Et hätt noch immer jot jejange, sagt man in Köln, wenn etwas praktisch nicht mehr gut gehen kann. So ist es mit den Wahlen in Hessen und Bayern. Es ist noch einmal gut gegangen, aber es war reiner Zufall. Die sechs-Parteien-Demokratie der letzten Jahre wird durch das Erstarken der AfD zur vier-Parteien-Demokratie, weil die FDP und die Linke verschwinden. In der Folge kann man keine Lösungen für handlungsfähige Regierungen mehr finden und das, was man unbedingt verhindern will, tritt genau ein: die AfD wird immer stärker.
Selbst wenn die CDU um die 35 Prozent erzielt, wie jetzt in Hessen und in Bayern, kann sie nur noch schwer konservative Politik mehr machen – es sei denn, sie hat, wie im Freistaat, Freie Wähler zur Hand, die sich programmatisch in nichts von ihr unterscheiden und eine SPD, die einfach untergeht. In Hessen muss die CDU, die Koalitionen mit der AfD ausschließt, die 15-Prozent-Parteien Grüne oder SPD bezirzen, weil die FDP für die 35-Prozent-CDU verloren ist. Das wird zu Kompromissen führen, die am Ende niemandem gefallen außer der AfD.
Nimmt man an, dass die CDU auf Bundesebene knapp unter 30 Prozent bleibt, wie das derzeit die Umfragen nahelegen, wird es fatal. Liegt die AfD dann bei 20 Prozent und SPD und Grüne in der Gegend von 15 Prozent (FDP, Linke, Freie Wähler und Sonstige kommen, wie jetzt in Hessen, zusammen auf deutlich über 15 Prozent, spielen aber politisch keine Rolle mehr), reicht der CDU nicht einmal mehr ein Koalitionspartner, sie muss dann SPD und Grüne mit ins Boot nehmen. Damit ist eine konservative Politik, die der AfD schaden könnte, von vorneherein ausgeschlossen. Im Gegenteil, alles spricht dafür, dass dann die AfD nochmals deutlich zulegt.
Was ist Demokratie?
Demokratie ist im Prinzip ein sehr einfaches System: Die Mehrheit bestimmt. Schwierig ist allerdings die Frage, was die Mehrheit eigentlich ist und wie und von wem die undefinierte Mehrheit in den Entscheidungsorganen repräsentiert werden soll. Erschwerend kommt hinzu kommt, dass viele kluge Menschen der Meinung sind, die Mehrheit solle gar nicht in allen Fällen bestimmen, sondern nur dann, wenn es nicht gegen unveräußerbare Rechte der Menschen und gegen den Schutz von Minderheiten geht. Die reale Demokratie ist daher sehr kompliziert, weil es das Wahlrecht ist, das letztlich darüber entscheidet, wer wen und wie repräsentiert.
Die deutsche Demokratie muss, um handlungsfähig zu bleiben, sehr bald entscheiden, in welcher Richtung sie sich entwickeln will, um aus der Sackgasse zu kommen, in die sie das deutsche Wahlrecht hineinmanövriert hat. Will sie in Richtung USA gehen, also in Richtung eines reinen Mehrheitswahlrechts, wo das Prinzip gilt „the winner takes all“, oder in Richtung Schweiz, wo das Volk viel häufiger direkt gefragt wird und die Regierungsbildung immer von allen großen Parteien untereinander ausgekungelt wird. Tut man das nicht, endet man nach monatelangen Koalitionsverhandlungen bei Notregierungen, die zwar die Geschäfte führen, aber sich nicht mehr auf eine vernünftige politische Substanz einigen können.
Große politische Blöcke, die sich quasi unversöhnlich gegenüberstehen, haben 50 Jahre lang die Bundesrepublik geprägt. Das ist endgültig vorbei. „Volkspartei“ ist ein Wort, das man bald nur noch in den Geschichtsbüchern finden wird. „Große Koalitionen“, die in informeller und in formeller Form seit Beginn des Jahrhunderts in Deutschland die Regierung stellten, sind ebenfalls eine Erscheinung von gestern. Was kommt jetzt?
Wer Vielfarbenkoalitionen das Wort redet, muss sich im Klaren darüber sein, dass auf diese Weise die Zerfaserung der Parteienlandschaft fortschreitet, weil es niemanden mehr gibt, den die Bürger wirklich verantwortlich machen kann für die Erfolge und vor allem für die Misserfolge. Sind praktisch alle „bürgerlichen“ Parteien in die Regierung einbezogen, ist die „Alternative“ tatsächlich die einzige Alternative.
Ja, es gibt in einem solchen System, man kann das derzeit bei der Ampel wunderbar beobachten, nicht einmal mehr ernsthafte inhaltliche Debatten, weil ja alles schon glattgebügelt werden muss, bevor man sich damit an die Öffentlichkeit traut. Das treibt den Wähler systematisch dazu, die Partei zu wählen, die, wie die AfD, die vorhandenen Parteien (die „Altparteien“ im Slogan der AfD) für alles Elend dieser Welt verantwortlich erklärt, obwohl sie selbst inhaltlich gar nichts zu bieten hat.
Drei-Parteien-Regierungen sind nicht die Lösung
Nein, der permanente Dreiparteienkompromiss ist nicht die Lösung. Demokratie lebt von der Auseinandersetzung und der Konfrontation. Demokratien brauchen aber auch handlungsfähige Regierungen, die etwas ändern können und wollen. Das geht nur, wenn sich politische Blöcke bilden können, die sich frontal gegenüberstehen und sich gegenseitig ablösen können und wollen.
Gelingt die Blockbildung nicht mehr über die inhaltliche Antagonie („Freiheit oder Sozialismus“), muss die formale Antagonie in Form eines Mehrheitswahlrechts her, das zwar auch enorm viele Nachteile hat, aber wenigstens Regierungsfähigkeit garantiert. Ob man das dann über die Direktwahl eines extrem mächtigen Präsidenten wie die Amerikaner macht oder über ein zweistufiges System wie in Frankreich, wo am Ende auch eine Partei die nahezu absolute Macht gewinnen kann, die nur ein Viertel der Wähler für sich gewinnen konnte, macht keinen großen Unterschied.
Vielleicht gibt es noch viel bessere Lösungen, wahrscheinlich ist das jedoch nicht. In Deutschland sollte man daher bald damit beginnen, das eigene Wahlrechtssystem zu überdenken und fundamental in Frage zu stellen. Das wird schwer, weil ja immer fast jeder in Deutschland glaubt, den Stein des Weisen gefunden zu haben. Besser ist es jedenfalls, schnell mit dem Umdenken zu beginnen, weil die Unregierbarkeit auf lange Sicht enorm teuer wird und schließlich der AfD an die Macht verhilft.[1]
[1] Es ist nicht alles neu, was glänzt: Teile dieses Papiers habe ich hier im Jahre 2019 schon veröffentlicht.