Die Unfähigkeit zur Solidarität

Zum Tag der deutschen Einheit 2024: Ein Text aus dem Jahr 2000

(erschienen im September 2000 in „Wirtschaft und Markt“)

Die Sonntagsreden für den großen Dienstag sind schon geschrieben. Am 3. Oktober werden wir sie aus ungezählten Politikermündern hören müssen. Mit Verve und mit Inbrunst werden sie versuchen, uns weißzumachen, was nun mal nicht weiß ist und auf absehbare Zeit auch nicht weiß sein wird. Die große Solidarität des Westens werden sie beschwören und die immense Leidensbereitschaft des Ostens. Wie viel doch erreicht wurde und wie vieles heute besser ist, wird uns der Refrain der Reden sagen. Welch‘ historische Rolle die Politik dabei gespielt hat, wird ihr Credo sein. Sie werden Bilanzen der Einheit aufstellen und per Saldo Gewinn ausweisen. Sie werden Kosten und Nutzen abwägen und Letzterem das Übergewicht geben. Sie werden im Durchschnitt der Bevölkerung Dankbarkeit im Osten und Freude im Westen feststellen und einfordern, und sie werden all jene der Vaterlandslosigkeit beschuldigen, die diese Litanei nicht mitsingen mögen. 

Doch um den Durchschnitt und um den Saldo ging es in den letzten zehn Jahren so wenig wie heute, und darum wird es auch morgen nicht gehen. Der Saldo ist nicht unser Problem. Nur wenige müssen davon überzeugt werden, dass die deutsche Einheit per Saldo ein Gewinn und ein wunderbares historisches Geschenk war. Weder der Fließbandarbeiter bei VW in Mosel, noch der Techniker bei Siemens in Dresden, nicht der Banker bei der Deutschen Bank in Ost- berlin, noch die Kellnerin im Palace Hotel in Zinnowitz werden das in Zweifel ziehen. Selbst die Arbeitslosen und die in Rente geschickten ehemaligen Funktionäre dürften in der Mehrzahl einen positiven Saldo ziehen. Nur diejenigen, denen das Schicksal der Vereinigung ein brutales Ende ihrer Lebensplanung ohne jede Chance zum Neuanfang bereitet hat, werden sich in Stunden des Zweifels die alten Verhältnisse zurückwünschen. Wie könnte das auch anders sein? Selbst eine noch viel schlechtere Politik hätte nicht vermocht, dieser einmaligen Chance der Deutschen einen negativen Saldo anzuhängen. Wenn die Politiker aufrichtig wären, ließen sie folglich das große Schwert, den alles erschlagenden Saldo, in der Scheide. Sie widmeten sich den Dingen, die im Zuge der deutschen Vereinigung fundamental schiefgegangen sind. Sie stellten sich damit den Fehlern, aus denen wir für die Zukunft lernen können und müssen, soll der Saldo nach weiteren zehn Jahren, wenn der Glanz der Einheit als solcher verblasst ist, noch immer positiv sein. 

Die deutsche Einheit ist in den vergangenen zehn Jahren zu einem Spiegel unseres gesamten gesellschaftlichen Zusammenlebens geworden, zum Lackmustest für die Fähigkeit dieser Gesellschaft, politische Probleme zu lösen. Richtiger noch: Zu einem Test für die Fähigkeit, Probleme politisch zu lösen. Ein Problem politisch zu lösen, heißt zwar, eine Entscheidung im Auftrag der Mehrheit zu treffen. Gute Politik verteilt aber die mit historischen Entscheidungen verbundenen Lasten so auf die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft, dass weder das Gesellschaftsmodell als Ganzes, noch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen durch die Minderheiten in Frage gestellt wird. 1990 hatte eine demokratisch legitimierte Regierung entschieden, einen teuren Weg in die Vereinigung zu wählen. Sie hatte ursprünglich auch entschieden, sowohl die zukünftigen Generationen wie die heutigen auf der Basis ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung der Investitionen in die Einheit Deutschlands zu beteiligen. 

Doch in den zehn gemeinsamen Jahren ist so vielen die Flucht aus jeder Verantwortung und der klammheimliche Rückzug aus der Lastenteilung gelungen, dass durch die deutsche Vereinigung das westliche Gesellschaftsmodell fundamental in Frage gestellt wird. Manche Träumer hatten 1990 noch geglaubt, es ließe sich eine Symbiose aus Ost und West herstellen, ein Kompromiss zwischen Gleichheit und wirtschaftlicher Effizienz sozusagen. Jetzt stellt sich heraus, dass das Ergebnis ein Gesellschaftsmodell sein wird, das nicht zwischen den beiden alten Modellen liegt, sondern sogar weit jenseits dessen, was einst im Westen als soziale Marktwirtschaft bezeichnet wurde. 

Nichts zeigt das klarer, als die Verteilung der Kosten der deutschen Einheit. Etwa 150 Milliarden DM kostet ein Vereinigungsprozess noch immer jährlich, der gar keine Vereinigung mehr erbringt. Trotz dieser Summe gibt es nämlich Auseinanderlaufen statt Annäherung, Desintegration statt Integration, Zurückbleiben statt Aufholen. Doch anstelle einer Diskussion über die Möglichkeiten, dem Aufholen neuen Schwung zu geben, gibt es eine kollektive Flucht aus der Verantwortung nach dem Motto: Rette sich, wer kann. Damit das nicht so auffällt, wird diese Flucht unter den Stichworten „Steuersenkung zur Verbesserung der Standortbedingungen“ und „Konsolidierung der Staatsfinanzen“ geführt. Exakt seit 1990, also unmittelbar nach der Vereinigung und nach einer der größten Steuersenkungen aller Zeiten, wird in Deutschland eine gespenstische Debatte um Steuersenkungen und eine Rückführung des Staatsanteils geführt. Zwar wird der Anteil der gesamten Staatseinahmen am Bruttoinlandsprodukt – trotz Vereinigung – in den ersten Jahren des neuen Jahrzehnts niedriger sein als in den 80er Jahren, der Forderung nach neuen Steuersenkungen und einem weiteren Zurückdrängen des Staates tut das jedoch keinen Abbruch. Für die Unternehmen ist die Belastung mit Steuern in den letzten 20 Jahren sogar in nur dramatisch zu nennender Weise zurückgegangen und wird in den nächsten Jahren noch einmal drastisch sinken. Selbst der durchschnittliche deutsche Beitrags- und Steuerzahler zahlt folglich für die Vereinigung, die ja auf der Ausgabenseite des Staates immerhin noch fast 4 % unseres Bruttoinlandsproduktes ausmacht, überhaupt nicht mehr. Im oberen Drittel gibt es vermutlich sogar eine Entlastung, die zusätzlich zur Vereinigung finanziert werden muss. 

Gleichzeitig wird konsolidiert. Wenn aber konsolidiert und die laufende Neuverschuldung des Staates so schnell heruntergefahren wird, wie das dem Finanzminister vorschwebt, werden auch zukünftige Generationen nicht mehr mit den laufenden Kosten der deutschen Einheit belastet. Wer zahlt die deutsche Einheit dann in Zukunft? Und wer finanziert die Steuersenkungen, bei denen ja nach allgemeiner Meinung das Ende der Fahnenstange auch mit der diesjährigen „Jahrhundertreform“ noch lange nicht erreicht ist? Finanziert wird das alles durch „eisernes Sparen“. Das klingt positiv. Sparen ist tugendhaft. Wer spart, leistet sich nur das Nötigste, verzichtet auf Unnützes und konzentriert sich auf das Wesentliche. Unnötig, unwesentlich, unnütz sind beispielsweise die Rentenanpassung nach dem Nettoprinzip, die vollen staatlichen Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeitslosen, staatliche Mittel für Lehre, Forschung und Schulen, aber auch die Besoldungsanpassung der Beamten und viele öffentliche Investitionen. Wer kann, rettet sich. Wer nicht kann, ist der Dumme. Der Dumme in der „modernen“ Gesellschaft ist fast immer der, der vom Staat abhängig ist und keine starke Lobbygruppe hinter sich hat, die mit viel Getöse seine „Ansprüche“ in den Medien verteidigt. Was der Bevölkerung als „Tugend des Sparens“ und als „wirtschaftliche Notwendigkeit im Zeitalter der Globalisierung“ verkauft wird, ist nichts anderes als eine Vertuschung der Unfähigkeit zur Solidarität, die diese Gesellschaft im Zuge der deutschen Einigung perfektioniert hat. 

„Chancengleichheit“ für die Zukunft heißt das neue Wunderwort der deutschen Einigung, seit vor einigen Wochen der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten der neuen Länder insgeheim eingestehen mussten, dass Aufholen kein politisches Ziel mehr ist. Die Logik haben sie dabei allerdings nicht bedacht: Wenn Worte noch Sinn machen sollen, kann es Chancengleichheit ohne Aufholen gar nicht geben! Wenn zwei um die Wette rennen, die beim Start ungleiche Chancen hatten, und der am Start schon bevorteilte ist bei der Hälfte der Strecke 50 Meter voraus, kann Chancengleichheit für die zweite Hälfte der Strecke doch wohl nur bedeuten, dass die 50 Meter Abstand irgendwie ausgeglichen werden müssen. Soll der erste nicht langsamer laufen, muss der zweite Hilfe zum Aufholen bekommen. Solange es nicht gleich viele wettbewerbsfähige Unternehmen in Ost wie West gibt, solange die Arbeitslosenquote nicht angeglichen ist, solange die Bürger in Ostdeutschland nicht ein ähnlich hohes Vermögen wie im Westen haben, solange die Länder und Kommunen in den neuen Ländern nicht auf eigenen Füßen stehen können, solange gibt es keine Chancengleichheit, mögen die Politiker die Worte verdrehen und verwenden wie sie wollen. 

Die nicht vorhandene Chancengleichheit wird in den nächsten zehn Jahren gravierende Auswirkungen vor allem für Ostdeutschland haben. Einerseits wird die Spaltung der Gesellschaft in teilhabende und nichtteilhabende Bürger noch weit größer als im Westen werden. Andererseits werden die Jungen nicht auf Dauer benachteiligte deutsche Ost-Bürger bleiben wollen und ihre Chance im Westen suchen. Der Wanderungssaldo kehrt dann allmählich zu seinem Ausgangswert zurück. Im Jahre 1991 haben per Saldo mehr als 150 000 Menschen Ostdeutschland den Rücken gekehrt. Mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Situation und der vorübergehenden Hoffnung auf wirkliches Aufholen ging die Abwanderung bis 1997 fast auf Null zurück. Doch seitdem, seit der wirtschaftlichen Erholung im Westen, dem Zurückbleiben Ostdeutschlands und der damit verbundenen Desillusionierung hinsichtlich eines wirklichen Aufholens, steigt der Saldo wieder rasch an. Nimmt er Jahr für Jahr nur um 10 000 zu, wird 2010 die Marke von 1991 wieder erreicht sein. 

Abwandern werden die Chancenreichen, die gut ausgebildeten, die, die sich überall zurechtfinden. Zurück bleiben die anderen. Die Chancenlosen, die schlecht Ausgebildeten, die, die sich nur in ihrem engsten Umkreis zurechtfinden. Ostdeutschland wird dann das Eldorado der Chancenlosen sein, verstrickt in ein Netz von provinzieller Enge und diebischer Schadenfreude darüber, dass die „Geldsäcke aus dem Westen die Stütze“ zahlen müssen. Inseln der Prosperität wird es geben, aber man wird sie abschotten müssen gegenüber den Regionen, in denen der Frust über die eigene Perspektivlosigkeit umschlägt in Hass auf alle, die den Sprung in die globale Vermögens – und Kommunikationsgesellschaft geschafft haben. Der natürliche politische Gegenpol zur entnationalisierten und durchglobalisierten Gesellschaft der Erfolgreichen ist die nationale, allem Fremden feindlich gegenüberstehende Gesellschaft der Underdogs. Verbindet einer „national“ und „sozial“ auf eine attraktive Weise, trifft er in Ostdeutschland auf den besten Nährboden, den man sich denken kann. 

Noch ist es nicht ganz so weit, doch die Zeichen sind unübersehbar. Noch ist es nicht zu spät, der scheinbar unaufhaltsamen Entwicklung eine neue Wende zu geben. Es genügt aber nicht, durchs Land zu reisen, die Zeichen zu beklagen, die Wurzeln des Übels aber zu ignorieren. Die vergessenen Kinder der unsolidarischen Gesellschaft werden auf ihre Art auf sich aufmerksam machen. Wer nicht von allen, also auch von den Erfolgreichen Solidarität fordert, kann von denen keine Toleranz erwarten, die von vornherein keine Chance hatten und denen man selbst im zweiten Anlauf keine gibt.