Ein Gastbeitrag von Elmar Stracke[1]
Wasser kommt aus dem Hahn, Wärme aus der Heizung und Strom aus der Steckdose. An dieser Gewissheit endete bis vor kurzem das Interesse der meisten Deutschen an ihrer Energieversorgung. Seit der Energiekrise und Preisexplosion hat sich das jedoch geändert. In diesem Jahr sind Energiedebatten in den Fokus des öffentlichen Diskurses gerückt. Der Blick auf die Strommärkte hinterlässt viele Menschen allerdings ratlos: Wie kann es sein, dass das teuerste Kraftwerk den Strompreis bestimmt? Müsste nicht der billigste Anbieter den Preis bestimmen? Ist das eine politische Vorgabe? Wer hat sich das ausgedacht? Was macht den Strommarkt so besonders? Die überraschende Antwort: wahrscheinlich ist der Strommarkt derjenige Markt, der den klassischen Modellen aus dem Lehrbuch am meisten ähnelt. Dieser Artikel soll die Grundlagen verdeutlichen, indem wir uns Strom als ein alltägliches Gut mit einem vertrauten Markt vorstellen: als Brot.
Nur noch Backshops – Ein homogenes Gut
Wie Sie aus Ihrem Alltag wissen, gibt es nicht das eine Brot und auch nicht den einen Preis. Es gibt viele verschiedene Brotsorten und viele verschiedene Bäckereien. Ihre Kaufentscheidung hängt von vielen Faktoren ab, darunter Geschmack, Qualität, Marketing, Entfernung der Bäckerei. Auch Loyalität und persönliche Vorliebe spielen eine Rolle. Funktional können Brote einander ersetzen, aber sie sind nie ein hundertprozentiger Ersatz füreinander. Daher finden Sie es normal, dass es verschiedene Preise für verschiedene Brote an verschiedenen Orten gibt.
Der Strom aus der Steckdose ist hingegen physikalisch immer der gleiche, egal ob er aus Kohle, Kernkraft oder Photovoltaik stammt. Auch Ökostrom unterscheidet sich nur bilanziell, nicht physikalisch. Vielleicht ist also die Verpackung anders, das Brot ist immer das Gleiche. Ein Einheitsbrot vom Industriebäcker, nein von verschiedenen Industriebäckern. Vielleicht haben sie unterschiedliche Produktionsmethoden, aber am Ende kommt immer exakt das gleiche Brot heraus. Brot ist Brot. Strom ist Strom. Zur alltagsnahen Illustration stellen Sie sich vielleicht vor, dass es im Land nur noch Backshops einer einzelnen Supermarktkette gibt, die mit dem Einheitsbrot beliefert wird. Wenn überall das gleiche Brot verkauft wird, warum sollten Sie dann ans andere Ende der Stadt fahren?
Wenn wir von der möglicherweise unterschiedlichen Verpackung absehen, wäre der einzige Grund, warum Sie eine längere Distanz auf sich nehmen würden, der Preis. Nun liefern aber alle Stromanbieter bis an die Steckdose und haben dabei zumindest ähnliche Transportkosten. Stellen Sie sich also vor, dass Sie das Brot gar nicht im Laden einkaufen, sondern alle diese Bäckereien das Einheitsbrot bis an die Haustür beziehungsweise Steckdose liefern. Es gibt keine Unterschiede in Qualität, Geschmack, Anfahrtsweg oder Sympathie. Strom ist Strom. Das ist die erste Zutat des Strommarkts: Strom ist ein homogenes Gut.
Kein Kuchen und kein Brotkorb
Gleichzeitig ist Strom in der Regel unersetzlich. Wenn es für ein paar Tage kein Brot gibt, können Sie im echten Leben Nudeln oder berühmten Aussprüchen zufolge auch Kuchen essen. Aber Sie können Ihren Fernseher nicht mit Gas betreiben. Das Einheitsbrot ist also auch das einzige Nahrungsmittel in unserem Szenario. Einheitsbrot oder nichts. Das ist die zweite Zutat des Strommarktes: Strom ist ein nicht substituierbares Gut.
Sie müssen also Strom bzw. Einheitsbrot kaufen. Aber sie können die Anbieter durchaus nach dem Preis unterscheiden. Denn die Hersteller des Einheitsbrots haben unterschiedliche Erzeugungskosten. Manche zahlen mehr Miete, haben weniger Energie- oder mehr Personalkosten. Sie wählen also immer den billigsten Anbieter. Das tun auch die anderen Käuferinnen und Käufer. So sind die günstigsten Anbieter schnell ausverkauft und Sie müssen zu den nächsthöheren greifen. Irgendwann ist der Preis aber so hoch, dass Sie lieber verzichten. So dringend ist der Einkauf nicht, dass Sie jeden Preis bezahlen müssten. Sie können zwar nicht auf andere Lebensmittel ausweichen. Doch zum Glück haben Sie einen Vorrat angelegt. Ihr Brotkorb ist ja noch voll. So können Sie getrost warten, bis der Preis wieder fällt.
Genau das geht aber auf dem Strommarkt leider nicht. Es mangelt bis heute an nennenswerten Kapazitäten, um Strom in großem Stil zu speichern. Sie müssen das Brot in dem Moment kaufen, in dem Sie Hunger haben. Und Sie müssen Strom kaufen, sobald Sie ein Gerät anschließen. Nachfrage führt unmittelbar zur Transaktion. Sie kaufen Strom an der Steckdose. Ihr Energieversorger kauft ihn beim Erzeuger, so dass die Nachfrage immer gedeckt ist. Dafür gibt es einen physikalischen und einen politischen Grund. Der physikalische ist eine ausgeglichene Netzspannung. Ein Ungleichgewicht bringt die Spannung durcheinander, was zu technischen Problemen bei vielen Geräten und Maschinen führt. Man könnte das Gleichgewicht auch erreichen, indem man die Nachfrage reduziert. Dazu würde man den Strom begrenzen oder über den sogenannten Lastabwurf große Abnehmer vom Netz trennen. Das ist aber politisch heikel. Andere Länder mögen das so machen, aber in Deutschland sind wir es gewöhnt, dass der Strom zuverlässig und mit konstanter Spanne fließt, wenn wir ihn brauchen – egal ob wir ein Haushalt oder Unternehmen sind. Das ist dritte Zutat: es gibt keine Elastizität zwischen Nachfrage und Angebot. Höhere Nachfrage muss unmittelbar zu einem höheren Angebot führen und andersherum.
Keine Zauberhand am Werk
Glücklicherweise kennen die Energieversorger die durchschnittlichen Lastprofile ihrer Kundinnen und Kunden. Sie können den Großteil des Bedarfs gut vorhersehen und sich langfristig am Markt sichern. Kommt es aber zu unerwarteten Spitzen, müssen sie nachkaufen. Da ihnen aber nichts anderes übrig bleibt, entscheidet am Markt für Einheitsbrot oder Strom nicht der Preis, sondern die Menge. Es handelt sich um einen Mengenmarkt. An diesem kaufen Sie Ihr Brot oder Ihren Strom zuerst bei den günstigsten Anbietern, das sind in der Regel die Erneuerbaren Energien, ein. Aber wenn diese ausverkauft sind, müssen sie zum nächstteureren gehen. Und weil alle das allen so geht, landen Sie in den Spitzenzeiten bei Gaskraftwerken. Die sind aufgrund der Gaspreise die mit Abstand teuerste Energiequelle. Denn sie sind neben Biogasanlagen, die aber bisher keine ausreichenden Kapazitäten bieten, die einzige Energiequelle, die sich sehr kurzfristig und kontrolliert ein- und ausschalten lässt. Sie bieten die maximale Flexibilität.
Und damit stellt sich aus den beschriebenen Zutaten an diesem Mengenmarkt wie durch Zauberhand die sogenannteMerit-Order ein: das teuerste Kraftwerk bestimmt den Preis für alle. Denn die Anbieter mit ihren unterschiedlichen Preisen wissen, welche Mengen an der Börse gerade nachgefragt werden. Sie wissen, dass Sie oder Ihr Stadtwerk eine Menge einkaufen muss. Sie wissen, dass der günstige Photovoltaik-Strom nicht ausreicht und Sie für die letzten Gigawatt auf Strom aus Gaskraftwerken zurückgreifen müssen. Sie wissen auch, was der Strom aus Gaskraftwerken kostet. Also erhöhen alle, die günstiger sein könnten, auf den Preis des Gaskraftwerks oder ganz leicht darunter. Denn Sie oder Ihr Stadtwerk müssen kaufen. Ihnen den Strom billiger zu verkaufen, wäre vielleicht eine gute Tat, aber ökonomischer Unsinn. Denn endlich kann ich mit meiner billigen Windkraft hohe Gewinne einfahren und die Nachfrageseite hat keine Möglichkeit abzulehnen.
Das heißt aber nicht, dass die Preise immer hoch sein müssen. Sie sind es erstens nur in den Momenten, wo die Nachfrage bis zu den teuren Erzeugern reicht. Einen großen Teil unseres Tages ist der Strompreis zurzeit fast bei 0 Euro oder sogar negativ: das ist immer dann der Fall, wenn die erneuerbaren Energien den Strombedarf decken. Dann müssen im Gegenteil Anreize geschaffen werden, damit mehr Nachfrage entsteht. Andernfalls muss man die Anlagen abschalten – was auch nicht selten passiert, um das Angebot zu verknappen. Zweitens gilt das nur für die Spitzen, die kurzfristig etwa am Spotmarkt gehandelt werden. Der größte Teil des Lastprofils ist langfristig am Terminmarkt gesichert. Dort sind die Schwankungen wesentlich geringer. Der Preis geht nicht auf 0, steigt aber auch nicht so enorm.
Auch in der Strombäckerei gibt’s so manche Kleckerei. Der Markt ist tendenziell anfällig für gewisse Arten der Manipulation, etwa künstliche Verknappung. In einem ausreichend großen Markt mit vielen Akteuren ist das aber in der Summe ein eher kleineres Problem. Schwieriger sind die derzeit sehr hohen Preise, die dieser Markt hervorbringt. Aber daran ist nicht das falsche oder schlechte Marktdesign schuld, sondern eine politische Strategie, die in großem Stil auf das falsche Pferd – vor allem Gas – gesetzt hat. Mit intelligenter Netzsteuerung und großflächigem Ausbau der erneuerbaren Energien könnte man die die teuren Kraftwerke verdrängen und den Preis senken. Der Ausbau von Speichern würde helfen, Elastizität herzustellen, um Schwankungen abzufedern. Nur leider geht all das nicht so schnell, wie wir es jetzt gerne hätten.
Mit umfassenden Eingriffen kann man aus einem Mengenmarkt einen Kapazitätsmarkt machen. Dann würden nicht die genutzten, sondern die vorgehaltenen Mengen am Markt honoriert. Doch das ist nicht so einfach und birgt seine eigenen Nachteile. Kurzfristige und oberflächliche Veränderungen am derzeitigen Marktdesign sind jedenfalls nicht überzeugend, etwa der Vorschlag, die Gaskraftwerke aus der Merit-Order zu nehmen. Dann würde sich der Marktpreis wahrscheinlich kaum verändern, weil die Informationen über nachgefragte Mengen und Erzeugungspreise in den Gaskraftwerken weiterhin bekannt sind. Auch ein Preisdeckel bei einem gewissen Preis etwa pro Megawattstunde wie derzeit diskutiert ist nicht überzeugend. Denn erstens wird der Markt hinter dem Preisdeckel sich wieder beim alten Preis einpendeln. Es reicht je nach Ausgestaltung schon, den Strom zunächst an einen Subunternehmer zu verkaufen, der dann frei in seiner Preissetzung ist. Zweitens ist das ein verheerendes Signal gerade an die erneuerbaren Energien, die aufgrund ihrer großen Marge gerade ein sehr attraktives Investitionsfeld bieten. Die Verunsicherung, die entsteht, wenn solche Instrumente erst einmal etabliert sind, tun ihr Weiteres. Um beiden Einwänden zu begegnen, wäre es schlauer Zufallsgewinne im Konzernergebnis wegzusteuern. Dem können Unternehmen zuvorkommen, wenn sie das Geld stattdessen reinvestieren. In beiden Fällen profitieren wir alle.
Schluss
Mengenmarkt und Merit-Order sind keine bewussten politischen Entscheidungen, sondern folgen aus den Eigenschaften von Strom und unserem gesellschaftlichen Umgang damit. Dass Strom ein homogenes Gut ist, ist also keine politische Entscheidung wie der Einheitshaarschnitt in Nordkorea. Es ist eine physikalische Tatsache. Dass man Strom nicht in relevantem Maße speichern kann, ist ebenfalls keine politische Entscheidung wie Strafzinsen auf Einlagen, um den Geldfluss zu erhöhen. Mangels Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit wurde in der Vergangenheit nicht in die Technologie und die Kapazitäten investiert. Dass das Stromangebot sich nach der Nachfrage richtet, ist auch nicht in sinistren Hinterzimmern entschieden worden. Es ist zum Teil eine physikalische Notwendigkeit der Stromnetze, zum großen Teil aber eine ökonomische und politische Notwendigkeit in einem industrialisierten Staat. Die Wohlstandsverluste durch unvorhersehbaren Last- oder Spannungsabfall wären gigantisch.
Die Merit-Order ist eine Beschreibung eines funktionierenden, effizienten Mengenmarktes. Sie beschreibt, sie schreibt nicht vor. Wenn sie in einem Gesetz festgeschrieben ist, dann nicht im Energiewirtschaftsgesetz, sondern in den Gesetzen der BWL und den Rezepten einer ziemlich eintönigen Strombäckerei.
[1] Elmar Stracke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter von MdB Markus Hümpfer (SPD), Mitglied im Ausschuss für Klimaschutz und Energie. Elmar Stracke hat VWL, Philosophie und Europäische Sozialpolitik an der Universität Bayreuth und London School of Economics studiert.