Stefan Kooths, Leiter der Konjunkturprognose beim Institut für Weltwirtschaft in Kiel, bekennender Libertärer und Anhänger von Javier Milei, zeigt in einem Interview, wie man mit Begriffen eine Wirklichkeit zudeckt, die einem aus ideologischen Gründen nicht in den Kram passt.
In einem Interview mit dem Handelsblatt sagt er:
„Die aktuelle Krise ist maßgeblich eine Krise der Industrie. Die Kapazitäten der Industrieunternehmen sind unterausgelastet, und das inzwischen fünf Prozentpunkte mehr als in normalen Rezessionen. Solche Werte sehen wir sonst nur bei massiven Schocks. Aber den haben wir aktuell ja gar nicht.“
Die Kapazitäten sind unterausgelastet! Was heißt das wohl? Das Angebot, das hinter den Kapazitäten steht, ist hoch, doch offenbar ist die Nachfrage nicht groß genug, um die Kapazitäten auszulasten. Kein vernünftiger Mensch kann zu einem anderen Urteil kommen.
Nicht so der Libertäre. Da das Wort „Nachfrage“ für ihn absolut tabu ist, spricht seine „Gesamtschau“ (was immer das sein mag) für „Standortprobleme“ (auch da weiß man nicht genau, was das ist; in der nächsten Antwort spricht er über „Strukturkrise“, auch das ist ein leeres Wort und keine Erklärung). Bis zuletzt war zudem der deutsche Überschuss in der Leistungs- und Handelsbilanz so hoch, dass Standortprobleme als Erklärung für drei Jahre Stagnation und Rezession sicher nicht ausreichen. In den letzten Monaten allerdings schwächelt der deutsche Export, wie das Statistische Bundesamt heute berichtet, aber welche Ursachen das hat, kann man noch nicht sagen.
Am tollsten ist, dass der Libertäre keinen massiven Schock erkennen kann. Da ist selbst der geübte Neoklassiker weiter. Der müsste wenigstens konstatieren, dass ein Preisschock auf der Angebotsseite (steigende Energiepreise) in der Regel zu einem Nachfrageinbruch führt, der auf jeden Fall eine Zinssenkung verlangt (wie in dem beiliegenden Text aus dem vergangenen Jahr erklärt). Kommt es jedoch, wie 2022 in Europa geschehen, zu einer Zinserhöhung, ist das der größte anzunehmende Schock für die Marktwirtschaft überhaupt. Wer das nicht versteht, weiß nicht, worüber er redet. Konsequenterweise müsste man die Geldpolitik kritisieren, aber das ist für Liberale wie Libertäre ein Tabu, weil die Notenbanken ja nicht unmittelbar Teil des bösen Staates und unabhängig sind. Deswegen dürfen sie nicht kritisiert werden.
Man merkt, der Libertäre will gar nichts erklären, nicht einmal die Marktwirtschaft, die er doch ständig wie ein Mantra vor sich her trägt. Er weiß ja von vorneherein, dass nur der Staat schuld sein kann, weil die Märkte immer alles richtig machen. Mit Wissenschaft hat das alles nichts zu tun, es ist der klägliche Versuch, eine Anti-Staatsideologie mit wissenschaftlich klingenden Begriffen zu überdecken.
Hier eine Schockerklärung aus der Sicht der Neoklassik aus dem Jahr 2023
Ist die „Inflation“ aber gar nicht die Folge einer boomenden Wirtschaft, sondern die Folge von Preissteigerungen im Gefolge von Angebotsschocks und von Spekulation bei bestimmten Rohstoffen und Energieträgern, müssten die Neoklassiker sofort ihr analytisches Instrumentarium auspacken und konsequent anwenden. Zunächst müssten sie konstatieren, dass Angebotsschocks niemals eine Nachfrageschwäche auslösen können, weil von Angebotsschocks ausgelöste Preissteigerungen unmittelbar Ertragssteigerungen für die Produzenten der knapp gewordenen Stoffe bedeuten. Das führt zu einer Umverteilung, aber keineswegs zu einem globalen Nachfrageausfall. Die Realeinkommen, die bei uns durch hohe Energiepreise vernichtet werden, sind ja schließlich steigende Realeinkommen bei den Rohstoff- und Energielieferanten.
Was lehrt die Neoklassik zum Angebotsschock?
Damit ist der Neoklassiker auf der sicheren Seite. Für alle Probleme, die jetzt noch auftauchen können, hat seine Theorie eine klare Antwort, die vollkommen ohne staatliches Eingreifen auskommt. Wenn die vom Angebotsschock begünstigten Akteure nicht exakt die gleichen Güter kaufen, die von den jetzt benachteiligten Konsumenten gekauft worden wären, bedeutet das Strukturwandel, den man als Staat hinnehmen muss, weil er nur von den privaten Unternehmen weitgehend friktionsfrei bewältigt werden kann.
Sollte es so sein, dass die Energieproduzenten kurzfristig weniger Güter einkaufen, als es die energieverbrauchenden Konsumenten getan hätten, ist auch das in der Neoklassik kein Problem. Dann würden wir zwar steigende Leistungsbilanzüberschüsse der Energieproduzenten und fallende der Energiekonsumenten beobachten (was tatsächlich der Fall ist), aber das bei den Energieproduzenten nicht benötigte „Kapital“ würde rasch zu den Konsumentenländern zurückfließen (recycling der Ölmilliarden nannte man das in den 1970er Jahren) und dort für Investitionen verwendet.
Wenn die von den Preissteigerungen Begünstigten eine höhere Sparquote aufweisen als die Benachteiligten, dann bedeutet das in neoklassischer Sicht für die Welt insgesamt eine Chance, weil die Möglichkeit gegeben ist, mit dem vermehrten Sparen auch mehr zu investieren. Bleibt nur noch die Frage, wie das in der Vorstellung der Neoklassik passiert. Welches ist der Transmissionsmechanismus, auf den man vertrauen muss, damit diese Chance von den hocheffizienten Kapitalmärkten genutzt werden kann?
Auch bei dieser Frage gibt es für die Neoklassik keinen Zweifel: Höhere Ersparnisse führen zu einem steigenden Kapitalangebot auf den Kapitalmärkten der Welt. Das erzwingt sinkende Zinsen und die regen die Unternehmen an, mehr zu investieren. Einen Nachfrageschock kann es deswegen niemals geben, auch wenn eine Umverteilung zugunsten wohlhabender Akteure, die höhere Sparquoten aufweisen, am Anfang eines Angebotsschocks stand.
Sinkende Zinsen?
Eine „Kleinigkeit“, der aufmerksame Leser hat es sicher registriert, ist leider schief gegangen, wenn man den von den Neoklassikern erwarteten Verlauf mit der Wirklichkeit vergleicht. Die Zinsen sind keineswegs gesunken, sondern weltweit deutlich gestiegen. Wie schon in den 1970er Jahren haben die Notenbanker, allen voran die Verantwortlichen in der EZB, die von dem Angebotsschock ausgelösten temporären Preissteigerungen zu einer gefährlichen „Inflation“ uminterpretiert und, Neoklassik hin oder her, genau das Gegenteil von dem durchgesetzt, was für die neoklassische Theorie als Marktergebnis zwingend ist.
Hat man erwartet, dass nun die Neoklassiker auf die Barrikaden gehen und vor allem die europäische Notenbank massiv kritisieren, die das Gegenteil von dem erzwingt, was aus neoklassischer Sicher „richtig“, weil marktgetrieben wäre, sieht man sich allerdings getäuscht. Kein namhafter Neoklassiker hat die Geldpolitik für diesen irren Angriff auf die neoklassische Vernunft in die Mangel genommen. Lammfromm sind sie alle und beglückwünschen die Notenbanker für ihre Konsequenz bei der „Inflationsbekämpfung“.