Die Migration und die innereuropäischen Grenzen

(Dieser Artikel ist zeitgleich auch im Overton-Magazin erschienen, Overton-Magazin.de)

Keinen Satz hat man in Deutschland in der vergangenen Woche öfter gehört als den, dass in Sachen Migration doch etwas geschehen müsse. Für viele Menschen und für eine ganze Reihe von Parteien folgt daraus, dass die Maßnahmen, die der Kanzlerkandidat Friedrich Merz vorgeschlagen hat, einschließlich der strikten Kontrolle der innereuropäischen Grenzen in den Katalog der Maßnahmen gehören, die einer deutschen Regierung zur Verfügung stehen. Das ist ein schwerwiegender Irrtum. Dieser Irrtum ist viel wichtiger als die Tatsache, dass der Antrag der CDU von der AfD unterstützt wurde. Die AfD ist ein Kind dieses fundamentalen deutschen Irrtums.

Es gibt Probleme auf dieser Welt, die kann die Regierung eines Nationalstaates ohne weiteres lösen. Es gibt aber Fragen, die aus der Sache heraus niemals von einem Staat alleine beantwortet werden können, sondern immer nur in Kooperation mit anderen Nationen. Dazu gehört die Migration. 

Man kann sich als Nation natürlich vollständig vom Rest der Welt abkoppeln, alle Grenzen schließen und jeden sonstigen Austausch mit dem Rest der Welt beenden. Dann ist man autark. Das fordert nicht einmal die AfD. Doch selbst dann ist ein Land einer Reihe von Einflüssen aus dem Rest der Welt ausgesetzt, muss z.B. den Klimawandel ohne Mitsprache ertragen und kann nichts dagegen tun, wenn ein Nachbarland ein Kohlekraftwerk nach dem anderen an die Grenze setzt und die Luft der scheinbar autarken Nation verpestet oder Kernkraftwerke in Grenznähe weiterbetreibt, deren Sicherheitsstandards nicht den Vorstellungen und Bedürfnissen seiner Bevölkerung entsprechen. 

Wer sich zu Kooperation entschließt, weil er glaubt, dass das auch für ihn Vorteile bringt, muss zu Kompromissen mit den Nachbarn bereit sein. Nun ist es einfach so, dass in Europa, wo man sich aus guten Gründen zu enger Kooperation verpflichtet hat, die Migrationsströme auf ein keineswegs einheitliches geographisches Gebilde treffen. Naturgemäß gibt es Länder, die aus der Richtung der Migrationsströme gesehen außen liegen (nennen wir sie Grenzländer) und andere, die innen liegen (nennen wir sie Binnenländer). Griechenland, Spanien und Italien sind die typischen Grenzländer, Deutschland und Österreich sind eindeutig Binnenländer.

Fast immer treffen die Migrationsströme zuerst auf die Grenzländer, ohne dass das impliziert, dass die Migranten in die Grenzländer wollen, sie wollen einfach in die Europäische Union, vielleicht auch nach Deutschland oder Frankreich. Dennoch tragen die Grenzländer von vorneherein eine wesentlich größere Last als die Binnenländer. Wenn man dazu noch eine Regelung (wie einst in Dublin) beschließt, nach der die Migranten in den Binnenländern abgewiesen werden können, wenn sie aus einem sicheren Drittland kommen, ist das für die Grenzländer offensichtlich keine faire Vereinbarung. 

Weil alle Länder die Migration als große Belastung empfinden, braucht man Regelungen zwischen den Grenz- und den Binnenländern, die verhindern, dass die ganze Last von den Grenzländern alleine getragen wird. Wohlgemerkt, das gilt, wenn man die übrigen Kooperationsvereinbarungen wie offene Grenzen für Güter und Menschen in der EU aufrechterhalten will. Solche Regelungen gibt es in Form der „Reform des Europäischen Asylsystems“, die bis 2026 in jeweils nationales Recht umgesetzt werden muss. Olaf Scholz hat das in seiner auch im Übrigen sehr guten Rede vergangenen Mittwoch klargestellt. 

Insofern gibt es in einem Kooperationsmodell, zu dem wir uns im Rahmen der EU freiwillig verpflichtet haben, nichts, was man in Sachen Grenzkontrolle zusätzlich allein auf nationaler Ebene tun kann, um die Migration zu steuern. Wer dennoch rasch etwas ändern will, kann dann, wenn er Regierungsverantwortung trägt, nach Brüssel fahren und die anderen Länder bitten, neue Verhandlungen aufzunehmen. Aussichtsreich ist das nicht.

An den nationalen Grenzen zu kontrollieren, um, wie Friedrich Merz das will, jeden zurückzuweisen, der potenziell Asyl sucht, ist ein primitiver Rückfall in die Dublin-Regelungen, die von den europäischen Partnern eindeutig verworfen worden sind. Wenn Deutschland nach Österreich zurückweist und Österreich daraufhin nach Italien, sind wir wieder bei der absurden einseitigen Belastung der Grenzländer, die niemals Bestand haben kann, wenn Deutschland ansonsten, konkret nämlich im Außenhandel, mit den Grenzländern zusammenarbeiten und davon auch profitieren will. 

Es ist in den vergangenen Tagen viel vom europäischen Recht die Rede gewesen. Viel entscheidender ist aber der Verstoß gegen die europäische Vernunft, der mit dem Fünf-Punkte-Antrag der CDU verbunden war. Wer einem solchen Antrag zustimmt, hat nicht verstanden, wie Länder auf kooperative Weise Probleme lösen können und wie nicht. Nationale Alleingänge nach dem Motto, wir können das, weil wir groß und stark sind, sind ein Rückfall in die Kanonenbootdiplomatie, die in Europa ein für alle Mal überwunden sein sollte – nicht nur rechtlich, sondern auch politisch und vom menschlichen Standpunkt aus.

Man kann es nur bedauern, dass gerade in Deutschland das Verständnis für solche Zusammenhänge in beachtlichen Teilen der Bevölkerung und bei führenden Politikern nicht mehr existiert. Der Drang, nationale und nationalistische Lösungen zu finden, ist übermächtig. Statt der Bevölkerung in Ruhe die Lage und die europäischen Möglichkeiten zu erläutern, sind zu viele Hasardeure unterwegs, die, offenbar ohne zu wissen, was sie tun, den Eindruck erwecken, sie hätten die Patentlösung gefunden. Wenn das in der berühmten politischen Mitte passiert, betreibt diese Mitte unmittelbar das Geschäft derer, die am rechten Rand im Trüben fischen.

Wer das Problem großer Migrationsströme lösen will, muss weiter ausholen. Man muss Kriege verhindern und den Entwicklungsländern eine echte Chance zum wirtschaftlichen Aufholen geben. Auch das heißt Abschied nehmen von vielen Vorstellungen, die im Westen verbreitet sind. Insbesondere die Hoffnung, man könne mit den Entwicklungsländern Geschäfte zum eigenen Vorteil machen, sie dabei als Konkurrenten kleinhalten, gleichzeitig aber deren Entwicklungsprobleme lösen, ist eine grandiose Illusion. 

Wer Erfolge im Standortwettbewerb der Nationen fordert, ohne zu bedenken, dass das immer Standortnachteile anderer Länder impliziert, kann nicht erwarten, dass die Menschen in den benachteiligten Ländern das einfach hinnehmen. Wer sich über große Überschüsse im Außenhandel freut, vernichtet Arbeitsplätze woanders und treibt die Entlassenen auf die Suche nach sicheren Verhältnissen. Auch beim Handel geht es um Kooperation und nicht um Konfrontation.

Auch muss man endlich begreifen, dass es die westlichen Institutionen in Washington sind, die mit ihrer neoliberalen Politik in den meisten Regionen dieser Welt mehr Schaden anrichten, als der Westen jemals durch Entwicklungshilfe ausgleichen kann. Man könnte sich die Entwicklungshilfe sogar komplett sparen, wenn man dafür sorgte, dass es eine globale Finanzordnung gibt, die nicht die Spekulationsinteressen der Wallstreet und der Londoner City bedient. Es ist mehr als zu bezweifeln, dass diejenigen, die Migration am lautesten beklagen, für sinnvolle Veränderungen auf diesem Gebiet überhaupt Konzepte hätten oder gar bereit wären, sie durchzusetzen.