Ralph Krämer von ver.di hat mir vorgeworfen, Tarifverhandlungen als reine Rechenübung misszuverstehen. Da hat er nicht unrecht. Rechnen hilft jedoch und mehr Rationalität auf Seiten der Arbeitnehmer ist unbedingt notwendig. Wer erfolgreich Lohnpolitik betreiben will, braucht eine klare Strategie, gegründet auf Fakten und gesicherten Zusammenhängen. Wünschen darf man auch, aber besser jenseits der Formulierung einer gewerkschaftlichen Lohnstrategie.
Krämer verwendet die klassische Ökonomenmethode, auch wenn er sich sicher nicht als klassischer Ökonom bezeichnen würde. Er macht so lange verschiedene Annahmen, bis genau das rauskommt, was er sich wünscht. Das ist eine beliebte Vorgehendweise, aber sie führt zu nichts, wenn man es mit der Realität zu tun hat. Auch wenn Gewerkschaftspolitik keine leichte Rechenübung ist, klar denken muss man trotzdem.
Zuerst also zur Empirie. Lohnstückkostenzuwächse und Inflationsraten (hier die Verbraucherpreise) sind über lange Fristen, wie die Graphik zeigt, auf der ganzen Welt eng miteinander verbunden. Daraus folgt zunächst, dass Kosten der Unternehmen vor allem die Lohnkosten sind, sonst wäre dieses Ergebnis nicht möglich. Das ist auch theoretisch absolut einleuchtend, weil auf allen Ebenen der Produktion immer Arbeit eingesetzt wird, um alle Produkte und alle Vorprodukte zu erzeugen. Für Gewerkschaften sollte diese Erkenntnis zum kleinen Einmaleins gehören.
Erkennen kann man auch, dass auf lange Frist die Gewerkschaften zwar am Produktivitätsfortschritt beteiligt werden, aber nie zu einhundert Prozent. Die Kurve liegt nicht genau auf der 45 ° Linie. Wenn die Lohnstückkosten um 10 Prozent steigen, steigen die Preise um etwas mehr als zehn Prozent. Der Realität dieses Zusammenhangs, der offensichtlich nahezu global gilt, kann man als Gewerkschaft kaum ausweichen. Der Vorteil der Arbeitgeber kommt in erster Linie dadurch zustande, dass bei Lohnsenkungen die Preisreaktionen nicht auf dem Fuße folgen, sondern mit erheblicher Verzögerung. Griechenland mit 30 Prozent Nominallohnsenkung im vergangenen Jahrzehnt kann ein Lied davon singen. Aber auch die deutschen Gewerkschaften sollten es gelernt haben: Wenn man sich die rot-grüne Agenda-Politik und die von Krämer gezeigte Lohnquote genau anschaut, ist es offensichtlich, dass Lohnmoderation keineswegs mit sofortigen Preisnachlässen beantwortet wird. Die Lohnquote kann in solchen Fällen drastisch sinken.
Doch langfristig, kann man hier einwenden, sind wir alle tot. Das ist richtig! Kurzfristig sieht es aber leider nicht besser aus. Wäre es so, dass auch bei Lohnerhöhungen die Preise nicht sehr schnell reagierten und die Gewerkschaften die Gewinner wären, könnte man den strukturellen Vorteil der Arbeitgeber, der in der obigen Graphik unbezweifelbar zum Ausdruck kommt, nur schwer erklären. Krämers Wunschvorstellung, die Unternehmen würden vielleicht ihre Margen reduzieren, wenn die Löhne steigen, ist einfach nicht zu begründen. Der Ver.di-Boss hat ja selbst gesagt, dass die Unternehmen die Energiekosten gnadenlos überwälzen und sogar die Lohnquote verschlechtern können, wenn sie nur wollen. Warum sollten sie bei Lohnerhöhungen nicht wollen?
Das ist allerdings gar nicht entscheidend, weil es letztlich für die gewerkschaftliche Strategie weniger auf die Reaktion der Unternehmen ankommt, als vielmehr auf die Reaktion der Zentralbank. Und die reagiert nicht erst auf die Preise, sondern lange schon vorher auf die Löhne, weil sie genau den Zusammenhang im Auge hat, der mit der obigen Graphik beschrieben ist. Was wird wohl eine Notenbank tun, die schon jetzt – übrigens angetrieben vom deutschen Notenbankpräsidenten (einem Sozialdemokraten!) – ohne jede Lohnbeschleunigung bei temporären Preisschocks die Zinsen erhöht, wenn erst einmal die Löhne kräftig steigen?
Wenn die Gewerkschaften etwas erreichen wollen, müssen sie realistisch sein. Sie haben kein Mittel, um die rasche Überwälzung von Lohnsteigerungen (und/oder die restriktive Reaktion der Notenbank) zu verhindern. Noch weniger Möglichkeiten haben sie, um das Verhalten der Notenbank zu beeinflussen. Deswegen nützt es nichts, die Backen aufzublasen und den eigenen Mitgliedern einzureden, man habe eine Möglichkeit, die Reallöhne zu halten, ohne jeden Folgeeffekt von der einen oder der anderen Seite befürchten zu müssen. Man sollte auch in der internen Kommunikation ehrlich sein und sagen, dass 95 Prozent der Produktivität das Ergebnis sind, das man auf kurze und auf mittlere Frist unbedingt erreichen muss.
Dazu müssen ausnahmslos alle Abschlüsse auf der Linie: Produktivitätszuwachs (der Trend in der Gesamtwirtschaft) plus Inflationsziel der EZB liegen. Wie Krämers Lohnquote zeigt, war das in den vergangenen dreißig Jahren viel zu häufig nicht der Fall. Der größte Sündenfall waren die Jahre nach der Rot-Grünen Agenda-Politik. Diesen Fehler hätte man immerhin im Hinblick auf die europäischen Nachbarn in den deflationären Jahren danach ausmerzen können, weil in dem Fall im Vergleich zum Ausland höhere Preise in Deutschland gewünscht waren.
Das jetzt zu versuchen, wo die EZB mit gezücktem Schwert darauf wartet, dass der Drachen der berühmten „Sekundäreffekte am Arbeitsmarkt“ (gemeint sind Lohnreaktionen im Sinne der Wunschvorstellungen von ver.di) seinen Kopf hervorstreckt, um ihn gnadenlos abzuschlagen, ist eine besondere Art von Harakiri.