Koalitionsvertrag: Ein neues Dokument der Ratlosigkeit

(dieser Artikel ist gestern im „Freitag“ erschienen)

Ein Koalitionsvertrag liegt vor. Wer sich aber die Mühe macht, die 144 Seiten zu lesen, ist erstaunt, wie detailverliebt dieser Vertrag ist und wie wenig man darüber erfährt, ob die neue Regierung wirklich darüber nachgedacht hat, welchen strategischen Herausforderungen sie gegenübersteht. Zwar hat man sich eine Präambel abgerungen, aber die besteht aus Plattitüden, die kaum noch zu toppen sind. Im Bereich Wirtschaft etwa heißt es dort auf der ersten Seite: 

„Im Inneren ist unsere Wirtschaft in einer anhaltenden Wachstumsschwäche. Das Leben in Deutschland ist komplizierter, teurer und anstrengender geworden. Zugleich stellt eine protektionistische Handelspolitik die Stabilität und Ordnung der Weltwirtschaft in Frage. Irreguläre Migration polarisiert unsere Gesellschaft. Ausbleibende Strukturreformen haben den Konsolidierungsdruck auf die öffentlichen Haushalte erhöht. Das Vertrauen in die Lösungskompetenz des Staates sinkt. Viele Bürgerinnen und Bürger sind unzufrieden.“

Das ist weniger als Nichts. Die Wachstumsschwäche hat offenbar damit zu tun, dass das Leben in Deutschland komplizierter, teurer und anstrengender geworden ist. Das ist nicht dünn, das ist einfach Ausdruck eines Vakuums. Offenbar war in dem ganzen Prozess nirgendwo eine minimale Wirtschaftskompetenz vorhanden.

Wie entsteht ein Koalitionsvertrag?

Der normale Bürger kann sich kaum vorstellen, wie Koalitionsverhandlungen ablaufen. Man sieht ja immer nur die wichtigen Menschen, wie sie vor Mikrofone treten und dem Volk erzählen, wie hart sie gearbeitet haben in den Tagen und Nächten, die nun hinter ihnen liegen. Tatsächlich sind aber sehr viel mehr Menschen beteiligt, als es die Öffentlichkeit erfährt. 

Koalitionsverhandlungen beginnen üblicherweise damit, dass Heerscharen von Beamten in allen Ministerien den Auftrag erhalten, alle für das jeweilige Ministerium wichtigen Punkte mit Blick auf die an den Verhandlungen beteiligten Parteien und deren Wahlprogramme so aufzuschreiben, dass sie programmatisch in einen Koalitionsvertrag passen. Das sind natürlich eine ungeheure Masse an Punkten und erklärt, warum ein solcher Vertrag am Ende auch Unterpunkte wie „Einsamkeit“ oder „Traineroffensive“ enthält. 

Ist dieses Konglomerat auf der Beamtenebene fertig, erhalten die Verhandler der Parteien die Möglichkeit, ihre spezifischen Anmerkungen zu allen Unterpunkten zu machen. Dieses Papier wird dann Satz für Satz daraufhin abgeklopft, ob beide Parteien jeweils eine Formulierung finden, mit der beide leben können. Erst ganz zum Schluss beugen sich die Parteispitzen darüber und verhandeln über die wirklich umstrittenen Punkte.

So weit, so gut, aber das Entscheidende fehlt. In diesem ganzen Prozess wird nämlich normalerweise nicht ein einziges Mal versucht, einige grundsätzliche Fragen aufzugreifen und eine angemessene Strategie zu formulieren. Niemals gibt man zu Beginn der Verhandlungen einigen wenigen ausgesuchten Personen den Auftrag, ihren ganzen ministerialen Kleinkram zu vergessen und grundlegende europäische und globale Herausforderungen zu analysieren sowie die Handlungsmöglichkeiten einer deutschen Regierung dazu abzuklopfen. 

Das Ergebnis ist deutsches business as usual mit einem dünnen neuen Anstrich

Man hätte zunächst die eklatante europäische Wachstumsschwäche in einem größeren Rahmen analysieren, also fragen müssen, ob die europäischen Institutionen wirklich optimal aufgestellt sind, um Wachstum und Entwicklung zu fördern. Was ist von der einseitigen Ausrichtung der Geldpolitik auf Preisstabilität zu halten? Muss nicht auch die Notenbank, wie in den USA, auf das Ziel der Beschäftigung ausgerichtet werden. Kann der Stabilitätspakt für Europa noch Geltung haben, wenn Deutschland sich von den Zielen, die dahinterstehen, verabschiedet? Gerade im Lichte der transatlantischen Ereignisse hätte man gründlich darüber nachdenken müssen, ob die deutsche und die europäische Ausrichtung auf Wettbewerbsfähigkeit noch angemessen und erfolgversprechend ist. Hätte nicht eine Bundesregierung, die wirtschaftspolitische Fragen in den Vordergrund stellt, auch den globalen Rahmen berücksichtigen müssen, also die Bedeutung der Welthandelsorganisation, die Rolle des Internationalen Währungsfonds, die Abwesenheit einer globalen Geldordnung, die strategische Bedeutung Chinas und die Rolle der Entwicklungsländer?

Stattdessen bleibt man beim Klein-Klein. In zwei Pressegesprächen, die ich von Merz gesehen habe, begann er mit der Verbesserung der „preislichen Wettbewerbsfähigkeit“ der deutschen Wirtschaft. Das ist grotesk, offenbar wissen weder er noch seine Umgebung, warum die USA überhaupt den internationalen Handel in den Fokus nehmen. Es gibt das Factsheet der Präsidenten, das Deutschland zurecht des Lohndumpings bezichtigt, es gibt die Currency Reports der US-Administration, die Deutschland kritisieren und es gibt einen ganz neuen Report, der in großer Ausführlichkeit alle Handelshemmnisse auflistet, denen sich die USA gegenübersehen. 

Wer Deutschland aus der Misere führen will, muss seinen Blick weiten. Hätte es in den vergangenen 20 Jahren eine global agierende und kraftvolle Institution gegeben, die darauf achtet, dass es vernünftige Regeln für die globale Wirtschaftsordnung gibt und diese auch eingehalten werden, wäre Deutschland mit seiner Exportüberschusspolitik niemals durchgekommen. Trump und seine krampfhaften bilateralen Versuche, die amerikanischen Defizite zu reduzieren, bräuchte man dann nicht. Nur eine monetäre Ordnung, die die Handelsordnung ergänzt, kann die Bedingungen dafür schaffen, dass Staaten relativ frei miteinander handeln können. Dass Deutschland bei jeder Gelegenheit behauptet, es setze sich für eine regelbasiert Ordnung ein, selbst aber vernünftige Regeln internationaler Kooperation jeden Tag mit Füßen tritt, ist der entscheidende Widerspruch in der deutschen Politik. 

Ein Koalitionsvertrag, der das alles nicht einmal zur Kenntnis nimmt, ist das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben wurde. Statt Beamte mit Kleinkram zu beschäftigen, hätte man Menschen fragen sollen, die etwas über die Verhältnisse in dieser Welt wissen und vor einer Kritik an Deutschland nicht zurückschrecken. Wer so weitermacht wie vorher, obwohl er behauptet, den Neuanfang zu wagen, wird genauso kläglich scheitern wie seine Vorgänger.