Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
(Dieser Artikel ist heute auf Telepolis erschienen)
Wie schon vor einigen Wochen erwartet, hat sich die Gemeinschaftsdiagnose der Wirtschaftsforschungsinstitute, die gerade erschienen ist, nunmehr entschlossen, der wirtschaftlichen Wirklichkeit ins Auge zu blicken und anzuerkennen, dass sich die deutsche Wirtschaft in einer tiefen Krise befindet. Das deutsche Bruttoinlandsprodukt dürfte dieses Jahr nur ungefähr 1,4 Prozent über dem von 2018 liegen. In den Jahren 2023 und 2024 ist gesamtwirtschaftlich nicht mehr als Stagnation zustande gekommen, im Verarbeitenden Gewerbe herrscht seit 2 ½ Jahren offene Rezession.
Nachdem die Institute jahrelang in Sachen Investitionstätigkeit in Deutschland optimistisch waren (wie hier gezeigt), kommen sie nunmehr zu dem Ergebnis, dass die Investitionen in Maschinen und Ausrüstungen, die den Kern der Investitionstätigkeit ausmachen, in diesem Jahr um 6,7 Prozent fallen werden. Wohlgemerkt, es handelt sich um die gleichen Institute, die noch im Frühjahr 2022 einen wahren Investitionsboom für Deutschland für das Jahr 2023 vorhergesagt hatten (nämlich ein Plus von über 13 Prozent) und auch vor einem Jahr noch überzeugt waren, dass die Ausrüstungsinvestitionen in diesem Jahr (also 2024) um 0,1 Prozent steigen, also ungefähr stagnieren würden. Die Wachstumsrate 2024 sollte laut Herbstgutachten 2023 insgesamt bei 1,3 Prozent liegen.
Nun fassen die Institute ihre Weltsicht in die schlichten Worte:
„Die Dekarbonisierung, die Digitalisierung, der demografische Wandel und wohl auch der stärkere Wettbewerb mit Unternehmen aus China haben strukturelle Anpassungsprozesse in Deutschland ausgelöst, die die Wachstumsaussichten für die deutsche Wirtschaft dämpfen.“
Da muss man staunen. All diese Faktoren waren genau so wie heute vor einem oder zwei oder drei Jahren bereits vorhanden und bekannt. Die damaligen Prognosen hätten niemals so positiv ausfallen dürfen, wenn die gleichen Faktoren heute die aktuelle Prognose begründen sollen. Und was ändert sich an diesen Faktoren bis 2026? Das muss ja eine Menge sein, denn für 2026 prognostizieren die Institute +1,3%. Wem das nicht plausibel erscheint, der sollte sich auf dieses immer wieder kehrende Muster der Prognostiker, am Ende des Prognosezeitraums eine Aufwärtsentwicklung vorherzusagen, nicht verlassen. Eine Wirtschaftspolitik, die auf dieses altbekannte Schema „Was runter geht, geht auch wieder rauf“ der neoklassisch inspirierten Ökonomen setzt, enttäuscht die Bürger Jahr für Jahr systematisch.
Die Institute und mit ihnen die herrschende Lehre der Ökonomik verheddern sich immer wieder in ihren eigenen Vorhersagen, weil sie nicht wahrhaben wollen, dass die Aneinanderreihung konjunkturpolitischer Fehler sehr wohl die langfristige Entwicklung der Volkswirtschaft und ihr sogenanntes Wachstumspotenzial negativ beeinflussen kann. Die Institute glauben deswegen auch, dass die schwache Produktivitätsentwicklung in Deutschland überwiegend vonlangfristig wirkenden Faktoren abhängt. Die Gemeinschaftsdiagnose kommt in Sachen Determinanten der Produktivität und deren Beeinflussung durch die Politik zu einem klaren Urteil:
„Lohnend ist für die Wirtschaftspolitik vor allem, Maßnahmen zur Steigerung der Produktivität zu ergreifen. Maßnahmen, die auf den Abbau von Produktionshemmnissen (Bürokratie, Regulierung), die Bildung und auf die Investitionen in Forschung und Entwicklung abzielen, haben diesbezüglich das größte Potenzial – zusammen mit einem Umfeld, indem das Verschwinden nicht mehr rentabler Unternehmen nicht als negativ, sondern als notwendiger Bestandteil schöpferischer Zerstörung à la Schumpeter betrachtet wird.“
Die Produktivitätsdynamik wird aber in erster Linie von der Investitionsdynamik bestimmt. Nicht umsonst hatten die Institute nach ihrer Investitionsboom-Prognose vom Frühjahr 2022 für das Jahr 2023 auch eine kräftige Belebung bei der Produktivität erwartet. Diese wurde allerdings, wie die Investitionsprognose, von der Realität klar widerlegt; heute steht bei der Produktivitätsentwicklung für das Jahr 2023 ein Minus von 0,6 Prozent statt einem damals erwarteten Zuwachs von 1,7 Prozent.
Die Investitionen hängen, wie die Institute bei ihrer „kurzfristigen“ Analyse selbst konstatieren, vor allem von der Kapazitätsauslastung der Betriebe ab:
„So fielen sowohl die Produktion von Investitionsgütern als auch die Umsätze ihrer Hersteller im Juli nochmals deutlich unter das Niveau des Vorquartals. Auch die Neuzulassungen von gewerblichen Fahrzeugen lagen im Juli und im August jeweils unter dem Durchschnitt des zweiten Quartals. Die historisch niedrige und weiter sinkende Kapazitätsauslastung in der Industrie lässt keine Impulse für die privaten Ausrüstungsinvestitionen erwarten.“
Wenn das richtig ist, hat die Wirtschaftspolitik keine wichtigere Aufgabe, als alles dafür zu tun, dass die Kapazitäten der Unternehmen ausgelastet sind, denn nur dann kann man mit den unternehmerischen Investitionen rechnen, die man braucht, um ein angemessenes Produktivitätswachstum aufrechtzuerhalten. Maßnahmen umzusetzen, von denen man sich eine produktivitätsfördernde Wirkung bei einer guten Kapazitätsauslastung versprechen könnte, ohne zugleich für eine ausreichende Kapazitätsauslastung zu sorgen, sind sinnlos.
Diese einfachen Überlegungen zeigen zweierlei: Erstens, es gibt keine gute lange Frist ohne gute kurze Fristen. Wer die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung vernachlässigt, kann auch langfristig nichts erreichen. Zweitens, diese Bundesregierung verschläft Jahr für Jahr in der Hoffnung auf eine Aufwärtsentwicklung, die sich irgendwie automatisch einstellen müsse, weil man die Weichen in Richtung ökologische Transformation (so die Grünen), in Richtung größerer wirtschaftlicher Freiheit (so die Liberalen) oder in Richtung einer besseren sozialen Absicherung (so die Sozialdemokraten) gestellt habe. Das aber passiert nicht, weil man die makroökonomische Dimension übersieht. Wenn die Geldpolitik restriktiv ist und die Finanzpolitik auf der Bremse steht, kann man die Weichen hundertmal stellen oder umstellen, der Zug fährt einfach nicht.
Es gibt keine Trennung von Konjunktur und Wachstum. Nur wer Jahr für Jahr gute Wirtschaftspolitik macht, die eine hohe Investitionsdynamik begünstigt, wird am Ende Produktivitätsgewinne erzielen, die für vielfältige Zwecke einsetzbar sind. Auch eine erfolgreiche ökologische Transformation gibt es nur, wenn der Zug fährt, der umgelenkt werden soll.