Als die Europäische Währungsunion (EWU) vor mehr als 20 Jahren gegründet wurde, gab es die verbreitete Hoffnung, dass ein großer, durch eine einheitliche Währung und eine einheitliche Geldpolitik aufgewerteter europäischer Binnenmarkt einen erheblichen Beitrag dazu leisten würde, die Arbeitslosigkeit in Europa dauerhaft zu senken. Es ist anders gekommen. Hohe Arbeitslosigkeit hat sich spätestens seit der globalen Finanzkrise von 2008/2009 in Europa festgesetzt und es scheint nahezu unmöglich, ihr zu entkommen.
Schon der einfache Vergleich der EWU mit den USA in Abbildung 1 zeigt, dass die Währungsunion nach 2009 weit weniger erfolgreich bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit war als die USA. Obwohl beide Regionen nach der Krise von 2008/2009 vom gleichen Niveau aus gestartet waren, erreichten die USA bis kurz vor der Coronakrise im Februar 2020 mit 3,5 Prozent eine Quote, die man nahezu als Vollbeschäftigung bezeichnen kann. Die Eurozone verzeichnete damals mit 7,4 Prozent einen mehr als doppelt so hohen Wert.
Noch schlechter steht Europa heute da, wenn man aus der Berechnung das Land herausnimmt, das auf seine Beschäftigungserfolge so ungeheuer stolz ist, nämlich Deutschland. Abbildung 2 zeigt, dass die Eurozone ohne Deutschland mit zuletzt 9,8 Prozent (2. Quartal 2021) auf einem Arbeitslosigkeitsniveau verharrt, auf das sie im zweiten Quartal 2009, also unmittelbar nach der Finanzkrise, gelangt war.
Was aus der Abbildung nicht hervorgeht, ist allerdings die tatsächliche Unterbeschäftigung. Zu ihr zählt nicht nur die „offene“ Arbeitslosigkeit, sondern u.a. auch die Kurzarbeit. Dieses arbeitsmarktpolitische Instrument wurde in der Coronakrise in Europa und namentlich in Deutschland – im Gegensatz zu den USA – massiv eingesetzt. Berücksichtigt man diesen Teil verdeckter Arbeitslosigkeit, liegt die deutsche Quote aktuell bei weit über 8 Prozent.
Auch in den anderen Ländern der Währungsunion wären höhere Werte zu verzeichnen. Mit anderen Worten: Europa schnitte im Vergleich zu den USA noch wesentlich schlechter ab. Anders als die USA hat es Europa, lässt man Deutschland aus der Durchschnittsbetrachtung heraus, nie geschafft, die Arbeitslosigkeit nach der Finanzkrise merklich zu drücken. Wie die Abbildung 3 zeigt, war nur Deutschland dank seiner merkantilistischen Strategie, die bis heute im gesamtwirtschaftlichen Lohnstückkostenniveau fortwirkt, in der Lage, auf Kosten seiner Währungspartner einen Niedriglohnsektor aufzubauen, der die Arbeitsmarktstatistik in ein günstiges Licht rückt und die zwangsläufig parallel dazu schleppende Binnennachfrage durch ausländische Überschussnachfrage abfedert. Insbesondere Italien liegt immer noch deutlich über dem Niveau, das es vor der Finanzkrise erreicht hatten, aber auch Frankreich hat die Arbeitslosigkeit nur wenig gesenkt.
Dieser eindeutige Befund für Europa spielt erstaunlicherweise im deutschen Wahlkampf keine Rolle. Es gibt keine Oppositionspartei, die der Regierung vorwirft, hier fundamental versagt zu haben. Man ignoriert einfach den naheliegenden Zusammenhang, dass es ohne Deutschlands besondere Rolle und ohne das Versagen der deutschen Wirtschaftspolitik diesen Befund nicht gäbe. Die politische Rechte macht Europa als solches für das Versagen verantwortlich. Und von Mitte bis links hat man ohnehin kein wirtschaftspolitisches Konzept zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und wird im medialen Wahlkampftheater natürlich auch nicht gefordert, ein solches vorzulegen. Die Tatsache, dass ein Land, das sich einer Währungsunion angeschlossen hat, die einen Binnenmarkt verwirklichen will, auf Dauer ohne die Partner in diesem Verbund nicht erfolgreich sein kann, wird nicht thematisiert. Stattdessen werden die Folgen des deutschen Niedriglohnsektors in Form von Kinder- und Altersarmut völlig separat diskutiert und sich über die Rolle der deutschen Sozialversicherungen bzw. des deutschen Staates als „Retter“ der Armen und „Klotz“ am Bein der „Leistungsträger“ gestritten.
Die hohe Arbeitslosigkeit in Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien und die Perspektivlosigkeit besonders der jungen Arbeitskräfte dort wird nicht als Kehrseite der deutschen Wirtschaftspolitik wahrgenommen. Dadurch kommt es auch nicht zu einer vorausschauenden Politik in Bezug auf die ökonomischen und politischen Folgen für Deutschland. Noch nicht einmal der von allen demokratischen Parteien inzwischen laufend beschworene Klimaschutz scheint den Horizont deutscher Politiker zu erweitern. Denn wenn bereits in Deutschland die Lösung der sozialen Frage als Voraussetzung für erfolgreichen Klimaschutz betrachtet wird, wie viel mehr muss das dann für Länder gelten, die mit dem doppelten Niveau an Arbeitslosigkeit und mehr kämpfen?
Der zentrale Zusammenhang …
Will man die Zusammenhänge verstehen, muss man sich wieder an dem empirischen Befund orientieren, der schon in meinem Stück zur Inflation in der vergangenen Woche die entscheidende Rolle gespielt hat. Der Zusammenhang von Lohnstückkosten und Inflation ist auch für Arbeit und Arbeitslosigkeit zentral, weil er zeigt, dass es die Signale, die von der herrschenden Lehre einer allgemeinen Lohnsenkung zugeschrieben werden, für die Unternehmen nicht gibt. Betrachten wir zunächst eine geschlossene Volkswirtschaft, also die Welt.
Ein Rückgang der Nominallöhne auf breiter Front kann entweder unmittelbar einen Nachfragerückgang auslösen, wenn nämlich die Preise nicht im gleichen Ausmaß wie die Löhne sinken. Dann sinken die Reallöhne bei zunächst unveränderter Beschäftigung und die privaten Haushalte werden darauf mit einem Rückgang der Ausgaben für Konsumgüter reagieren. Das vermindert die Kapazitätsauslastung der Betriebe und die Gewinne der Unternehmen, die daraufhin, trotz gesunkener Löhne, die Arbeitskräfte entlassen, die bei gesunkenem Produktionsniveau nicht gebraucht werden.
Mittel- und längerfristig, das zeigt der enge Zusammenhang von Lohnstückkosten und Inflation, müssen die Unternehmen damit rechnen, dass sie die Preise senken müssen, so dass der vermeintliche Vorteil der Lohnkostensenkung fast vollständig wieder verschwindet. Beides, die sinkende Nachfrage in der kurzen Frist und die Aussicht auf sinkende Preise in der längeren Frist, löst die von der herrschenden neoklassischen Lehre erwarteten Reaktionen eines Umbaus der Produktion in Richtung höherer Arbeitsintensität auf keinen Fall aus. Damit ist Lohnsenkung oder Lohnzurückhaltung auf der Ebene der gesamten Welt eindeutig kontraproduktiv bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.
… und seine „Überwindung“ auf der Ebene des Nationalstaates
Jeder Unternehmer, der versucht, solche Überlegungen nachzuvollziehen, wird sofort einwenden, dass auf seiner Ebene, der Ebene des Betriebes, es doch gut ist, wenn die Löhne sinken, weil er dann billiger anbieten kann, was ihm größere Marktanteile und steigende Gewinne beschert. Für alle Unternehmen eines Landes gilt das Gleiche: Wenn Löhne und Preise auf nationaler Ebene sinken, ist das von Vorteil für alle Unternehmen des Landes, wenn im Ausland nicht genau das Gleiche geschieht. Das bedeutet eine reale Abwertung oder eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit auf der Ebene der Nation. Diese Politik, die auf Arbeitsplatzgewinne durch Lohnverzicht und auf den Aufbau außenwirtschaftlicher Überschüsse zielt, nennt man Merkantilismus.
Offensichtlich ist aber auch, dass der Versuch aller Länder der Welt, durch Lohnsenkung ihre Situation zu verbessern, scheitern muss. Entweder gleicht die Änderung der Währungsrelationen (also eine Aufwertung der heimischen Währung) den Wettbewerbsvorteil aus, oder die anderen Länder werden mit steigenden Zöllen für das Lohnsenkungsland reagieren oder sie werden früher oder später das Gleiche tun, nämlich Druck auf die heimischen Löhne ausüben, was nur zu einer globalen Deflation führen, aber keine Verbesserung in Sachen Arbeitslosigkeit bringen kann.
Nur wenn das real abwertende Land eine Nische in dem Sinne findet, dass den Handelspartnern die Hände gebunden sind, was die Abwertung der eigenen Währung und die Einführung von Zöllen angeht, kann es hoffen, aus seinem Alleingang auch über eine längere Zeit Nutzen zu ziehen. Doch auch dann wird es auf lange Sicht darunter leiden, dass die Handelspartner die gleiche deflationäre Lohnpolitik betreiben wie es selbst, weil damit das oben beschriebene Szenario der „Welt“ droht, wo der Lohndruck zu nichts führt als zu mehr Arbeitslosigkeit.
Exakt diese Nische hat Deutschland gefunden, als es Anfang der 2000er Jahre unter Rot-Grün politischen Druck auf die Löhne ausübte und es ihm im Gefolge gelang, im Rahmen der EWU real abzuwerten, seinen Exportanteil am BIP dramatisch zu erhöhen und einen gewaltigen Leistungsbilanzüberschuss aufzubauen. Gleichzeitig hat Deutschland ein wirtschaftspolitisches Regime in der EWU durchgesetzt – und das ist die große europäische Paradoxie –, das darauf hinausläuft, dass man bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit nur erfolgreich sein kann, wenn man Leistungsbilanzüberschüsse erzielt. Doch genau den Weg hat Deutschland mit seiner frühen Entscheidung, in diese merkantilistische Richtung zu gehen, für alle anderen versperrt.
Neoliberalismus ist keine europäische Erfindung, sondern eine deutsche
Dass diese Fragen in einem deutschen Bundestagswahlkampf nicht einmal angesprochen werden, zeigt, wie weit sich Deutschland über fast das gesamte politische Spektrum hinweg in einer unhaltbaren Position verrannt hat. Die dominierenden Parteien in Deutschland haben niemals wahrhaben wollen, was unbestreitbar ist: Der europäische Raum, der – wie die USA – eine weitgehend geschlossene Volkswirtschaft darstellt, braucht eine vollkommen andere Politik als eine kleine offene Volkswirtschaft. Würde Deutschland diese Erkenntnis und ihre wirtschaftspolitischen Folgen in der EWU offensiv vertreten, wäre die gesamte Europäische Union innerhalb weniger Wochen auf einem völlig anderen Kurs. Viele Länder warten seit Jahren (vergeblich) darauf, dass sich ein solches Denken in Deutschland endlich durchsetzt.
All diejenigen von links und von rechts, die der EU, der EWU und der Europäischen Kommission Neoliberalismus vorwerfen, adressieren die falsche Institution. Der europäische Neoliberalismus hat nicht nur deutsche Wurzeln, sondern ist in seinem Kern deutsch, weil ihn eine deutsche Regierung, die das wollte, sofort eliminieren könnte. Die europäischen Institutionen wurden in den 1980er Jahren, als Reagan, Thatcher und Kohl die geistig-moralische Wende proklamierten, von deutschen Politikern und Diplomaten hinter den Kulissen auf eine politisch nur brutal zu nennende Art und Weise zum Neoliberalismus „bekehrt“.
Das wird von all denen bewusst ignoriert, die sich – aus welchen Gründen auch immer – Europa zum obersten Gegner erkoren haben. Ihnen bietet der unbestreitbare europäische Neoliberalismus eine willkommene Angriffsfläche. Er wird mit allerlei fadenscheinigen Begründungen zum natürlichen Beiwerk einer internationalen Organisation deklariert, ohne begreifen zu wollen, dass diese Organisationen immer nur getreue Abbilder ihrer mächtigsten Mitglieder sind. Der europäische Neoliberalismus könnte schon übernächste Woche beendet werden, gäbe es ab dem 26. September eine deutsche Regierungskoalition, die sich das genau zum Ziel setzte. Europhobie, die sich an Brüsseler oder Frankfurter Institutionen festbeißt, ohne die wirklichen Quellen des Neoliberalismus zu benennen, ist lächerlich und dumm.
Die theoretische Quelle der Verwirrung sitzt tief
Mehr als erstaunlich ist es, wie schwer sich selbst linke oder gewerkschaftsnahe Ökonomen bei der Kritik des Mainstreams in Sachen Arbeitslosigkeit tun. Noch immer lässt man sich von der Vorstellung blenden, es könne so etwas wie einen Arbeitsmarkt geben, auf dem Angebots- und Nachfragereaktionen zu erwarten sind, die denen auf einfachen Gütermärkten ähneln. Die Kartoffelmarkt-Analogie ist oft kritisiert worden, aber dennoch lassen sich die Gewerkschaftsmitglieder und die sie beratenden Ökonomen immer wieder auf die betriebswirtschaftliche Sichtweise ein, anstatt sie offensiv und radikal zu kritisieren.
Das Lohnniveau muss bei rationaler Wirtschaftspolitik ein gesamtwirtschaftliches Ziel sein und das müssen die Spitzen der Gewerkschaften in der Öffentlichkeit auch so vertreten, wenn sie ernst genommen werden wollen. Jedes Zugeständnis im Sinne des Arguments, es gehe den Betrieben schlecht und deswegen müssten auch die Arbeitnehmer den Gürtel enger schnallen, ist fehl am Platz. Wenn sie den Gürtel enger schnallen, wie sie das im vergangenen und in diesem Jahr wegen des Coronaschocks wieder tun, verschlechtern sie die Lage insgesamt für die Arbeitnehmer und die Unternehmen zugleich.
Es ist nicht zu verstehen, dass die Gewerkschaftsfunktionäre und linke Ökonomen immer an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, den Staat vor prozyklischer Politik (einer Politik, die die Lage verschärft, statt sie zu verbessern) zu warnen. Die privaten Haushalte reagieren aber mit großer Selbstverständlichkeit in prozyklischer Art und Weise, wenn ihre Einnahmen fallen. Sinken ihre Einnahmen, reagieren sie mit der Reduktion ihrer Ausgaben. Beim Staat kritisieren fast alle eine solche Reaktion als prozyklisch. Bei der Lohnpolitik ist die Logik allerdings genau die gleiche. Da man nicht erwarten kann, dass die Arbeitnehmer ihre Sparquote senken, wenn die Einkommen sinken, ist jede Lohnkürzung oder Lohnzurückhaltung unmittelbar für die Beschäftigung genauso schädlich wie eine Sparaktion des Staates in der Folge gesunkener Einnahmen. Bei den Arbeitsbeziehungen regiert die gesamtwirtschaftliche Einnahme-Ausgabelogik und nicht die einzelwirtschaftliche Marktlogik.