Dieser Artikel ist heute auf Telepolis (telepolis.de) erschienen
Ende Dezember 2021 habe ich zusammen mit einem Kollegen aus Anlass des 20. Jahrestags des größten finanzpolitischen Debakels der jüngeren Geschichte einen Artikel über Argentinien geschrieben, in dem wir resigniert feststellten, es sei kein Licht am Horizont dieses Landes erkennbar. Wir erinnerten daran, dass es der Versuch Argentiniens in den 1990er Jahren war, den argentinischen Peso bei einem Wert von 1 :1 gegenüber dem US-Dollar zu fixieren, der am Anfang des Debakels stand. „Fixing forever“ hieß das Experiment am lebenden Patienten, das unter Aufsicht und positiver Begutachtung durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) in Argentinien durchgeführt wurde und katastrophal gescheitert ist.
Als wir 2021 den Artikel schrieben, lag der Wert des argentinischen Pesos bei etwa 100 zu 1 gegenüber dem US-Dollar, man brauchte also einhundert Pesos, um einen Dollar zu kaufen. Das war aus fixing forever geworden. In diesen Tagen braucht man fast 400 Pesos, um einen Dollar zu kaufen. Der Wahnsinn hat eine neue Dimension erreicht. Die Inflationsrate liegt inzwischen bei über einhundert Prozent und die Armut ist ein Massenphänomen geworden. Viele sozialdemokratische (sozialistische) Regierungen, einen hyperkonservativen Wahnsinn von 2015 bis 2019 unter Mauricio Macri und die Assistenz des IWF hat es gebraucht, um ein Land, das eigentlich enorme Entwicklungspotentiale besitzt, zugrunde zu wirtschaften (dazu hier ein Artikel aus dem Jahre 2019 und einer vom Frühjahr 2022).
Im Herbst wählt Argentinien erneut. Gerade gab es Vorwahlen, nach denen man die Stärke der Kandidaten abschätzen kann und, siehe da, knapp gewonnen hat diese Vorwahlen kein Hyperkonservativer wie Macri, sondern einer, der noch viel weiter rechts steht, ein ausgemacht verrückter Libertärer namens Javier Milei. Der hat viele tolle Ideen und die beste ist, wie könnte es in Lateinamerika anders sein, er will endlich die verdammte nationale Währung abschaffen und sie vollständig durch den US-Dollar ersetzen. Fixing forever war gestern, vollständige Dollarisierung ist das neue Zauberwort, dann gibt es endlich keine Währung und keine nationale Geldpolitik mehr, die die Menschen zur Verzweiflung bringen kann.
Nun ist es keineswegs ausgemacht, dass Milei die Präsidentschaftswahl Ende Oktober gewinnt, aber die Tatsache, dass man mit einem solchen Programm 30 Prozent in einer Vorwahl erreichen und viele junge Menschen begeistern kann, sollte uns schlaflose Nächte bereiten. Ja, uns, weil die Europäer als zweitgrößter Anteilseigner des IWF unmittelbar verantwortlich sind für den Irrsinn, den diese Organisation in der Welt anrichtet und für die schlimmen politischen Folgen, die das irgendwann hat. Deutsche Minister fahren zwar nach Südamerika, um Fachkräfte anzulocken, aber noch nie ist einer auf die Idee gekommen, die Gastgeber zu fragen, warum Lateinamerika an der Währungsfrage verzweifelt.
Dollarisierung ist eine Sackgasse
Was Dollarisierung bedeutet, kann man leicht an einem anderen lateinamerikanischen Land studieren, das ebenfalls bald wählt und im Begriff ist, in eine mindestens so chaotische politische Lage abzurutschen wie Argentinien. Ecuador ist schon seit dem Jahr 2000 dollarisiert und das Ergebnis ist keineswegs die große Stabilität und der Fortschritt, den die Anhänger dieses radikalen Schrittes für ihre Sicht der Dinge proklamieren. Zwar gibt es in einem dollarisierten Land keine unmittelbaren Währungskrisen mehr, aber es gibt in der Regel einen schleichenden Verfall, weil fast immer die Inflation noch zu hoch ist, wodurch die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen erodiert, und weil die Zinsen, die man für Dollarkredite bezahlen muss, die einheimischen Investoren systematisch überfordern.
Das Schlimmste an der Dollarisierung ist jedoch, dass sie wirklich eine Reise ohne Wiederkehr ist. Fixing forever war nach weniger als zehn Jahren zu Ende, aber aus der Dollarisierung kommt man nicht mehr raus. In Ecuador hat der heute umstrittene, aber in meinen Augen wirklich aufgeklärte Präsident Rafael Correa in seiner zehnjährigen Amtszeit mehrfach versucht, in Lateinamerika eine Koalition für monetäre Zusammenarbeit zu formen, die ihm die Möglichkeit gegeben hätte, die Dollarisierung in Frage zu stellen. Doch die ganze Region ließ alle Initiativen im Sande verlaufen, aus Gleichgültigkeit, aus heimlicher Rivalität, aus Angst vor den Amerikanern, warum auch immer.
Ohne internationale Übereinkunft hat auch Correa sich nicht getraut, einen Schritt in Richtung Rückkehr zu einer nationalen Währung zu machen. Sind die Bürger erst einmal im Besitz des stabilen Dollars, kann ihnen keine Regierung erklären, dass sie in der Lage wäre, eine neue nationale Währung zu schaffen, die so stabil wie der Dollar ist und die gravierenden Nachteile der Dollarisierung vermeidet. Von immerwährender Inflationierung und Abwertung traumatisierte Menschen kann man niemals mehr in ein neues nationales Währungsabenteuer hineinlocken.
Regelbasierte Ordnung ohne die entscheidende Regel
In Deutschland redet man gern über regelbasierte internationale Ordnungen. Die Außenministerin ist geradezu als Botschafter für solche Ordnungen unterwegs. Man verweigert sich aber zugleich der einfachen Einsicht, dass in einer funktionierenden regelbasierten Handelsordnung kein Land über lange Zeiträume hinweg Leistungsbilanzüberschüsse haben darf, weil das zwingend mit sich bringt, dass andere über lange Zeiträume hinweg Defizite aufweisen, also dauernd über ihre Verhältnisse leben. Das kann Deutschland schon deswegen nicht wahrhaben wollen, weil es selbst in dieser Hinsicht weltweit der größte Sünder ist, denn es lebt seit zwei Jahrzehnten systematisch unter seinen Verhältnissen.
Wer dauernd über seinen Verhältnissen lebt, wird früher oder später ein Währungsproblem haben, weil Leistungsbilanzdefizite von überbewerteten Währungen verursacht werden, die nach Abwertung der Währung des Defizitlandes verlangen. Genau dafür aber gibt es in unserer genialen regelbasierten Handelsordnung keine Regel.
Außer in Europa überlässt man die Entscheidung, ob Währungen auf- oder abwerten sollen, gerne den Devisenmärkten, denn dort spekulieren unsere Banken und Hedgefonds mit großen Summen, und denen wollen wir ja nicht das Geschäft verderben. Wenn Länder dann in Krisen geraten, weil die Spekulanten über Nacht die Kurve kratzen und die Währung eines Landes wie Brasilien oder Argentinien ohne jede Grenze und gegen jede Vernunft abschmiert, dann schicken wir schnell den IWF, der alles noch schlimmer macht, weil er in unserem Auftrag verpflichtet ist, die Macht der Märkte über alles zu stellen.
Lateinamerika muss sich intellektuell emanzipieren
Es ist aber keineswegs so, dass die auftretenden Fehlentwicklungen nur Folge einer ungeeigneten internationalen Ordnung sind. Die Länder selbst machen große unverzeihliche Fehler. Man hat in ganz Lateinamerika bis heute nicht begriffen, dass Inflationierung immer in gewaltigen Krisen endet und deswegen gar nicht erst begonnen werden darf. Man hängt auch immer noch in fast allen Ländern dem naiven Glauben an, man bräuchte nur eine unabhängige Zentralbank und schon wäre es ein Leichtes, die Inflation zu kontrollieren.
Langandauernde Inflation aber ist das Resultat eines Versagens der politischen Führung, die es nicht schafft oder nicht einmal versucht, allen gesellschaftlichen Gruppen einen Konsens darüber abzuringen, dass die Verteilung dessen, was erwirtschaftet wird, fair zu sein hat und derjenige niemals gewinnen wird, der versucht, den anderen übers Ohr zu hauen. Glaubwürdig ist ein solcher Versuch vermutlich nur dann, wenn er von der Bereitschaft einer Regierung begleitet wird, den enormen schon bestehenden Ungleichheiten mit Mitteln der Steuerpolitik zu Leibe zu rücken.
Ein solcher gesellschaftlicher Konsens muss Bestand haben, lange bevor es überhaupt um das Erwirtschaften geht. Nur so kann man verhindern, dass es immer wieder zu massiven Verteilungskonflikten und folgenden inflationären Phasen kommt, die dann nur noch mit Gewalt von der Notenbank gestoppt werden könnten. Häufig unterbleibt aber genau das, weil man die negativen wirtschaftlichen Folgen in Form von Arbeitslosigkeit und noch größerer Armut politisch nicht verkraften kann. Liegen die Inflationsraten in der Größenordnung von einhundert Prozent und das Land wirtschaftlich am Boden, wie es derzeit in Argentinien der Fall ist, kann überhaupt niemand mehr verantworten, diese Inflation mit geldpolitischen Maßnahmen zu stoppen.
Argentinien kann nur erfolgreich sein, wenn es sich von den neoliberalen westlichen Ideen über Arbeitsmärkte, Geldpolitik, staatliche Schulden und Finanzmärkte emanzipiert. Lateinamerika muss insgesamt von Asien lernen, das nur ein aktiver und aufgeklärter Staat eine Marktwirtschaft erfolgreich steuern kann. Wer glaubt, man könne mit libertären Vorstellungen eine moderne Wirtschaft in eine Weltwirtschaft entlassen, die nichts, aber auch gar nichts mit einer fairen regelbasierten Ordnung gemein hat, wird noch viel kläglicher scheitern als seine Vorgänger. Wir können nur hoffen, dass Argentinien dieses Schicksal erspart bleibt.