Frankreich auf dem Schuldenberg – Der böse Nachbar jubiliert

Jetzt geht es wieder los, das Frankreich-Bashing. Keine Regierung, ein schwer angeschlagener Präsident und ein gewaltiger Schuldenberg. Da sind in Deutschland die nationalistischen Pferde vom Zügel und trampeln mit Gewalt nieder, was noch niederzutrampeln ist. Kein deutscher Medienkommentar aus Paris, der nicht den riesigen Schuldenberg als Menetekel einer gescheiterten Politik hinstellt. Kein „Wirtschaftsexperte“, der nicht darauf hinweist, dass Frankreichs Zinsen jetzt so hoch sind wie die von Griechenland. Die Hetze reicht hin bis hin zu der wirklich infamen Aussage, die Franzosen würden jetzt dafür sorgen, dass die Deutschen ihre Schulden bezahlen. 

Machen wir uns nichts vor: In der Geschichte gibt es keine Gerechtigkeit. Es gibt aber Fehlverhalten, das auch nach vielen Jahren demjenigen, der die Fehlentwicklungen zu verantworten hat, noch Alpträume beschert. So ist es mit dem Sieg der deutschen Wirtschaft über die französische zu Beginn der Europäischen Währungsunion. Gerade weil die Deutschen insgeheim wissen, dass Deutschland eine erhebliche Mitschuld an der französischen Misere trägt, fällt die öffentliche Reaktion so heftig und so missgünstig aus. Wer die eigene Trommel laut genug schlägt, übertönt jeden Zwischenton, jede Relativierung und natürlich jede Kritik.

Ich habe schon in der vergangenen Woche gezeigt, dass man der fehlender Diagnose der „Experten“ ohne weiteres ablesen kann, ob sie ernst zu nehmen sind oder nicht. Da es in Deutschland (und in der Europäischen Kommission) praktisch niemanden gibt, der bereit und in der Lage wäre, die deutschen Exportüberschüsse auf angemessene Art und Weise mit ins Bild zu nehmen, sieht sich Frankreich einer geschlossenen Front gegenüber, die es offenbar nicht für überwindbar hält. Doch das Land wird lernen müssen, dass es die vermeintliche Alternative, nämlich sich mit dem deutschen Überschuss zu arrangieren, nicht gibt. Die europäischen Schuldenregeln für die Staatsfinanzen und der deutsche Überschuss im Handel sind (wie hier gezeigt) eine toxische Mischung, die dem europäischen Projekt langsam aber sicher den Garaus macht.

Im Januar 2017 habe ich bei Makroskop einen offenen Brief an Frank Steinmeier gerichtet, der kurz vor seiner ersten Wahl zum Bundespräsidenten stand. Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen.

Über Wahrheit, Lüge und dröhnendes Schweigen

Statt einer Gratulation: Ein offener Brief an den zukünftigen Bundespräsidenten, der vor dem Gift der Lüge warnt und davon spricht, dass die europäische Zusammenarbeit kein Nullsummenspiel ist.

Sehr geehrter Herr Steinmeier,

Einige Tage vor Ihrer Wahl zum Bundespräsidenten möchte ich die Gelegenheit nutzen,  einen Moment über Ihre Rolle in der bundesdeutschen Politik der vergangenen fünfzehn Jahre zu sprechen und zu fragen, auf welche Weise der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Zeichen gegen den aufkommenden Nationalismus in Europa setzen kann.

Sie sagten Sie am 27. Januar in einem Interview mit der SZ

„Aufgabe der Politik ist es zu erklären, dass die Antworten nicht leichter werden können, wenn die Probleme immer komplexer werden. Das setzt Vertrauen in die demokratischen Institutionen voraus. Diese Institutionen können wir nur stark halten, wenn wir uns nicht in eine Fantasiewelt begeben, in der die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Lüge schleichend aufgehoben wird. Die Demokratie ist das Fundament, auf dem wir unsere Kontroversen austragen. Wir sollten über Wege und Lösungen streiten – aber mit Respekt voreinander, und ohne das Gift der Lüge, der Diffamierung und der Delegitimierung. Wir sollten dabei nicht verzagen: Wann und wo hat der Populismus tatsächlich erfolgreich regiert und Ergebnisse vorzeigen können?“

Streit ohne das Gift der Lüge, wer würde da nicht zustimmen. Leider haben Sie nichts dazu gesagt, wie man die Lüge von der Wahrheit unterscheidet und wie man damit umgeht, wenn die Wahrheit einfach verschwiegen wird. Auch die sich aufdrängende Frage, nämlich ob all diejenigen, die nicht lügen, damit automatisch ehrlich sind, oder ob diejenigen, die unehrlich sind, immer gleich lügen, beantworten Sie leider nicht. 

Sie sagten in diesem Interview auch:

„Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass sich Europa als Friedens-, Freiheits- und Wohlstandsprojekt nicht überlebt hat. Europa ist unsere Zukunft, und Europa hat eine Zukunft. Nirgendwo lässt sich besser zeigen, dass Partnerschaft und Zusammenarbeit keine Nullsummenspiele sind, sondern allen Vorteile bringen. Auf und aus den Trümmern eines Europa fast vernichtenden Krieges ist ein Raum wundervoller Vielfalt, ungekannter Toleranz und des friedlichen Miteinanders entstanden, auf den wir stolz sein können, der der Welt ein Beispiel gibt.“

Lässt sich wirklich zeigen, dass die europäische Zusammenarbeit kein Nullsummenspiel ist? Nehmen wir als Beispiel ein einfaches politisches Problem, das überragende Bedeutung für die Zukunft Europas hat: Die Eurokrise. Es gibt viele Variationen der Erklärung dieser Krise, die ich nicht alle aufzählen will. Aber eine dieser Varianten zeigt, dass es mit dem Beginn der Europäischen Währungsunion sehr wohl ein bedeutendes Nullsummenspiel gab, ein Spiel, das Deutschland gewonnen hat. 

In dieser Variante verbesserte Deutschland unmittelbar mit Beginn der Europäischen Währungsunion seine Wettbewerbsfähigkeit, indem die Politik (Rot-Grün und mit Ihrer tatkräftigen Mitwirkung) massiven Druck auf die Gewerkschaften ausübt. Die Lohnsteigerungen gehen deutlich zurück. Deutschland verstößt damit gegen das von allen Ländern vereinbarte Inflationsziel von knapp zwei Prozent, obwohl es das deutsche Ziel war, das alle Mitgliedsländer bereitwillig übernommen haben. Deutschland wertet in der Folge real ab, weil die Nachbarn diese deutsche Unterbewertungsstrategie nicht erwarten und nicht verstehen. Auch die für die Überwachung der Währungsunion geschaffenen Institutionen versagen. 

Deutschland gelingt es mit Hilfe dieses Wettbewerbsvorsprungs, seine Exporte massiv zu erhöhen, einen gewaltigen Leistungsbilanzüberschuss zu erzielen und auf diesem Wege über die Jahre seine Arbeitslosigkeit deutlich zu reduzieren. Frankreich, das Land, das sich weit besser an das von der EZB vorgegebene Inflationsziel angepasst hat, hat mit dauernd steigender Arbeitslosigkeit zu kämpfen hat. Sie kennen diese Analyse, denn Sie waren dabei, als ich vor einigen Jahren die Gelegenheit hatte, sie dem damaligen Parteivorsitzenden Gabriel vorzutragen.

Es geht um diese Erklärung der Eurokrise, aber es geht überhaupt nicht darum, ob meine Interpretation der Zusammenhänge richtig oder falsch ist. Es geht nur darum, ob die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge nicht schleichend aufgehoben wird, wenn die Politik in Deutschland sich weigert, diese eine Erklärung der Krise überhaupt zu diskutierten? Die  Frage ist, ob derjenige, der diese Analyse bewusst verschweigt, Lügner genannt werden sollte oder ob er bloß unehrlich ist. Darüber wird nämlich inzwischen in ganz Europa geredet. In den angelsächsischen Ländern gehört sie zum Standardverständnis der europäischen Krise, in Italien und Frankreich wissen immer mehr Menschen davon und sie erzeugt Wut oder gar Hass auf Deutschland. Die Europäische Kommission hat diese Erklärung inzwischen weitgehend akzeptiert und sie schlägt sich nieder in wachsender Kritik an den riesigen deutschen Überschüssen in der Leistungsbilanz.

In Deutschland aber wird dazu geschwiegen. Die Politik tut einfach so, als gebe es diese Erklärung nicht, die Medien erwähnen sie nur einmal kurz am Rande, wenn sie im Ausland hochkocht, um sie aber sofort für abwegig zu erklären. Doch das Schweigen dröhnt extrem laut, wenn man den Vorhang des kollektiven Leugnens kurz wegzieht. 

Ein klassisches Beispiel hat dazu der scheidende Bundeswirtschaftsminister vergangene Woche geboten. Er hatte 25 Minuten Zeit, um im Bundestag den Jahreswirtschaftsbericht 2017 vorzustellen. Er lobte ausführlich die deutsche Leistung der letzten Legislaturperioden, die gute wirtschaftliche Lage in Deutschland war ihm viele Worte wert, die niedrige Arbeitslosigkeit, die hohe Beschäftigung. Die Lage der anderen Europäer wurde kaum einmal gestreift, der deutsche Leistungsbilanzüberschuss tauchte überhaupt nur in einem Satz auf, in dem es hieß, der Überschuss werde 2017 sinken, was die Europäische Kommission freuen dürfte (ein Hinweis darauf, dass die Kommission womöglich ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen der Überschüsse einleitet).

Der Hinweis auf die Kommission ist interessant, weil er zeigt, dass der Bundeswirtschaftsminister genau wusste, wie kritisch die deutschen Überschüsse inzwischen in Europa gesehen werden. Wenn er das aber genau weiß, warum redet er nicht darüber, sondern tut sogar so, als könne und müsse man die Kommission ignorieren und dann zur Tagesordnung übergehen? Ist das nicht der Punkt, an dem die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge aufgehoben wird? Wenn ich genau weiß, dass mein Verhalten bei meinen Nachbarn auf scharfe Kritik stößt, und ich mich dennoch weigere, auch nur darüber zu reden, ist das Lüge oder Unehrlichkeit? Wenn ich gegen die gemeinsam gesetzten Regeln verstoße, die anderen aber andauernd auffordere, sich an die Regeln zu halten, was ist das: Chuzpe oder Unverschämtheit?

Wenn ich mächtig bin und mich weigere, über mein eigenes fragwürdiges Verhalten zu reden, was ist das dann? Bloßer Machtmissbrauch oder schon Erpressung der weniger Mächtigen durch den Mächtigen? Wenn ich zudem in der Öffentlichkeit dieses Problem leugne, um die Bürger nicht zu verwirren, was ist das dann: Irreführung der Öffentlichkeit, Unehrlichkeit oder Lüge? Wenn ich eine nationalistischen Partei, die behauptet, die anderen Europäer seien Schuld an der Eurokrise und wir müssten für die Fehler der Nachbarn zahlen, nicht argumentativ stelle, indem ich auch deutsche Schuld einräume, was ist das dann: Feigheit, Dummheit oder Selbstbetrug?

Als Bundespräsident, sehr geehrter Frank-Walter Steinmeier, wollen Sie sicher der deutschen Jugend ein Vorbild geben und sie ermuntern, auch vor kritischen Fragen nicht zurückzuschrecken. Werden Sie die SPD auffordern, ihre europäische Verantwortung aufzuarbeiten und sich einer offenen Diskussion mit der deutschen Jugend über diese Frage zu stellen und das auch, um damit den rechten Parteien den nationalistischen Wind der Überheblichkeit aus den Segeln zu nehmen? 

Als die Agenda 2010 10 Jahre alt wurde, haben Sie mit den anderen, die dafür verantwortlich waren, eine Party gefeiert und betont, wir gut es Deutschland doch wegen der Agenda-Politik geht. Sie haben damals vergessen zu sagen, dass es anderen wegen der Agenda-Politik schlecht geht. Dass beispielsweise Frankreich und Italien seit Beginn der Währungsunion per Saldo im Außenhandel verloren, Deutschland aber gewonnen hat, kann man nicht ernsthaft bestreiten, wenn man die Logik nicht außer Kraft setzt. Da war die „Partnerschaft“ eindeutig ein Nullsummenspiel. Sie aber schweigen dazu, obwohl genau deswegen die Zukunft Europas in Frage steht. 

Als Außenminister haben sie selbst dann geschwiegen, als Ihr Kollege Schäuble Griechenland zu einer unsinnigen und, wie spätestens heute jeder wissen sollte, in ihren Folgen verheerenden Politik zwang. Werden Sie als Bundespräsident, jenseits der parteipolitischen Zwänge, ein Zeichen der Versöhnung setzen und sich beim französischen, beim italienischen und beim griechischen Volk dafür entschuldigen? 

Sie sehen, sehr geehrter Herr Steinmeier, es ist eine komplizierte Sache mit der Lüge und mit der Wahrheit. Nichts ist einfach schwarz oder weiß, entscheidend sind immer die Grautöne. Einen Bundespräsidenten, der nur predigt, hatten wir gerade. Sie kommen mitten aus der Politik der vergangenen zwanzig Jahre, Sie haben große Verantwortung getragen. Sie können bewegen, was andere in dem Amt nicht bewegen konnten. Man wird Ihnen glauben, wenn Sie zugeben, dass Sie Anfang der 2000er Jahre nicht bedacht haben, welch verheerende Wirkung die allein für Deutschland ausgedachte Politik für Europa hatte. Sie könnten, indem sie ein Zeichen der Einsicht setzten, mit einem Schlag einem strauchelnden Europa neuen Halt geben und den rechten Feinden Europas im In- und Ausland ihr wichtigstes Argument nehmen. 

Ich wünsche Ihnen in Ihrem neuen Amt viel Erfolg und verbleibe mit den besten Grüßen

Heiner Flassbeck