(Zuerst erschienen bei Telepolis, 5. 8. 2022)
Stellen sie sich einmal vor: Ein Arzt entwickelt ein geniales Diagnose-Instrument, mit dem sich bei vielen Krankheiten Fehldiagnosen vermeiden lassen, aber die große Mehrheit seiner Kollegen wollen es nicht anwenden, weil sie der Meinung sind, Fehldiagnosen seien nun einmal Teil des Lebensrisikos der Patienten, die man einfach in Kauf nehmen müsse. Sie würden sicher sagen, dass diese Position unverantwortlich ist und nach dem Staat rufen, der dafür sorgen müsse, dass die Mehrheit der Mediziner ihre traditionellen Positionen räumt und das neue Instrument benutzt. Sie halten das für unrealistisch? Jeder vernünftige Mediziner, glauben Sie, sei bestrebt, den Patienten so gut wie möglich zu helfen, und er würde sich folglich niemals ohne Grund an traditionelle, aber veraltete Methoden klammern.
Nun erzähle ich ihnen eine Geschichte aus der Volkswirtschaftslehre. Vor nahezu hundert Jahren hat eine Gruppe von Ökonomen entdeckt, dass man die Entscheidung eines Menschen oder einer Regierung, mehr oder weniger Geld auszugeben als zuvor, nicht isoliert betrachten und beurteilen darf, weil jede dieser Entscheidung unweigerlich Rückwirkungen auf andere Menschen und auf Unternehmen hat, die darauf wiederum reagieren. Geben etwa die privaten Haushalte weniger von ihrem Einkommen aus, legen also mehr auf die hohe Kante, haben die Unternehmen, bei denen sie sonst gekauft hätten, geringere Einnahmen. Jede Einnahme in der Volkswirtschaft ist zugleich eine Ausgabe und umgekehrt.
Das ist ja eine lächerlich einfache Erkenntnis, werden Sie sagen. Das stimmt. Schon in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts machten sich einige kluge Beamte in der Deutschen Bundesbank auf, um einmal auszurechnen, wie es denn um den Saldo der Einnahmen und Ausgaben in den verschiedenen Sektoren der Volkswirtschaft bestellt ist. Doch genau diese lächerlich einfache Erkenntnis wird in Deutschland seit den oben genannten fast einhundert Jahren von der großen Mehrzahl der Ökonomen, ich rede von geschätzt 95 Prozent, und der Gesamtheit der Politiker, die für Wirtschaftsfragen zuständig sind, einfach ignoriert. Selbst die Spitze der Bundesbank hält diese Erkenntnis seit Jahrzehnten unter der Decke.
Sparen und Schulden
Für die Finanz- und Geldpolitik ist es allerdings entscheidend, zu wissen, wie viel die privaten Haushalte insgesamt von den Einkommen ausgeben, die sie – aus dem Unternehmenssektor und vom Staat – als Löhne und Gehälter bezogen haben? Wie hoch ist der Anteil, den sie davon Monat für Monat zur Bank bringen? Was machen die Unternehmen, wenn sie jeden Monat von der Summe, die sie ihren Angestellten ausbezahlen, nur 90 Prozent zurückbekommen? Wie können sie im nächsten Monat wieder 100 Prozent der Gehälter ausbezahlen, sie haben doch einen großen Verlust gemacht? Um die Bilanzen der Unternehmen bei sparenden privaten Haushalten wieder in Ordnung zu bringen, müsste offenbar jemand genau die zehn Prozent der Einkommen für Güterkäufe ausgeben, die von den privaten Haushalten gespart wurden. Doch wer sollte das sein?
Es müsste jemand sein, der diese gesparte Summe, in Deutschland sind das pro Monat etwa 10 Milliarden Euro, nicht von den Unternehmen bekommen hat, denn es hilft den Unternehmen ja gerade nicht, wenn sie nur zurückerhalten, was sie vorher ausbezahlt haben. Es müsste jemand Geld ausgeben, das er (oder sie!) gar nicht hat. Stellen wir uns einmal vor, es gebe so eine verrückte Person oder Institution, dann wäre die Welt wieder in Ordnung: die Unternehmen zahlten 100 Milliarden aus und bekämen auch bei zehn Milliarden Ersparnis der privaten Haushalte wieder 100 Milliarden zurück, weil unser Verrückter zehn Milliarden Euro als Kredit aufgenommen und vollständig ausgegeben hat.
Was aber ist, wenn wir keinen Verrückten finden, der bereit ist, Geld auszugeben, das er gar nicht hat? Dann, auch das ist eine einfache Überlegung, werden die Unternehmen schon im ersten Monat anfangen, Arbeitskräfte zu entlassen, um ihre Verluste in Grenzen zu halten. Viele private Haushalte, die mit einem festen Einkommen gerechnet haben, das ihnen eine Ersparnis von zehn Prozent erlaubt hätte, werden enttäuscht und müssen ihre Sparpläne und ihre Ausgabenpläne nach unten korrigieren. Das Ergebnis nennt man üblicherweise Rezession.
Ohne Verrückte, die Geld ausgeben, das sie gar nicht haben, geht es nicht! Wenn eine Gruppe der Volkswirtschaft sparen will, braucht sie eine andere Gruppe, die Schulden in gleicher Höhe macht, damit es wenigstens keine Rezession gibt. Wenn man bei der Saldenbetrachtung feststellt, dass, wie es heute in vielen Ländern der Welt anzutreffen ist, die privaten Haushalte und auch die Unternehmen Sparer sind, muss sich offenbar der letzte noch verbliebene inländische Sektor, der Staat fragen, ob er auf Teufel komm raus sparen kann – etwa, wie es in Europa gerade gefordert wird, um seinen Schuldenstand zu verringern. Spart der Staat jedoch in einer Rezession, macht er die Rezession nur noch schlimmer und muss am Ende doch mit eigenen Schulden einspringen, weil sonst der gesellschaftliche Zusammenhalt ernsthaft bedroht ist.
Aber, werfen an der Stelle die besonders klugen deutschen Ökonomen ein: Deutschland und die Niederlande haben doch in den Jahren vor Corona ihre Staatsschulden reduziert, ohne dass es zu einer Rezession kam. Auch das stimmt, ist aber kein Ausweg aus dem Dilemma. Die beiden Länder haben nämlich das Ausland zum Schuldner gemacht. Mittels relativer Lohn- und Preissenkung in der Währungsunion haben sie die Konsumenten und Investoren anderer Länder dazu gebracht, Geld auszugeben, das sie nicht hatten.
Dort wurde, weil die Güter der beiden Lohnsenker so günstig waren, weniger exportiert, also weniger eingenommen als man selbst importierte, also ausgab. Deutschland und die Niederlande nahmen mehr ein als sie ausgaben, hatten folglich Leistungsbilanzüberschüsse. Das aber können nicht alle Länder der Welt machen, weil die Welt nun mal kein Ausland hat. Würde Europa es insgesamt versuchen, würden als erstes die Amerikaner ihre Märkte abschotten, weil sie sich nicht noch mehr Jahr für Jahr im Ausland verschulden wollen als ohnehin.
Was darf Politik?
Das sind extrem einfache, aber doch vollkommen zwingende Überlegungen. Doch die deutsche und die europäische Politik glaubt, ohne sie auskommen zu können. Wieso eigentlich? Würde die Politik ohne Rücksicht auf Verluste unbestreitbare physikalische Gesetze wie etwa den Erhaltungssatz der Energie ignorieren, ginge die Wissenschaft auf die Barrikaden und erklärte die handelnden Politiker für verrückt. In den Wirtschaftswissenschaften passiert nichts, weil die sogenannte Wissenschaft sich zum Büttel politischer Interessen gemacht hat und – ohne Rücksicht auf Logik – alles nachplappert, was der Ideologie vom großen Markt und vom kleinen Staat gerecht wird.
Das Ergebnis sind politische Entscheidungen, die fatale Folgen für viele Generationen haben werden. Christian Lindner, der Bundesfinanzminister und sein Berater Lars Feld agieren so, als ob es diese Zusammenhänge nicht gäbe. Weder sprechen sie über die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse als Voraussetzung für staatliches Sparen in der Vergangenheit, noch weisen sie darauf hin, dass es nicht einfach eine Frage des politischen Willens ist, ob ein Land seine staatlichen Schulden reduzieren kann oder nicht.
Die deutsche Ignoranz auf die Spitze treibt allerdings der Präsident der Deutschen Bundesbank, Joachim Nagel, der nicht nur, wie fast alle seine Vorgänger, die in seinem Haus ermittelten Salden der Sektoren schlicht ignoriert. Er meint, es sei entscheidend, „dass die Mitgliedstaaten weiterhin genügend Anreize haben, ihre Finanz- und Wirtschaftspolitik nachhaltig auszurichten und Schuldenstände zu verringern“. „Anreize“ also brauchen die Länder, die keinerlei objektive Möglichkeit haben, ihre Staatsschulden zu reduzieren, weil ihr Privatsektor spart und Deutschland den Weg über Auslandsschulden versperrt.
Der Mann sagt zudem in vollem Ernst, man müsse den Ländern, denen die EZB unter Umständen hilft, sich gegen Spekulanten an den Kapitalmärkten zu wehren, eine „wirksame fiskalische Konditionalität“ zumuten. Das kann nichts anderes heißen, als dass man genau dort fiskalische Auflagen zum Sparen des Staates macht, wo sie niemals wirksam werden können. Italien hat in den vergangenen dreißig Jahren von Seiten des Staates mehr gespart als irgendein anderes Land in Europa. Dass es ihm trotzdem nicht gelungen ist, seine Staatsschulden zu reduzieren, liegt nicht an mangelndem politischem Willen oder zu geringen „politischen Anreizen“, sondern ist einzig und allein der Tatsache geschuldet, dass die Konstellation der übrigen Salden in der italienischen Volkswirtschaft erfolgreiches Sparen des Staates unmöglich gemacht hat.
Ultra posse nemo obligatur, Unmögliches kann nicht verlangt werden, ist ein in seiner Bedeutung kaum zu überschätzender juristischer Grundsatz. Genau darum geht es in Europa. Hört Deutschland nicht auf, Unmögliches von seinen Nachbarn zu verlangen, wird es erleben, dass Dinge passieren, die man heute noch für unmöglich hält.