Ich habe schon in meinem letzten Stück beschrieben, dass es heutzutage nahezu unmöglich ist, einen unbestreitbaren Sachverhalt so unter die Leute zu bringen, dass auch die Politik sich gezwungen sieht, allzu einfache Sichtweisen zu hinterfragen und auch einmal gegen die ökonomischen Vorurteile der Mehrheit anzugehen. Das gilt bei vielen Herausforderungen, denen sich diese Gesellschaft jetzt und in Zukunft stellen muss. Aber überall sieht man das gleiche Bild: Aufgeregtes Gezwitscher aus allen Lagern, aber niemals auch nur der Versuch der politisch Verantwortlichen, nicht nur mit Macht, sondern auch mit Geist die Führung in einer Debatte zu übernehmen.
Der vielgepriesene Pluralismus wird genau da zum Problem, wo er ernsthafte Auseinandersetzungen in der Sache verhindert, weil schließlich jeder irgendwie Recht haben muss. Beispielhaft dafür ist die Inflationsfrage, die bei einer unangemessenen Reaktion der Politik das Potential hat, große Teile der Welt unmittelbar nach dem noch nicht verdauten Corona-Schock erneut um Jahre zurückzuwerfen.
Seit fast zwei Jahrzehnten hat die westliche Welt darüber gerätselt, warum bloß die Inflationsraten so niedrig sind, ja, man hat sogar immer wieder die Befürchtung gehört, es könne zu einer Deflation kommen. Die Notenbanken mühten sich ab, eine Deflation zu verhindern und „fluteten“ die Geldmärkte mit Liquidität bei Zinsen, die bei null oder sogar darunter lagen. Es gab von Anfang an eine einfache Erklärung für diese deflationäre Tendenz, die auch empirisch gut untermauert war, aber die wollte niemand hören. Mit der „Flexibilisierung“ der Arbeitsmärkte, die hoch auf der neoliberalen Agenda (inklusive der Agenda 2010 der deutschen Genossen) stand, wurde Druck auf die Löhne ausgeübt und die Gewerkschaften konnten nicht dagegenhalten, weil die Arbeitslosigkeit hoch und die Kampfbereitschaft ihrer Mitglieder gering war. Auch dazu hatte in Deutschland Rot-Grün mit der neoliberalen Agenda und der Hartz-Gesetzgebung den Grundstein gelegt.
Wie gesagt, diese einfache Erklärung wollten die Gewerkschaften nicht hören, weil sie hätten zugeben müssen, dass sie es waren, die Verträge unterschrieben haben, die in Europa nicht zu Arbeitsplätzen, sondern zu Druck auf die Preise nach unten führten. Auch die Arbeitgeber mussten diese Erklärung zurückweisen, denn selbstverständlich entstehen in ihrer Vorstellungswelt mit weniger steigenden oder sinkenden Löhnen sofort neue Arbeitsplätze, was ausschließt, dass Löhne etwas mit den Preisen zu tun haben. Schließlich konnten die akademisch ausgebildeten Ökonomen nicht zugeben, dass Preise etwas mit Löhnen zu tun haben, weil dann ihr schönes Modell vom Arbeitsmarkt unhaltbar geworden wäre.
Die Schlafwandler in Sachen Deflation und Nullzinsen aus allen politischen Lagern wurden erst geweckt, als plötzlich die Preise stiegen. Nun schien es, als würden die bösen Träume von dem „vielen Geld“, das die Notenbanken geschaffen hatten, auf einmal wahr. Doch das viele Geld taugte als Erklärung für die plötzlichen Veränderungen nicht. Denn alles, was schon lange vorher da war, kann nicht erklären, wieso plötzlich die Preise steigen, die jahrelang nicht gestiegen sind (ein Stück dazu hier).
Offensichtlich hatte der Umschwung von „Deflation“ zu „Inflation“ auch nichts mit den Löhnen zu tun, denn die sind – in Europa zumindest – auch im Jahr 2022 (wie hier gerade gezeigt) immer noch in sehr moderatem Tempo unterwegs. Nun hätte man einen Moment nachdenken müssen, um zu einer einfachen Lösung zu kommen. Wenn es nicht die Löhne waren, die zu steigenden Preisen geführt haben, dann muss zwingend etwas Neues passiert sein, dass diesen Preisschub erklärt.
Temporäre Preisschocks…
Konkret herauszufinden, was passiert ist, war auch nicht besonders schwer. Es gab ohne Zweifel einige schockartige Veränderungen in der Weltwirtschaft, die erklären konnten, dass es auf einigen Märkten zu Lieferschwierigkeiten, echten Knappheiten und zu Spekulation mit Rohstoffen kam. Ich erspare mir, das noch einmal aufzuzählen. Würde man jetzt einmal hinschauen, würde man sehen, dass die meisten dieser Preise ihren Höhepunkt schon überschritten haben oder sogar schon fallen, wobei einige fast wieder auf dem Niveau von vor den Schocks zurückgegangen sind.
Nun fehlt noch eine winzige Kleinigkeit, um zu einem klaren Urteil zu gelangen. Man muss noch wissen, dass Inflation immer eine Zuwachsrate meint. Das Preisniveau kann nach einem solchen Schock deutlich höher sein und auch bleiben, die Inflationsrate (also die Veränderung des Preisniveaus) aber kann leicht auf Null zurückgehen oder gar sinken. Um zu dem Ergebnis zu kommen, dass die Inflationsrate hoch bleibt, muss man zwingend annehmen, es werde demnächst wieder zu Schocks kommen, die gleich stark sind wie die, die hinter uns liegen. Das aber ist von vorneherein eine absurde Annahme, weil es gerade die Eigenart von solchen Schocks ist, dass sie niemand vorhersagen kann.
Das Ergebnis dieser Überlegungen ist einfach und vollkommen logisch: Wir haben es mit temporären Preissteigerungen zu tun! Selbst wenn es im Herbst wegen der Gasumlage oder einiger anderer Faktoren in Deutschland noch einmal zu temporären Preisansteigen kommt, ändert das nichts an der Tatsache, dass alle diese Faktoren nur eine vorübergehende Wirkung haben. Das Preisniveau wird im nächsten Jahr höher als in diesem Jahr sein, dass es jedoch zu neuen Preissteigerungen in einer vergleichbaren Größenordnung kommt, ist unwahrscheinlich bzw. einfach unbekannt. Einmalzahlungen der Arbeitgeber oder einmalige Entlastungen der Geringverdiener durch den Staat sind folglich eine ernstzunehmende Lösung.
…und die Macht und Ohnmacht der Gewerkschaften
An der Stelle kommt Frank Werneke ins Spiel. Der Mann ist Vorsitzender einer der größten Gewerkschaften in Deutschland und Europa, nämlich von ver.di. Frank Werneke wird auf der home page von ver.di mit den Worten zitiert: … wir haben es mit absehbar dauerhaft steigenden Preisen zu tun. Die müssen mit dauerhaft wirkenden Tariflöhnen ausgeglichen werden. Alles andere führt sonst unterm Strich zu Reallohnverlust. Deshalb treten wir in den aktuellen Tarifverhandlungen klar mit dem Ziel an, dass durch eine Tariflohnsteigerung die Preisentwicklung ausgeglichen wird.“ In einem Interview sagte er zudem:
„Wir müssen aktuell von 8 Prozent Preissteigerung in diesem Jahr und noch mal 5 Prozent Preissteigerung im kommenden Jahr ausgehen. Das ist die Realität, mit der die Menschen konfrontiert sind. Es glaubt doch keiner, dass die Preise wieder zurückgehen. Wir brauchen dauerhaft höhere Löhne. Einmalzahlungen reichen nicht.“
Zusätzlich merkt er an, dass in den Dienstleistungsbranchen höhere Energiekosten zumeist voll an die Kunden weitergegeben werden. Viele Unternehmen nutzten auch die Gelegenheit und legten bei den Preisen gleich noch etwas mehr drauf. Er sehe daher keinen Anlass für Lohnzurückhaltung.
Wie gesagt, nichts spricht für „dauerhaft steigende Preise“. Alle Effekte, die wir kennen, sind vorübergehend, ganz gleich, wie viele es im Einzelnen sind. Wenn allerdings die deutschen Gewerkschaften eine solche „Analyse“ ihrer Politik zugrunde legen, genau dann wird es dauerhaft steigende Preise geben. Die Lohnkosten sind gesamtwirtschaftlich die mit Abstand wichtigsten Kosten. Wer sie erhöhen will, sollte wissen, was das bedeutet. Im Gefolge der dauerhaft steigenden Löhne wird es zu massiv steigender Arbeitslosigkeit kommen, weil die EZB dauerhaft steigende Preise schlicht nicht zulassen wird. Sie wird die Wirtschaft mit hohen Zinsen mit Gewalt und ungeheuren Folgeschäden in die Knie zwingen.
Um ihre Rolle angemessen zu spielen, brauchen die Gewerkschaften eigentlich keine klare Analyse, sie müssen sich nur darüber im Klaren sein, was sie politisch durchsetzen können und was nicht. Die Gewerkschaften können versuchen, mit einem Abschluss in der Größenordnung von acht Prozent in diesem Jahr Reallohnverluste zu vermeiden. Nehmen wir einmal (unrealistischerweise) an, es gelänge. Dann würde sicher das passieren, was Frank Werneke bei den Energiekosten klar erkennt: Die Arbeitgeber würden die steigenden Lohnkosten voll an die Kunden weitergeben. Die Folge wäre eine Inflationsrate von mindestens acht Prozent im nächsten Jahr – und das mit der Aussicht, weiterer Raten in dieser Größenordnung in den Folgejahren, denn die Gewerkschaften würden doch im nächsten Jahr sicher wieder gegen einen Reallohnverlust auf die Straße gehen.
Selbst wenn es gelänge, einmal einen Reallohnverlust zu vermeiden (was sehr unwahrscheinlich ist), würde das erkauft mit der sicheren Aussicht auf eine handfeste Rezession, bei der die Arbeitnehmer wieder die mit Abstand größten Verlierer sind. Was soll das? Wer als Gewerkschaftschef über Lohnerhöhungen redet, ohne darüber zu reden, wie die Reaktion der Unternehmen daraufhin ausfällt, spielt ein gefährliches Spiel und belügt die eigenen Mitglieder. Selbst wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, einen Reallohnverlust zu vermeiden, aber die Lohnabschlüsse deutlich über dem liegen, was die EZB als stabilitätskonform ansieht, werden die Arbeitnehmer hundertprozentig beides bekommen: Reallohnverluste und Arbeitslosigkeit.
Die vollkommene Unfähigkeit, einen klaren Gedanken zu fassen
So geht es beileibe nicht nur im Bereich Wirtschaft zu. Mehr und mehr scheint es das Kennzeichen unserer Demokratien zu werden, dass es in vielen Bereichen unmöglich ist, einen klaren Gedanken zu fassen. Im vielstimmigen und aufgeregten Geplapper unserer Tage, bei dem die starken Lobbygruppen heftig mitmischen, geht mehr denn je die Fähigkeit verloren, eine unaufgeregte Diagnose zu stellen und auf dieser Basis geeignete politische Maßnahmen zu ergreifen. Wir halten zwar die Demokratie für die überlegene Staatsform, denken aber keine Sekunde darüber nach, ob es überhaupt noch einen Weg gibt, bei dem demokratisch legitimiertes Geplapper auf der einen und mächtiger Interessenvertretung auf der anderen Seite sachgerechte Entscheidungen zulassen.
Es ist jetzt immer wieder von der neuen Systemkonkurrenz die Rede, von dem Vergleich demokratischer Ordnungen zu diktatorischen Regimes, und natürlich setzt man voraus, unser System sei überlegen. Das stimmt aber nicht, wie die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Chinas belegt. Wenn – aus welchen Gründen auch immer – die herrschende Clique ein halbwegs geeignetes Weltbild hat, kann sie die Demokratie leicht schlagen. Jenseits irgendwelcher liberalen Dogmen hat die chinesische Führung von Anfang an in ihrer Form von Marktwirtschaft auf staatliche Eingriffe gesetzt, wann immer die Lage das erforderte. Das hat sich als erfolgreich erwiesen. Ist das Weltbild der Clique allerdings falsch, kann sie das Land, wie man bei der Corona-Politik sieht, auch völlig in die Irre führen.
Die sich verplappernde Demokratie verliert aber nicht nur die Systemkonkurrenz, viel wichtiger ist es, dass sie mehr und mehr die eigenen Bürger verliert. Der immer wieder aufflammende Faschismus à la Trump oder Bolsonaro sollte eine klare Warnung sein. Gerade weil der Faschismus das Geplapper radikal beendet und „Lösungen“ vorgibt, gewinnt er in den Augen vieler Menschen an Attraktivität. Im Faschismus geht es nicht mehr darum geht, zu fragen, was genau passiert ist oder gar, warum etwas passiert ist, sondern nur noch darum, was die herrschende Clique aufgrund ihrer Vorurteile und ihrer eigenen Interessen durchsetzen will.
Demokratie und Pluralismus sind nicht per se überlegen. Wenn die Demokratie die Fähigkeit verliert, ernsthafte Diskussionen zu ernsthaften Problemen zu führen, bietet sie eine weit offene Flanke für ihre Gegner, die, wie Donald Trump, intuitiv die Schwachstellen erkennen und in der Lage sind, sie systematisch zu nutzen. In Italien besteht Ende September die reale Gefahr, dass sich ein solches Regime mitten in Europa etabliert.