Europa ein Segen wäre.

Noch ein Wort zur Migration. Jeder vernünftige Mensch weiß, dass es haltbare Lösungen nur im Rahmen der Europäischen Union und nicht gegen sie gibt. Die SPD hat Friederich Merz immerhin dazu gebracht, diese Tatsache im Sondierungspapier anzuerkennen. Wer die innereuropäischen Grenzen dicht machen will und gleichzeitig glaubt, er könne die eigene Wirtschaft über die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, was heißt, die Verschlechterung bei den Handelspartnern, sanieren, ist ein Narr. Setzt sich Deutschland als Land in der Mitte Europas über alle Vereinbarungen hinweg und versucht, mithilfe massiver Grenzkontrollen jeden asylsuchenden Migranten in das Nachbarland zurückzuweisen, von dem er kommt, ist auch der europäische Binnenhandel am Ende. Darunter leidet wiederum Deutschland am meisten.