Es ist ein unerhörtes Privileg, dass zum Jahreswechsel in Deutschland der Regierungschef über die öffentlich-rechtlichen Medien die Chance bekommt, die Bürger in dem Augenblick direkt anzusprechen, wo diese besonders empfänglich dafür sind. Diese Ansprache gibt dem Bundeskanzler die Möglichkeit, das vergangene Jahr mit all seinen Verwerfungen Revue passieren zu lassen, in das neue Jahr hineinzuschauen und den Bürgern aus erster Hand eine Perspektive zu geben. Wirklich genutzt wurde dieses Privileg in den vergangenen Jahrzehnten nur selten, aber wie es in diesem Jahr verschleudert wurde, das ist neu.
Ich gestehe, es hat mich viel Überwindung gekostet, aber ich habe die Neujahrsansprache des deutschen Bundeskanzlers nachgelesen. Und ich war, obwohl ich wirklich nichts erwartet hatte, danach vollkommen sprachlos. Man ist sprachlos angesichts der totalen Sprachlosigkeit des Mannes, der vorgibt, Deutschland und vielleicht sogar Europa führen zu wollen. Ich meine, er redet zwar, aber er ist absolut unfähig, etwas zu sagen. Das einzige Highlight: Scholz will kraftvoll investieren. Dass der Staat kein Geld dazu hat und die Europäische Zentralbank mit hohen Zinsen das private Investieren gerade verhindern will, hat er leider vergessen zu erwähnen.
Dabei hätte es gerade zu Beginn dieses Jahres so viel zu sagen gegeben. Der Bundeskanzler hätte beispielsweise sagen können, dass die Erwartung der Regierung bezüglich der wirtschaftlichen Entwicklung vom Beginn des vergangenen Jahres sich für Deutschland und für Europa als viel zu optimistisch erwiesen habe. Die Bundesregierung hoffte auf eine „milde Winterrezession“, aber herausgekommen ist eine Ganzjahresrezession, die immer noch nicht zu Ende ist. Scholz aber sagt, es habe Prognosen von „Experten“ gegeben, die einen Rückgang des BIP von drei vier oder fünf Prozent vorhergesagt hätten – und daran gemessen sei man doch gut durchgekommen. Wer diese Prognosen abgegeben hat, erfährt man aber nicht, und so bleibt das, was er sagt, ohne jeden Sinn.
Offensichtlich ist der Bundeskanzler stolz darauf, dass die Preissteigerungen so schnell zurückgegangen sind, er hat aber offenbar verdrängt, dass er und seine Minister es waren, die monatelang von „Inflation“ gefaselt haben, ohne auch nur ein einziges Mal auf die Ursachen der zeitlich begrenzten Preiseffekte und die fehlgeleitete europäische Geldpolitik mit ihren horrenden negativen Folgen für die Investitionstätigkeit hinzuweisen.
Der Bundeskanzler hätte auch den Krieg in der Ukraine nicht auslassen dürfen. Er hätte konstatieren müssen, dass weder der westliche Versuch, Russland „wirtschaftlich zu ruinieren“ noch der Versuch, die Ukraine in die Lage zu versetzen, Russland militärisch zu besiegen, erfolgreich waren. Er hätte schlussfolgern müssen, dass in dieser Situation nur noch eine Verhandlungslösung dem irrsinnigen Morden ein Ende bereiten kann, auch wenn dabei Zugeständnisse an Moskau unumgänglich sind.
Auch Israel und Gaza ist ein Thema, das auf die deutsche Tagesordnung gehört. Der Bundeskanzler hätte zugeben müssen, dass seine Formel von „jedem Recht, das Israel zur Selbstverteidigung hat“ eine Leerformel war und ist, weil Israel weit über das Recht zur Selbstverteidigung hinausgeht, das Völkerrecht massiv bricht und offenbar zweieinhalb Millionen Menschen auf Dauer den Lebensraum nehmen will.
Auch Corona hätte die Erwähnung des Kanzlers noch einmal verdient. Immerhin wissen wir seit einigen Wochen höchst offiziell (von der EMA, wie hier erläutert), dass die Impfung gegen das Corona-Virus niemals dazu geeignet war, die Infektion selbst und die Übertragung des Virus auf andere Personen zu verhindern. Weil jeder vernünftige Mensch daraus schlussfolgert, dass dann die Masse der staatlichen Maßnahmen (wie die 3 G oder 2 G Regeln) und viele andere Diskriminierungen ungeimpfter Personen ohne jede inhaltliche und juristische Basis waren, wäre eine Entschuldigung durch den Regierungschef das Geringste gewesen. Die ernsthafte Diskussion einer Impfpflicht durch mich und meine Minister, hätte der Bundeskanzler hinzufügen müssen, „war angesichts der Sachlage absolut unverantwortlich und ich habe den zuständigen Minister, der immer noch vorgibt, Mediziner zu sein, entlassen“.
Das Bundesverfassungsgericht erwähnt der Bundeskanzler zwar, aber einer Diskussion über staatliche Schulden weicht er natürlich aus. Dabei hätte er sagen müssen, dass er in diesem Jahr alles dafür tun wird, dass die Menschen in Deutschland endlich über die Bedeutung von Schulden für die wirtschaftliche Entwicklung und die Rolle des Staates dabei aufgeklärt werden. Eine Schuldenbremse im Grundgesetz zu verankern, war ein unverzeihlicher Fehler, der dem Staat die Handlungsfähigkeit raubt, obwohl die Umstände so sind (wie hier erklärt), dass er in Deutschland und in ganz Europa genau diese Handlungsfähigkeit praktisch jeden Tag braucht.
Schließlich hätte der Bundeskanzler auf die deutsche Energiepolitik und auf die Ergebnisse der gerade zu Ende gegangenen Konferenz in Dubai eingehen müssen. Dubai, hätte er sagen müssen, zeigt uns mit großer Klarheit, dass mit einem weltweiten Ausstieg aus Kohle, Gas und Öl auf Jahrzehnte hinaus nicht zu rechnen ist. Zwar habe man nach langem Ringen einen Satz in der Schlusserklärung untergebracht, der auf einen Ausstieg abziele, aber von einem Abkommen, das regelt, wer, wann und auf welche Weise die Produktion der fossilen Energieträger herunterfährt und wer die Kosten trägt, sei man 2024 genau so weit entfernt wie 2015 in Paris. Wir werden, so der Kanzler, zwar weiterhin alles in unserer Macht Stehende tun, aber mit einer globalen Strategie zum Ausstieg aus der fossilen Energie ist nach dieser Konferenz einfach nicht mehr zu rechnen.
Das alles hat der deutsche Politiker, der die größte Verantwortung trägt, nicht gesagt. Seine Rede war nicht nur sprachlos, sondern auch sinnlos im wahrsten Sinne des Wortes. Wer so redet, betreibt das Geschäft der Kräfte des rechten Randes, die er eigentlich bekämpfen will. Die Europawahl im Juni und die Landtagswahlen in Ostdeutschland werden das mit schonungsloser Klarheit zeigen.