Heiner Flassbeck und Friederike Spiecker
Am 24. April dieses Jahres lautete der Titel der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz, die anlässlich der Vorstellung der Frühjahrsprojektion der Bundesregierung herausgegeben wurde: „Kraftanstrengungen des letzten Jahres zeigen Wirkung. Erholung setzt ein“. Im Text der Pressemitteilung heißt es: „Die deutsche Wirtschaft hat sich im schwierigen Winter 2022/23 als äußerst anpassungs- und widerstandsfähig erwiesen. Aktuelle Konjunkturindikatoren wie Industrieproduktion, Auftragseingänge und Geschäftsklima deuten eine konjunkturelle Belebung im weiteren Jahresverlauf an“.
Zu den Ergebnissen der Statistik für den Monat Februar bemerkte der Bundeswirtschaftsminister Anfang April: „Die Auftragseingänge befinden sich damit in vielen Branchen der deutschen Industrie weiter auf Erholungskurs. Passend dazu ist auch in den letzten Monaten eine Verbesserung der Stimmungsindikatoren zu beobachten. Insgesamt zeichnet sich nach dem schwachen Jahresendquartal 2022 zu Jahresbeginn 2023 eine konjunkturelle Erholung ab.“
Dazu gibt es ein Bild, auf dem Robert Habeck die Kurve der nicht energieintensiven Industrieproduktion zeigt, die deutlich nach oben gerichtet ist, während gleichzeitig die Produktion in den energieintensiven Branchen ihren vor zwölf Monaten einsetzenden Absturz um rund ein Fünftel beendet hat.
Quelle: © BMWK/Andreas Mertens https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2023/04/20230426-habeck-zur-fruehjahrsprojektion.html
Soll uns das Bild sagen, die Bundesregierung habe es innerhalb kurzer Zeit geschafft, die energetische Wende einzuleiten und gleichzeitig den Rest der Wirtschaft auf einen Wachstumskurs zu bringen?
Betrachtet man die Auftragseingänge der deutschen Industrie und die Industrieproduktion, nachdem die Werte vom März dieses Jahres veröffentlicht worden sind (Abbildungen 1 und 2), bleibt von der Hoffnung auf eine konjunkturelle Belebung nichts mehr übrig. Im Gegenteil, alles deutet auf einen erneuten Rückgang hin. Einen Einbruch der Auftragseingänge um über 10 Prozent gegenüber dem Vormonat wie jetzt im März hat es, soweit die Statistik zurückreicht, noch nicht gegeben – sieht man vom April 2020 ab, als der globale Lockdown die Wirtschaft nahezu zum Stillstand brachte. Nicht einmal im Zuge der weltweiten Finanzkrise 2008/2009 fand ein solcher Absturz von einem Monat auf den nächsten statt.
Abbildung 1
Abbildung 2
Auch die Tatsache, dass in Deutschland die energieintensiven Bereiche wie die Chemie noch deutlicher als alle anderen schrumpfen, sollte man nicht zu früh auf der Habenseite in Hinblick auf eine erfolgreiche Klimaschutzpolitik verbuchen. Würde Habecks Bild die globale Produktion der energieintensiven Bereiche zeigen und einen Zeitraum von 10 bis 20 Jahren umfassen, hätte es Aussagekraft; über ein paar Monate und nur für Deutschland besagt es für den Klimaschutz nichts.
Das trübe Bild der deutschen Wirtschaft wird komplettiert durch einen historisch tiefen Einbruch der Bauwirtschaft (wie hier gezeigt) und den Einbruch des Einzelhandels. Der Einzelhandelsumsatz in Deutschland ist in den ersten drei Monaten dieses Jahres massiv abgesackt, was heißt, dass die große Masse der Bürger den Rückgang der Realeinkommen nicht mehr durch eine weitere Absenkung der Ersparnisse im Verhältnis zu ihrem Einkommen ausgleicht.
Das spiegelt sich in der Entwicklung der Arbeitslosigkeit. Die Zahl der Arbeitslosen stieg im März und im April um jeweils 20 000 Personen, die Zahl der offenen Stellen ist seit Beginn des Jahres jeden Monat um durchschnittlich 7500 gesunken (alles saisonbereinigt). Warum die Bundesagentur für Arbeit den Arbeitsmarkt dennoch als „robust“ bezeichnet, bleibt ihr Geheimnis.
Nach Berechnungen des Statistischen Bundesamtes hat das BIP in Deutschland im ersten Quartal allerdings nicht abgenommen. Dass Deutschland einer Rezession „ausgewichen ist“, wie es ntv ausdrückt, bedeutet das aber keineswegs. Wenn das Statistische Bundesamt nicht das vierte Quartal 2022 um 0,1 Prozentpunkte nach unten korrigiert hätte (auf minus 0,5), sondern stattdessen das erste Quartal hätte um 0,1 sinken lassen, wäre Deutschland nach allgemeiner Auffassung in einer „Rezession“, weil es dann zwei aufeinanderfolgende Quartale mit negativem Ergebnis gäbe. Doch darauf kommt es nicht an. Entscheidend ist, dass die wirtschafts- und geldpolitischen Bedingungen so sind, dass die wirtschaftliche Entwicklung extrem labil ist und jederzeit noch weiter auf Talfahrt gehen kann.
Optimismus ersetzt nicht Sachverstand
Jede Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass es in der Diskussion zwischen den verschiedenen Gruppen und der Politik möglich ist, eine angemessene Diagnose der Lage vorzunehmen und Auswege sachlich zu diskutieren. Würden die Zeichen des Abschwungs, die steigende Arbeitslosigkeit und die vorhandenen Risiken klar benannt, wäre unstrittig, dass die Politik zu diesem Zeitpunkt gerade nicht auf restriktive Finanzpolitik umschwenken sollte. Da die labile Lage aber unzureichend zur Kenntnis genommen wird und die Politik auf Optimismus macht, wird so diskutiert, als ob Deutschland nicht in einer problematischen Wirtschaftslage steckte.
Es gibt Dinge, die sich dem Wirtschaftsverständnis der viel zitierten schwäbischen Hausfrau entziehen. Ist die Politik nicht in der Lage, den Horizont des Durchschnittsbürgers durch eigenes Wissen zu erweitern, wird sie früher oder später scheitern, weil sie der Masse der Bevölkerung nicht mehr erklären kann, was notwendig zu tun wäre.
Der Bundesfinanzminister, der für die europäische Wirtschaftsentwicklung die entscheidende Rolle spielt, hat zum ersten April dieses Jahres den letzten Volkswirt aus der Führungsetage seines Ministeriums verbannt. Er führt jetzt nur noch mit Juristen (und einer Betriebswirtin). Zum persönlichen Beauftragten für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung hat er den für seine neoliberalen Positionen bekannten Freiburger Ökonomen Lars Feld ernannt. Für Europa verheißt das nichts Gutes.