Es ist mit Worten kaum zu beschreiben, was sich derzeit in Argentinien abspielt. Der Mann mit der Motorsäge hat tatsächlich haushoch die Präsidentschaftswahlen gewonnen. Javier Milei, der selbsternannte Anarchokapitalist, hat die regierenden Peronisten aus dem Amt gejagt und wird, wenn er seine „Wahlversprechen“ auch nur halbwegs umsetzt, dem Land in den nächsten vier Jahren ungeheuren Schaden zufügen (wie hier im August nach den Vorwahlen schon beschrieben).
Es ist das erneute Scheitern der Linken, obwohl jeder argentinische Bürger hätte wissen können, dass Konservative oder gar libertäre Anarchisten noch viel größeres Unheil anrichten als die Linke. Im Dezember 2015 war Mauricio Macri unter ganz ähnlichen Vorzeichen Präsident geworden. Der Konservative hatte versprochen, das Land endlich aus den Fängen der Quasi-Sozialisten vom Schlage der Peronistin Christina Kirchner zu befreien und in eine neue helle Zukunft zu führen.
Eine der ersten Taten von Macri war die Einigung mit den sogenannten Geierfonds (siehe den Beitrag hier), die niemals dem argentinischen Schuldenschnitt bei Dollaranleihen zugestimmt hatten (dazu hier ein älteres und hier ein neueres Stück). Auch einigte sich Argentinien unter Macri mit dem IWF (der viele Jahre vorher als der unmittelbare Vertreter des Teufels in Lateinamerika galt) auf ein riesiges „Hilfsprogramm“, das natürlich mit Auflagen verbunden war, die jedoch dem Wirtschaftsprogramm von Macri, das aus Austerität und monetärer „Solidität“ bestehen sollte, in die Hände spielte.
Das Ergebnis war die schlechteste wirtschaftliche Entwicklung, die man sich nur denken kann: Das Land fand keinen Weg aus einer extrem tiefen Rezession, die Inflationsrate war auf fast 50 Prozent gestiegen (mit enormen Konsequenzen für die Kaufkraft der Bevölkerung) und die kurzfristigen Zinssätze lagen bei 60 Prozent, der Wechselkurs des Peso gegenüber dem US-Dollar stürzte ab. Bei den Wahlen im Oktober 2019 wurde Mauricio Macri dann als Präsident von Alberto Fernández (dem früheren Kabinettschef von Christina Kirchner) abgelöst, was nichts anderes bedeutete, als dass die Peronisten erneut vier Jahre lang die Möglichkeit hatten, etwas Grundlegendes zu ändern.
Doch sie verspielten auch diese Chance leichtfertig. Heute liegt die Inflation bei über 140 Prozent, die Wirtschaftsmisere wurde nicht überwunden und die sozialen „Wohltaten“ der Regierung sind immer nur der Tropfen auf den heißen Stein, der letztlich selbst die Ärmsten nicht beeindruckt.
In einer ausführlichen Analyse hatte ich im Jahr 2017 (hier ist der dritte Teil zu finden) erklärt, dass mit Argentinien und Brasilien die beiden großen lateinamerikanischen Länder vor allem an einem enormen ökonomischen Theoriedefizit leiden. Es war schon damals leicht vorherzusagen, dass die konservativ-liberalen Therapien die sowohl Macri als auch sein konservativer Kollege Bolsonaro in Brasilien ausprobieren wollen, niemals funktionieren können. Doch die Misere Lateinamerikas reicht eben tiefer und ist nicht einfach durch eine Wahl zwischen links und rechts zu überwinden.
Falsche Theorien in beiden politischen Lagern
Das zentrale Problem in Lateinamerika ist, dass es fast niemals gelingt, Geldwertstabilität mit günstigen Investitionsbedingungen zu verbinden. Da man durchweg fest an die monetaristische Lehre von der Bedeutung des Geldes für die Inflation glaubt, ist das Mantra aller Zentralbanken, dass nur mit einer strikten, was heißt restriktiven Geldpolitik die Geldentwertung in Schach gehalten werden kann. Gibt es immer wieder Inflationsdruck wird bei einer solchen Konstellation die für die Investitionstätigkeit der Unternehmen entscheidende Relation von Zins und Ertragserwartungen deutlich positiv, was heißt, dass der Zins fast immer zu hoch ist.
China hat gezeigt, wie man es richtig macht. Wie die Graphik aus dem Atlas der Weltwirtschaft zeigt, liegt hier der nominale kurzfristige Zins praktisch immer sogar unter dem realen Wachstum des BIP. Das ist in China gelungen, weil die Inflation dadurch kontrolliert wurde, dass man unter tätiger Mithilfe der Regierung einen Konsens über die mit Geldwertstabilität kompatiblen Lohnzuwächse gefunden hat. Weil Inflation auf längere Sicht immer ein Lohn- und nicht ein Geldphänomen ist (wie hier gezeigt), konnte man zur gleichen Zeit eine Geldpolitik treiben, die die Investitionstätigkeit massiv förderte.
Wohlgemerkt: Hinter einem solchen Konzept stehen nicht geringere, sondern höhere Reallohnzuwächse. Gerade in Brasilien und in Argentinien, wie in den meisten Entwicklungsländern – außerhalb einer kleinen Gruppe erfolgreicher Länder in Asien – wird die Masse der Arbeitenden nicht und vor allem nicht systematisch am Produktivitätsfortschritt beteiligt. Zwar gab und gibt es viele Indexierungsmechanismen, die dafür sorgen, dass die Löhne in der einen oder anderen Weise an die Inflation gekoppelt sind, eine systematische Beteiligung am Produktivitätsfortschritt gibt es jedoch nicht.
Aber nur der jederzeit gegebene Anstieg der Reallöhne mit dem Tempo der Produktivität und niedrige Zinsen sind eine Garantie für wirtschaftlichen Erfolg. Doch im Zuge der neoliberalen Revolution wurde genau das zum Teufelszeug erklärt und auch in den nördlichen Ländern mehr und mehr abgebaut. Die Schwellen- und Entwicklungsländer (außerhalb Asiens) mussten glauben, dass das genaue Gegenteil, nämlich „Flexibilisierung“ und „Strukturreformen“ der einzige Weg ins Glück sind.
Nur mit der systematischen Anwendung einer ungeeigneten Theorie lässt sich erklären, warum ganz Lateinamerika auf einer Entwicklungsstufe verharrt, die von den asiatischen Entwicklungsländern lange verlassen wurde. In den vierzig Jahren, in denen Lateinamerika mit immer neuen Varianten einer unsinnigen Theorie kämpfte, hat China den Status eines Entwicklungslandes – trotz einer weit weniger günstigen Ausgangssituation – weitgehend verlassen. Dass Lateinamerika seit dem Ende des globalen Währungssystems von Bretton Woods nicht wirklich vorangekommen ist, ist kein Zufall. Das Zusammenspiel von neoklassisch-neoliberalen Rezepten kombiniert mit vollständiger Freiheit für Handel und Kapitalverkehr konnte niemals funktionieren.
Wenn jetzt in Argentinien ein radikaler Libertärer die Macht übernimmt, der nur auf Märkte baut, kann es nur noch viel schlimmer werden. Man darf aber niemals vergessen, dass eine solche Person nur an die Macht kommen konnte, weil die scheinbar progressiven Regierungen keine der vielen Chancen, die sie hatten, genutzt haben. Um längerfristig erfolgreich zu sein, genügt es nicht, ein paar Maßnahmen zu ergreifen, die den Ärmsten zugutekommen. Man braucht dazu eine bessere makroökonomische Theorie, auf deren Basis ein neues konsistentes Konzept für die Wirtschaftspolitik entstehen kann.