Heiner Flassbeck und Patrick Kaczmarczyk
(Dieser Artikel ist gestern in der Berliner Zeitung erschienen)
Es ist in den libertären Kreisen, in denen Christian Lindner regelmäßig verkehrt, chic geworden, auf die „Erfolge“ des vor einem Jahr gewählten argentinischen Präsidenten zu verweisen und damit den Eindruck zu erwecken, auch hierzulande könnte eine Schocktherapie angemessen sein. Der argentinische Präsident Javier Milei wird in den liberalen Himmel gehoben, bevor man überhaupt einen gut begründeten empirischen Beleg dafür vorlegen kann, dass seine Radikalkur positive Wirkungen zeigt. Selbst der nicht minder libertäre Elon Musk wird immer wieder als Bruder im Geiste von Milei herangezogen, wohl um zu zeigen, wieviel Geld man verdienen kann, wenn man die richtige Gesinnung hat.
Allerdings sind nicht nur FDP-Politiker oder libertäre Fanatiker von der Wirtschaftspolitik des argentinischen Präsidenten fasziniert. Auch im konservativ-bürgerlichen Mainstream und seinen Medien, wie beispielsweise im FOCUS oder in der WELT, ist man voll auf Linie von Lindners These, nun gelte es, „mehr Milei zu wagen“. Offensichtlich geht es in der medialen Berichterstattung nicht darum, nüchtern die Lage und Entwicklungsperspektive einzuordnen, sondern die eigenen ideologischen Positionen zu untermauern.
Getreu dem Motto „Was nicht sein darf, kann nicht sein“, wird in der Medienkampagne immer wieder auf einzelne fragwürdige Indikatoren verwiesen und übergeordnete Zusammenhänge werden völlig ignoriert. Wieder einmal geht es nicht um ernsthafte Berichterstattung, sondern um Stimmungsmache. Schaut man ohne rosa gefärbte libertäre Brille auf Argentinien, gibt es nichts, was als Vorbild für Deutschland taugen könnte. Die vermeintlichen Erfolge des Mannes mit der Kettensäge sind nämlich gar keine.
Argument 1: Die Inflation ist gesunken
Man führt zunächst an, die Inflation sei gesunken. Das stimmt. Allerdings ist sie nach dem Amtsantritt Mileis in die Höhe geschnellt – ganz im Gegensatz zur Entwicklung der Inflation im Rest der Welt. Milei kürzte in Argentinien viele Zuschüsse der öffentlichen Hand, die preisdämpfende Effekte hatten. Im Dezember 2023, dem Monat, in dem Milei als Präsident seine Arbeit aufnahm, stieg die Inflationsrate von 161 Prozent auf 210 Prozent, im Januar auf 250 Prozent, im Februar auf 277 Prozent und sie erreichte ihren Höhepunkt im April mit 292 Prozent (jeweils gegenüber dem Vorjahr).
Seither ist die Rate zwar kontinuierlich gefallen, aber mit 193 Prozent im Oktober war sie immer noch enorm hoch. Im Verlauf (also von Monat zu Monat gerechnet) ist die Inflationsrate ebenfalls gefallen. Im Oktober 2024 stiegen die Preise im Vergleich zum Vormonat um lediglich 2,7 Prozent, wobei unklar ist, ob dabei reine Saisoneffekte berücksichtig worden sind. Es spricht gleichwohl vieles dafür, dass das Inflationstempo deutlich abnimmt, weil nach einem so gewaltigen negativen Produktionsschock, wie ihn Milei ausgelöst hat, kurzfristig die Preisdynamik durchbrochen wird und auch im Rest der Welt die Inflationsraten deutlich gesunken sind. Die relevante Frage ist aber, wie Argentinien von 40 bis 50 Prozent, die für das kommende Jahr erwartet werden, herunterkommen will.
Bislang hat die Geldpolitik unter Milei nichts unternommen, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Es gibt keine Aktion der Zentralbank, auf die man verweisen könnte. Die entscheidende Größe, die Zentralbankzinsen, sind auch während der Phase sinkender Inflationsraten gesunken. Folglich spricht alles dafür, dass auch in Argentinien die Inflationsdynamik von dem weltweit nachlassenden Preisdruck profitiert hat. Die argentinische Politik hat mit den „Erfolgen bei der Inflationsbekämpfung“ nur insoweit zu tun, als sie erst die Preise nach oben trieb und dann wegen des massiven Einbruchs der Wirtschaft auch die Preisentwicklung schockartig verlangsamte.
Argument 2: Milei hat das Defizit des Staates in einen Überschuss verwandelt
Das zweite Argument, das gerne als Erfolg Mileis angeführt wird, ist der Ausgleich des staatlichen Budgets für einige Monate. Das Faktum stimmt. Für 2024 wird ein Primärüberschuss von 1,8 Prozent des BIP erwartet, nachdem das Primärdefizit 2023 noch bei 2,8 Prozent lag. Nur, was bedeutet das? Offensichtlich steht dem radikalen Schnitt bei den Staatsausgaben ein starker Anstieg der Arbeitslosigkeit und der Armut im Land gegenüber – mittlerweile lebt mehr als die Hälfte der Argentinier in Armut und die Arbeitslosigkeit stieg von 5,7 Prozent zu Mileis Amtsantritt auf 7,6 Prozent (siehe auch die eindrucksvollen Schilderungen einer Mitarbeiterin der Adenauerstiftung aus Buenos Aires hier).
Erfolg sieht anders aus. Wenn man mit Gewalt und ohne Rücksicht auf Verluste die staatlichen Ausgaben zusammenstreicht, schafft man Arbeitslosigkeit und Armut. Das ist offensichtlich. Aber was ist damit gewonnen? Woher soll der Impuls für einen Neuanfang kommen? Von den Arbeitslosen und Armen, deren Reallöhne deutlich gesunken sind, weil die jetzt größere Anreize zum Arbeiten haben?
Argument 3: Das Wachstum kehrt zurück
Bei den Realeinkommen und auf dem Arbeitsmarkt hat die Politik Mileis bisher verheerende Spuren hinterlassen. In der Industrie ging es massiv bergab, vor allem in kapitalintensiven Sektoren: Metallerzeugnisse, Maschinen und Ausrüstungen verzeichnen bis Ende Oktober einen Einbruch von 20 Prozent im Vergleich zum selben Vorjahreszeitraum, bei nichtmetallischen Mineralien und Grundmetallen ging es um 22,4 Prozent runter, bei Kraftfahrzeugen und anderen Transportmitteln um 13 Prozent. Insgesamt verzeichnet die Industrie ein Minus von 11,6 Prozent.
Aber sofort folgt das Argument der Libertären, für das nächste Jahr werde Wachstum vorhergesagt. Doch selbst wenn es so wäre, nach dem tiefen Einbruch des realen BIP von 3,5 (IWF) bis 3,8 Prozent (OECD) in diesem Jahr, wäre eine leichte Erholung im nächsten Jahr keineswegs ein Erfolg. Wenn es so einen tiefen Einbruch gegeben hat, sagte eine erhöhte Wachstumsprognose für das Folgejahr nur wenig über den „Erfolg“ oder die „Notwendigkeit“ der Politik im Vorjahr aus. In Deutschland käme schließlich auch niemand auf den Gedanken, das Wachstum im Jahr nach der Pandemie (2021) als Erfolg der Coronapolitik des Jahres 2020 zu feiern, die die Wirtschaft zum Einsturz brachte. Auch dieses Argument zeigt, dass die libertären Ideologen mit religiösem Eifer dabei sind, ihr Weltbild zu retten, anstatt es angesichts der Katastrophe in Argentinien zu korrigieren.
Noch wichtiger, bisher handelt es sich bei den positiven Meldungen nur um Prognosen. Warten wir doch einmal ab, was im nächsten Jahr passiert. Es wäre ja wirklich nicht das erste Mal, dass die Prognosen des Internationalen Währungsfonds bei „ideologisch befreundeten Staaten“ mehr von Hoffnung als von einer objektiven Einschätzung getragen sind.
Woher soll das Wachstum kommen?
Die entscheidende Frage zur Einschätzung der Prognosen und Mileis Erfolgsaussichten ist, wie es denn besser werden soll, – und genau hier fehlt es dem Großteil der medialen Berichterstattung an klaren Kriterien. Die Geldpolitik wird restriktiv bleiben und die Investitionstätigkeit abwürgen, weil bei der weiterhin hohen Inflation und einer libertär ausgerichteten Politik hohe Zinsen alternativlos sind. Die Fiskalpolitik wird superrestriktiv bleiben und somit auch keine Impulse setzen können. Impulse von den privaten Haushalten sind angesichts steigender Arbeitslosigkeit und hohen Reallohnverlusten ohnehin nicht zu erwarten.
Bliebe also das Ausland, das für Wachstum sorgen könnte. Milei hat zu Beginn seiner Amtszeit in einem Akt, der gar nicht libertär daherkommt, den Wechselkurs des argentinischen Pesos abgewertet (ein direkter Eingriff in die Preisbildung der Märkte, der für Libertäre absolut tabu sein muss). Das hätte in der Tat der Wirtschaft helfen können, doch die Abwertung war zu schwach und ist schon in diesem Herbst wieder durch die immer noch sehr hohe Inflation in ihrem Effekt auf die Wettbewerbsfähigkeit des Landes ausgeglichen worden. Nach der Berechnung der BIZ ist der reale Wechselkurs, der die Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit misst, wieder auf einem Wert wie vor der Milei-Zeit. Die Wirkung der Abwertung ist damit verpufft, was einen Exportboom wie in den 2000er Jahren, der die Wirtschaft nachhaltig wachsen ließ, von vornherein ausschließt. Der Impuls aus dem Ausland wird damit ebenfalls ausbleiben. Sollte Milei sich gar entschließen, die argentinische Währung dem Markt zu überlassen, wird er am eigenen Leib erfahren, wie ineffizient die Kapitalmärkte dieser Welt sind.
Die Prognosen werden von daher mehr von Gefühl und Wellenschlag getragen als von seriösen realwirtschaftlichen Überlegungen. Derzeit spricht absolut nichts dafür, dass sich die Wirtschaft aus der tiefen Talsohle, in die sie in diesem Jahr gefallen ist, befreien kann. Aber selbst dann werden Libertäre vermutlich einen Sündenbock dafür finden, der erklärt, warum sich ihre Wünsche nicht erfüllt haben.
Für die USA nehmen wir jede Wette an, dass der Versuch der libertären Ideologen, die sich um Trump versammelt haben, mit restriktiven Maßnahmen die Wirtschaft zu sanieren, innerhalb weniger Wochen scheitern wird. Die amerikanische DNA und insbesondere die von Donald Trump verlangen nach Wachstum. Das gibt es aber, folgt man der Logik und nicht neoliberalen Gefühlsausbrüchen, nur dann, wenn der Staat sich auch weiterhin in Form steigender Verschuldung massiv engagiert (wie hier gezeigt). Donald Trump wird das sehr schnell verstehen und Elon Musk vor die Tür setzen, wenn der versucht, den Erfolgsgaranten Staat aus dem Spiel zu nehmen.