Meine Kollegin Friederike Spiecker war am vergangenen Montag eingeladen, beim Karlsruher Verfassungsgespräch über „Gute und schlechte Schulden – wie sinnvoll ist die schwarze Null“ zu diskutieren. Neben ihr auf dem Podium saßen unter anderem der ehemalige sächsische Ministerpräsident Georg Milbradt und das Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung Professor Martin Werding. Das Gespräch kann man hier in voller Länge ansehen.
Das Ansehen lohnt, weil man gewissermaßen in Zeitlupe nachverfolgen kann, wie sich die herrschende Lehre der Ökonomik jedem Versuch, dem Fach etwas Empirie und etwas Logik einzuhauchen (was in dem Gespräch fast ausschließlich Friederike Spiecker versuchte), mit allen Mitteln widersetzt. Insbesondere Milbradt ist ein Meister des Verschleierns und Verdrehens von Argumenten, so dass das Publikum im besten Fall verwirrt zurückbleibt.
Ich will aber einen Punkt herausgreifen, den Professor Werding bei der Diskussion um die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse vorbrachte (Minute 59). Werding erforscht nach seiner eigenen Aussage seit 20 Jahren die Entwicklung der Sozialversicherungen und kommt zu dem Schluss: „…wir stehen vor einer Situation, wo sich automatisch (sic!) die deutsche Leistungsbilanz umkehren muss, weil wir (wegen Alterung) wesentlich mehr konsumieren, als wir investieren“. Das Argument steht in meinen Augen auf der Skala der größten von der herrschenden Ökonomik erfundenen Absurditäten ganz weit oben.
Das (nicht vorhandene) Verhältnis von Sparwillen eines Landes oder Volkes und der Leistungsbilanz habe ich schon oft erklärt, zuletzt hier, aber Vernunft dringt nun einmal nicht durch bis zu den deutschen Universitäten. Dort kann man die allerältesten Kamellen immer wieder neu hervorholen und auslutschen, fast ohne dass es auffällt oder gar kritisiert wird.
Irgendwie geht das Argument so, dass die Leistungsbilanz den finalen Sparwillen oder die Sparfähigkeit eines Landes zeigt. Ein Land, das im demographischen Sinn jung ist, investiert viel und spart damit „automatisch“ auch viel (weil Sparen und Investieren, wie alle guten Mainstream-Ökonomen wissen, ja immer gleich groß sind), was sich wiederum automatisch in Leistungsbilanzüberschüssen niederschlägt. Alte Länder konsumieren viel und sparen wenig, haben also Leistungsbilanzdefizite.
In der Tat, wenn man das Sparen eines Landes als das definiert, was übrigbleibt, wenn man Konsum und Investitionen vom Gesamteinkommen, dem Bruttoinlandsprodukt, abzieht, erhält man den Leistungsbilanzüberschuss. Man gibt weniger aus als man einnimmt. Das nennt man bei der schwäbischen Hausfrau das Sparen. Dumm ist nur, dass es diese Art des Sparens für die Welt insgesamt nicht gibt. Das Bruttoinlandsprodukt der Welt besteht nur aus Konsum und Investition, weil die Welt insgesamt kein Ausland hat.
Der Leistungsbilanzsaldo der Welt ist folglich immer genau gleich null. Die Aussage von Professor Werding läuft also darauf hinaus zu sagen, dass ein Leistungsbilanzsaldo der Welt deswegen nicht existiert, weil auf der Welt das Verhältnis von jung und alt genau ausgeglichen ist, weil immer die Zahl der Länder (mit einer bestimmten Wirtschaftskraft), die jung sind, exakt genauso groß ist wie die Zahl der Länder (bzw. deren Wirtschaftskraft), die alt sind. Die perfekte Symmetrie. Er könnte den Zusammenhang auch umdrehen und sagen, dass die Leistungsbilanz der Welt genau deswegen ausgeglichen ist, weil es sich mit der Demographie immer und ewig genauso symmetrisch verhält. Denn wie sonst könnte Professor Werding den zu erwartenden Prozess der Leistungsbilanzumkehr als „automatisch“ bezeichnen?
Das alles, liebe Leser, werden Sie sagen, ist doch Unfug. Wir wissen doch, dass die Welt keinen Leistungsbilanzsaldo haben kann; das ist ganz unabhängig von der Demographie. Da haben Sie ohne jeden Zweifel Recht: Ein globales Nullsummenphänomen wie die Leistungsbilanz kann man nur mit Variablen erklären, die auch Nullsummencharakter haben, also Terms of Trade Veränderungen oder Änderungen der realen Wechselkurse. Wir lernen: Erkenntnislogik, die Basis jeder Art von Wissenschaft, ist an deutschen Universitäten keine Pflichtveranstaltung, nicht einmal für Professoren.