Wir leben in einer seltsamen Zeit. Die Probleme türmen sich, aber die Fähigkeit, mit ruhigem Verstand die Welt zu analysieren und Lösungen ernsthaft zu diskutieren, nimmt dramatisch schnell ab. Nebenkriegsschauplätze sind zunehmend wichtiger als die Schlachten, die es eigentlich zu schlagen gilt. Die halbe Republik empört sich, wenn irgendwo vergessen wird, die Sprache gendergerecht zurechtzubiegen, aber gleichzeitig bleiben die großen Fehlleistungen der Politik weitgehend unbeachtet und unkommentiert.
Die dahinterstehende Krankheit ist nicht leicht zu diagnostizieren. Eine wichtige Rolle spielt in jedem Fall das, was man die Vertwitterung der öffentlichen Diskussion nennen könnte. Immer mehr Menschen glauben offenbar, es sei schon eine Diskussion, wenn man zu einer Sachfrage einen mehr oder weniger dümmlichen Zweizeiler hinterlässt oder über Twitter sein Missfallen und seine Empörung zu einer bestimmten Position kundtut.
Diejenigen, die über ihr Medium große Mengen von Menschen erreichen können, unterstützen dieses Denken leider allzu oft. In den Redaktionsstuben der Presseorgane wird die schiere Menge der Kommentare zu einem Artikel schon als Erfolgskriterium betrachtet, statt zu fragen, ob es unter den dreihundert Äußerungen vielleicht ein oder zwei ernsthafte Meinungen und Statements gegeben hat, die man bei der zukünftigen Arbeit berücksichtigen sollte. Der erhobene Daumen irgendeines anonymen Nutzers gilt bereits als Beleg für die Sinnhaftigkeit und die Wichtigkeit der eigenen Position.
In diesem Klima der immerwährenden „Diskussion“ mit unüberschaubar vielen belanglosen Kommentaren stirbt die Fähigkeit der Gesellschaft, sich wirklich mit einer Sache auseinanderzusetzen. Fakten, die eine differenzierte Interpretation verlangen, werden ebenso ausgeblendet wie das einzige Hilfsmittel, das es dem Menschen erlaubt, Sinn von Unsinn zu trennen, nämlich die menschliche Vernunft und ihre Logik.
Die Politik passt ihre Sprache an…
Die Politik passt sich an diese Vertwitterung der Gesellschaft mit einer Verflachung und Entsubstantiierung ihrer Sprache an. Nur wer es tunlichst vermeidet, inhaltliche Aussagen zu machen und sich jederzeit hinter Floskeln und Leerformeln versteckt, hat eine Chance, Twitterstürme zu vermeiden und eine ohnehin desorientierte Gesellschaft noch weiter zu verunsichern. Probleme unter den Teppich zu kehren, ist das politische Erfolgsrezept, nicht, sie unter dem Teppich hervorzuholen. Konsequenterweise ist der Politiker im September 2021 zum Bundeskanzler gewählt worden, der bei der Fähigkeit, systematisch nichts zu sagen und niemals auf Fragen zu antworten, unangefochten deutscher Meister ist. Abgetreten ist eine Kanzlerin, die ihm nur wenig nachstand.
Das Phänomen der Vertwitterung ist in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu finden. Ich will nur einige wenige herausgreifen. Bei der Bekämpfung der Pandemie taumelt die deutsche Politik hilflos von einer Welle in die nächste. Der Winter 2021/22 fühlt sich für die meisten Menschen nicht viel anders an als der Winter zuvor, obwohl sie in ihrer großen Mehrheit genau das getan haben, was die Politik von ihnen verlangt hatte, nämlich sich impfen zu lassen.
Niemals gab es auch nur im Ansatz die Diskussion über die innere Dynamik einer solchen Pandemie und das, was daraus perspektivisch zu lernen ist. Im Dezember 2021 wird ein Infektiologe quer durch die Republik mit der Aussage zitiert, die Corona-Wellen würden nun flacher, weil eine Grundimmunität vorhanden sei. Man fragt sich, warum eine solche Erkenntnis, die immerhin eine optimistische Perspektive schafft, erst 22 Monate nach Beginn der Epidemie die Öffentlichkeit erreicht. Was haben dieser Experte und alle seine Kollegen Virologen und Epidemiologen seit Beginn der Pandemie gemacht? Es war spätestens zu Beginn der zweiten Welle klar, dass die Wellen der ernsthaften Erkrankungen und der Todesfälle (gemessen an der Übersterblichkeit wie hier bei Euromomo) flacher werden, entweder weil mehr Menschen durch Ansteckung immunisiert werden oder durch Impfung wenigstens vor schweren Verläufen geschützt werden. Dennoch gab es zu Beginn jeder Welle exakt die gleichen Panikreaktionen der Politik und der Masse der Experten mit Verweis auf „exponentielles“ Wachstum und eine mögliche Überforderung des Gesundheitssystems. Da ist es kein Wunder, dass viele Menschen, die ihren Verstand noch gebrauchen, sich fragen, ob es wirklich sein kann, dass unsere Politik schlicht unfähig ist, selbst einfache Zusammenhänge zu durchschauen, oder ob doch mehr und ganz anderes dahintersteht.
Noch schlimmer ist es beim Thema Inflation. Es vergeht kein Tag in Deutschland, wo nicht ein selbsternannter Experte eine Inflationierung à la 1970er Jahre an die Wand malt und von der Europäischen Zentralbank sofortige Zinserhöhungen verlangt. In der Süddeutschen Zeitung erweckt der Redakteur Markus Zydra den Eindruck, eine Zinserhöhung der EZB käme vor allem den „Ärmeren in der Bevölkerung“ zugute, wohl weil er vermutet, die Zinserhöhung werde auf geheimnisvolle Weise die Knappheit an und die Spekulation mit Energie, Wohnungen und Lebensmitteln beseitigen. Selbst Kantholz für Bastler, so seine steile These, würde irgendwie erschwinglicher, wenn nur die Zinsen stiegen.
Das ist gefährlicher Unsinn (wie immer wieder und zuletzt hier gezeigt), der auch dann Unsinn bleibt, wenn er von „Experten“ wie Professor Sinn (und dessen abstruser Ketchup-Flaschen-These) unterstützt wird. Die Art von Inflation, die gefährlich werden kann, ist gerade nicht ein Zustand, bei dem die Preise um vier oder fünf Prozent höher sind als ein Jahr zuvor, sondern sie ist ein Prozess, bei dem sich Preise und Löhne immer weiter nach oben treiben, ohne dass das etwas mit Knappheit bestimmter Güter zu tun hat. Davon kann in Deutschland und Europa in keiner Weise die Rede sein. Käme es aber wirklich dazu, würde die Intervention der EZB via steigende Arbeitslosigkeit vor allem die Ärmeren in der Bevölkerung treffen.
… oder sie schweigt
Wohlgemerkt, jeder darf Unsinn verbreiten, auch solchen Unsinn, der 500 oder gar 5000 erhobene Daumen nach sich zieht. In ökonomischen Fragen ist das Grundwissen der Bevölkerung so gering und die Verwirrung durch die herrschende Lehre so groß, dass man mit den primitivsten Thesen die größte Zustimmung gewinnt. Gefährlich wird es erst da, wo die Politik eines großen Landes in Europa nicht in der Lage oder nicht willens ist, sich diesem „Geschwurbel“ konsequent und intellektuell überzeugend entgegenzustellen.
Das Schweigen, das von Merkel bis Scholz als die überlegene Methode gilt, sich bei solchen Fragen zu „positionieren“, wendet nicht Schaden von der Gesellschaft ab, sondern richtet enormen Schaden an. Es bereitet den Raum für nationalistisches Zündeln, das in einem Europa, das sich in monetären Fragen – mit der Zustimmung aller Parlamente! – zu einer Union zusammengeschlossen hat, sofort ausgetreten werden muss.
Es rächt sich bis heute jeden Tag, dass die Regierung Merkel/Scholz sich nicht explizit und klar gegen das groteske Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur EZB-Politik aus dem Jahre 2020 gewandt hat (hier mein erster Kommentar dazu). Statt dieses Urteil still und heimlich zu begraben, hätte man den politischen Mut aufbringen müssen, um dem deutschen Verfassungsgericht zu sagen, dass es ohne jeden Sachverstand geurteilt und formal gegen die – wiederum von allen Parlamenten demokratisch abgesegneten – europäischen Regeln verstoßen hat (zwei weitere einschlägige Kommentare dazu hier und hier).
…bis zum nächsten großen Konflikt
Wer Floskeln für Antworten hält, wird politisch immer wieder auf die Nase fallen und, im Falle Europas, danach für die Antwortverweigerung teuer bezahlen müssen. Das gilt derzeit vor allem für die von Olaf Scholz gebetsmühlenartig vorgetragene Floskel, der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt habe seine Flexibilität bewiesen. Das ist inhaltlich falsch (wie hier gezeigt). Es ist jedoch, und das ist viel wichtiger, der Versuch, einer Diskussion auszuweichen, der man nicht ausweichen kann.
Es ist ein historisch bedeutsamer Vorgang, wenn die beiden Staatschefs des zweit- und drittgrößten Landes der EU sich zusammentun, um gemeinsam einen Artikel zu schreiben (in der Financial Times bezeichnenderweise). Sind das zudem die Staatschefs von zwei Ländern, bei denen in der Vergangenheit politisch kaum etwas zusammenging, kann man die Bedeutung des Vorgangs kaum überbewerten. Emmanuel Macron und Mario Draghi sagen inhaltlich nicht sehr viel, aber sie machen klar, dass es eine Reform der europäischen Schuldenregeln geben muss, die verhindert, dass der – nach der Krise – vollkommen inflexible Pakt den europäischen Partnern den Weg aus Rezession und Arbeitslosigkeit verbaut.
Damit haben sie in der Sache Recht (dazu ein Stück hier) und jeder Schulden-Dogmatismus von deutscher Seite ist angesichts der weiterhin extrem hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, die eindeutig gegen die gemeinsam vereinbarten makroökonomischen Regeln verstoßen, absolut unangebracht. Doch man ahnt schon jetzt, dass sich Lindner und Scholz vor einer offenen und ehrlichen Diskussion dieser Frage wegducken und am Ende einem Formelkompromiss zustimmen, der es ihnen erlaubt, zu Hause so zu tun, als seien sie weiterhin die Apostel der schwarzen Null. Wieder wird jeder Mensch mit ein wenig Verstand merken, wie er an der Nase herumgeführt wird, und die Frustration bei denen, die ohnehin die gesamte Politik für einen Schwindel halten, wird erneut zunehmen.
Auch die Klimapolitik ist nicht ehrlich
Selbst in dem Bereich, der von großen Teilen der Politik zu Recht als schicksalhaft für das Überleben der Menschheit angesehen wird, dem Klima- und Naturschutz, kann nicht die Rede davon sein, dass den Bürgern reiner Wein eingeschenkt wird. Einerseits verharmlost man die Anpassungsprozesse, die notwendig sein werden, um die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft von der Verwendung fossiler Energie abzukoppeln. Andererseits ist man ungerechtfertigt optimistisch, was die Lösung der Stromfrage betrifft.
Man muss sich vorstellen, dass die gleiche SPD, die in der Koalition mit CDU/CSU zumindest hingenommen hat, dass der Ausbau der erneuerbaren Energieträger massiv verlangsamt wurde, nun, wo es mit den Grünen geht, so tut, als sei es ein Leichtes, die deutsche Stromversorgung in wenigen Jahren so umzustellen, dass auch eine wesentlich höhere Stromnachfrage sicher bedient werden kann. Wie konnte die Partei und wie konnten die entscheidenden Personen, muss man im Nachhinein fragen, es mit ihrem Gewissen vereinbaren, über viele Jahre Teil einer Koalition gewesen zu sein, die es – aus welchen Gründen auch immer – nicht geschafft hat, die Energiewende zu Ende zu bringen?
Am schlimmsten ist es aber, dass trotz der offenkundigen globalen Dimension des Problems fast alle Beteiligten so tun, als müsse man als einzelne Nation nur umsetzen, was auf den Klimakonferenzen als Ziel verkündet wird und schon sei das Problem gelöst. Viele Jahre des globalen Scheiterns werden nur als mangelnder politischer Wille interpretiert, anstatt anzuerkennen, dass es eine systematische Lücke in der Strategie der Vereinten Nationen gibt (dazu hier ein Stück zu der Konferenz von Glasgow und ein Buch zur Gesamtproblematik). Solange es keine global konzertierte Aktion zur Begrenzung der Produktion fossiler Rohstoffe gibt, ist jeder Versuch eines einzelnen Landes, sich aus der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu lösen, nicht mehr als Gewissenberuhigung.
Mit der Klimafrage eng verknüpft ist die Frage, wie man es den sich entwickelnden Ländern ermöglichen kann, trotz des klimabedingten Strukturwandels den Menschen in ihren Ländern eine positive Perspektive zu bieten. Hier ist die gesamte westliche Welt vollkommen blank und speist die ärmeren Länder regelmäßig mit Phrasen ab. Wir möchten zwar gerne verhindern, dass perspektivlose Menschen gen Norden wandern, wir sind aber nicht bereit, auch nur die kleinste Hilfestellung zu geben, wenn etwa die Interessen der Finanzmärkte davon berührt werden könnten. Unmittelbar an Europas Grenzen, in der Türkei, spielt sich derzeit ein Drama ab, das enorme Auswirkungen auf die Flüchtlingsströme haben könnte, das aber im Westen fast nur unter dem Rubrum „islamistischer Präsident in Schwierigkeiten“ abgehandelt wird (dazu ist ein fundiertes Stück hier zu finden).
Die politische Unfähigkeit, vernünftig zu kommunizieren
Die Antworten auf alle hier aufgeworfenen Fragen sind nicht vorgegeben, sondern müssen in einem nach demokratischen und rechtsstaatlichen Regeln organisierten Prozess erarbeitet werden. Aber dieser Prozess fällt nicht vom Himmel. Er muss von sachlich kompetenten und diskussionswilligen Politikern angeschoben werden. Doch genau die gibt es nicht. Kabinettsposten werden nach allen möglichen Kriterien verteilt, aber nicht nach der Fähigkeit der potenziellen Amtsinhaber, ernsthafte Diskussionen anzustoßen und diese – auch mit der Bereitschaft, die eigene Meinung bei guten Gegenargumenten zu revidieren – durchzuhalten.
Vieles kann eine Demokratie verkraften. Permanentes Geschwafel aus der politischen Mitte und die damit verbundene Unfähigkeit, mit der Vielfalt der Meinungen rational und souverän umzugehen, schwächt sie jedoch fundamental. Wer ernsthafte politische Diskussion für gefährlich hält und alles tut, um sie zu verhindern, stärkt genau den politischen Rand, der die Demokratie gerade wegen ihrer Vielfalt und Diskussionsfreude für eine zu schwache Staatsform hält. Wenn in demokratisch verfassten Staaten die Grundlagen für eine vernunftgesteuerte Problemlösung mehr und mehr ausgehöhlt werden, bereitet das den Boden für Staatsformen, bei denen ganz ausdrücklich nicht mehr auf Vernunft und Vielfalt gesetzt wird. Das mag man direkt Faschismus nennen oder auch „nur“ Trumpismus. Im Ergebnis ist das Ende der Vernunft als Leitfaden menschlichen Handelns eine Katastrophe für die Menschheit und für ihren Planeten.