(Dieser Artikel ist heute bei Telepolis erschienen)
Wenn man wissen will, was wirtschaftspolitisch schief läuft in Deutschland, kann man sich eine beliebige Nachrichtensendung an den Tagen anschauen, an denen die Bundesagentur für Arbeit die monatlichen Ergebnisse der Arbeitsmarktstatistik verkündet. Nehmen wir das heute-Journal vom 30. Februar dieses Jahres. Unmittelbar nachdem der Moderator verkündet hat, dass die Zahl der Arbeitslosen im Februar um sage und schreibe 180 000 höher lag als ein Jahr zuvor, wendete er sich einem Beitrag zu, der absolut nichts mit dieser Meldung zu tun hatte, sondern davon handelte, dass irgendein beliebiger Malereibetrieb in irgendeiner beliebigen Gegend in Deutschland Schwierigkeiten habe, fähige Mitarbeiter zu finden. Fachkräftemangel: Damit war das Thema Arbeitslosigkeit erledigt.
Dass mittlerweile fast drei Millionen Personen offiziell arbeitslos gemeldet sind und etwa zwei Millionen zusätzlich in der sogenannten Stillen Reserve zu finden sind, ist einfach keine Meldung wert. Die Zahl der von den Betrieben der Bundesagentur gemeldeten offenen Stellen liegt zu Beginn dieses Jahres bei 650 000 und damit um mehr als 200 000 unter dem Höchstwert, der nach der Coronaschock im Sommer 2022 gemessen wurde. Das ist der Befund, um den es geht. Fünf Millionen Menschen, die Arbeit suchen und 650 000 Stellen, die angeboten werden. Im Rest Europas ist es noch viel gravierender, dort ist die Arbeitslosigkeit seit 2010 kaum gesunken und liegt zumeist sogar weit über den deutschen Werten. Fachkräftemangel ist in einer solchen Situation nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver. Man will damit der der Bevölkerung weismachen, dass es gar keine Arbeitslosigkeit gibt, sondern, so wie es die CDU im Wahlkampf verkündet hat, nur Menschen, die sich davor drücken, die massenweise angebotenen offenen Stellen anzunehmen.
Genau hier liegt auch das Sondierungspapier von CDU und SPD fundamental falsch. Zwar wird kurz erwähnt, dass es Wachstumsimpulse geben soll, die Arbeitsplätze schaffen, aber „Vermittlung“ von Arbeitsplätzen ist danach das Problem, mit dem man sich intensiv auseinandersetzt, nicht die Beseitigung des gravierenden Mangels an Arbeitsplätzen. Ähnliches gilt für die Investitionen, mit denen schließlich neue Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Man will, steht in dem Papier „…sofort nach Regierungsübernahme spürbare Anreize für unternehmerische Investitionen in Deutschland setzen“ und in eine „Unternehmenssteuerreform einsteigen“.
Nun sind, ausweislich der Befragungen von Unternehmen durch das ifo-Institut, die deutschen Unternehmen vor allem mit einem Mangel an Nachfrage konfrontiert. Das schlägt sich in einer sehr niedrigen Auslastung ihrer Kapazitäten nieder. Wer Anreize zum Investieren setzen will, muss dafür sorgen, dass die Nachfrage auf der gesamten Breite der Volkswirtschaft und damit die Auslastung der Kapazitäten steigt. Mit einer Unternehmenssteuersenkung zu winken, hilft da überhaupt nicht, weil viele Unternehmen Verluste machen oder die Gewinne so unter Druck sind, dass sie die Investitionen jetzt zusammenstreichen.
Jetzt macht der Staat doch Schulden
Jetzt kommen aber doch die Schulden, mit denen der Staat die Konjunktur ankurbelt, wird man einwenden. Das stimmt, aber das überraschende Ende der deutschen Schuldenbremse geht einher mit sehr speziellen Aufgaben, die durch die kreditfinanzierten staatlichen Ausgaben gelöst werden sollen. Zum einen gibt es ein Tiefbauförderungsprogramm, dass über zehn Jahr laufen soll und mit 50 Milliarden pro Jahr nur dann wirklich positive Effekte mit sich bringen wird, wenn es wirklich zusätzlich zu dem umgesetzt wird, was ohnehin geplant ist. Der Rest geht weitgehend in die militärische Aufrüstung und hat nur sehr begrenzte Auswirkungen auf den Großteil der Wirtschaft, ganz abgesehen von der Tatsache, dass Investitionen in Rüstung vollkommen unproduktiv sind. Nur mit viel Phantasie kann man behaupten, es gebe positive technologische Spill Overs, also Auswirkungen auf die allgemeine technologische Leistung einer Volkswirtschaft.
Hinzu kommt, und das ist die große Unbekannte, dass diese Regierung angesichts ihrer grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Schulden alles tun wird, um im sogenannten konsumtiven Bereich zu sparen, also bei den Sozialausgaben, den Renten usw. All das würde unmittelbar wieder die Unternehmen und deren Kapazitätsauslastung negativ betreffen. Lässt sich die SPD darauf ein, ist keineswegs ausgemacht, dass der Gesamteffekt der Fiskalpolitik unter einer Regierung Merz trotz der „Megaschulden“ positiv ist.
Eine angemessene Diagnose
Bei einer angemessenen Diagnose muss man zur Kenntnis nehmen, was in Deutschland mit den Realeinkommen passiert ist. Die Abbildung des Statistischen Bundesamtes zeigt, wie sich die Reallöhne in den letzten Jahren entwickelt haben. Von 2020 bis 2023 gab es nur Stagnation oder Rückgang, insbesondere im Jahr 2022 sanken diese durchschnittlichen Einkommen der Masse der Arbeitnehmerhaushalte um 4 Prozent. Im vergangenen Jahr gab es dann erstmals seit 2020 einen Zuwachs um 3,1 Prozent. Für 2025, so viel kann man jetzt schon sagen, werden die Reallöhne vermutlich stagnieren, weil die Gewerkschaften angesichts steigender Arbeitslosigkeit und der Drohung mit Massenentlassungen auf eine extrem moderate Linie eingeschwenkt sind.

Folglich ist von der Binnennachfrage in Deutschland in den kommenden Jahren keine Dynamik zu erwarten. Auch der Export schwächelt. Dennoch weist Deutschland immer noch gewaltige Außenhandelsüberschüsse auf, die in den USA für Argwohn sorgen und noch weitere protektionistische Maßnahmen provozieren könnten. Wird die deutsche Art der Flexibilisierung der Schuldenaufnahme nicht rasch auf ganz Europa übertragen, ist auch bei den wichtigen Nachbarn nicht mehr als Stagnation zu erwarten. Da auch die europäische Geldpolitik (wie hier zuletzt gezeigt) noch für einige Zeit auf der Bremse stehen wird, sind die unternehmerischen Investitionen auch weiterhin der Schwachpunkt. Man braucht in dieser Situation schon einen ungewöhnlich großen Stimulus vom Staat, um die Wirtschaft wieder auf einen Wachstumspfad zu bringen. Ob die von CDU und SPD geplanten Stimuli ausreichen, ist angesichts vieler unbekannter Einflussfaktoren eine völlig offene Frage.
Derzeit überbieten sich diverse Experten damit, lange Listen von Maßnahmen zu erstellen, die man alle umsetzen müsse, um Deutschland wieder in die Spur zu bringen (wie hier beispielsweise Peer Steinbrück und Kollegen). Auch die potentiellen Koalitionäre glauben ausweislich des Sondierungspapiers, dass viele Einzelmaßnahmen am Ende auch eine große Wirkung haben werden. Das kann sich schnell als Irrtum erweisen. Konzentriert man sich vorwiegend auf Einzelmaßnahmen und verliert das Große und Ganze aus dem Auge, wird man keinen Schritt weiterkommen.
Keine Makroökonomie
Eines der zentralen Versäumnisse der Ampel war es, das makroökonomische Bild der Wirtschaft und seine Konsequenzen weitgehend ausgeschaltet zu haben. Einmal im Jahr einen Jahreswirtschaftsbericht schreiben zu lassen und vor der Presse einige Schaubilder hochzuhalten, wie das Robert Habeck gemacht hat (siehe das Bild hier), genügt einfach nicht. Die Regierung muss jederzeit die Hand am Puls der Wirtschaft haben und konsequent eingreifen, sobald sich eine Schwäche wie etwa der Anstieg der Arbeitslosigkeit zeigt. Dazu braucht man die entsprechende Expertise im Wirtschaftsministerium und die Beseitigung von gesetzlichen Hindernissen.
Jede Art von Schuldenbremse ist bei dieser Arbeit des Staates kontraproduktiv. Die einzig sinnvolle Lösung ist folglich die komplette Abschaffung dieses bürokratischen Ungeheuers. Eine enorme Belastung, die in den üblichen Kommentaren überhaupt nicht auftaucht, ist in Europa zudem das einseitige Mandat, das man der Geldpolitik gegeben hat. Während die Geldpolitik in den USA gleichberechtigt einen hohen Beschäftigungsstand und Preisstabilität zu fördern hat, kann sich die EZB allein auf Preisstabilität beschränken. Das ist durch nichts zu rechtfertigen und ein gewaltiger Nachteil gegenüber den USA. Wer auf längere Sicht erfolgreich sein will, muss das Mandat der EZB grundsätzlich in Frage stellen.
In den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts glaubte ein liberaler Wirtschaftsminister, Wirtschaft finde ausschließlich in der Wirtschaft statt. Das war schon immer falsch. Heute, mit enormen Herausforderungen nationaler und internationaler Art, stimmt der Satz weniger denn je. Dennoch weht der Geist genau jener Vorstellung durch das Sondierungspapier. Der Fokus auf Klein-Klein und die vollständige Abwesenheit einer gesamtwirtschaftlichen Diagnose und der entsprechenden Therapie ist unmittelbar von der Ampel übernommen. Das könnte auch dieser Koalition, kommt sie denn zustande, rasch zum Verhängnis werden.